7. Juli 2023 Redaktion Sozialismus.de: Kretschmers verhaltene Abgrenzungsversuche

Die AfD durch Umarmung erdrücken?

Der Ministerpräsident des Bundeslandes Sachsen, Michael Kretschmer, sucht in Bürgergesprächen erneut die Auseinandersetzung mit der AfD und ist deshalb »viel unterwegs in Sachsen«, wie die tagesschau online meldet.

Keine Frage: Es geht in diesem Bundesland vor allem darum, ob die Union den hartnäckigen Aufstieg der AfD bremsen kann. Der CDU-Politiker will die rechtsextreme Partei abschütteln, und das versucht er mit politischer Nähe zu den Kernforderungen der AfD. Dies sei gefährlicher Populismus werfen ihm seine Kritiker*innen vor.

Kretschmer ist nicht nur Ministerpräsident, sondern auch CDU-Bundesvize. In den ostdeutschen Bundesländern erreicht die AfD in den Meinungsumfragen Spitzenwerte (siehe die folgende Abbildung mit den Umfrageergebnissen für Sachsen), gewann kürzlich ein Landratsmandat und auch kommunalpolitische Spitzenämter.

Nach den jüngsten AfD-Erfolgen bei Kommunalwahlen warnt Sachsens Ministerpräsident vor einer wachsenden Polarisierung in Deutschland: »In diesem Land gerät etwas ins Rutschen«, die Menschen seien verstört, wie hier Politik gemacht werde. »Wir sind auf dem Weg in eine Polarisierung, wie wir sie aus Amerika kennen.« Energiewende, Heizungsgesetz, Flüchtlingspolitik und Russland-Sanktionen drohten die Gesellschaft zu zerreißen.

Politiker*innen griffen zu Schuldzuweisung und Abgrenzung, gleichzeitig ignorierten sie die zentralen Themen der Bevölkerung, kritisierte Kretschmer. »Das ist nicht verantwortungsvoll.« Es müsse jetzt um Sachfragen gehen, »in Deutschland muss wieder mehr miteinander geredet werden«.

Wochenende um Wochenende macht Kretschmer Schlagzeilen in überregionalen Medien. Er fordert die Kürzung von Asylbewerber-Leistungen, gar eine Grundgesetzänderung, will die zerstörte Gaspipeline Nordstream 1 reparieren LASSEN, mehr Diplomatie mit Russland. Dann wieder erklärt er die Energiewende für gescheitert.

Kretschmer ist auch einer der Stellvertreter von CDU-Parteichef Friedrich Merz. Dessen Kurs gegen die Grünen hatte er zuletzt unterstützt. Nun aber ging er auf Distanz: »Bundesregierung und Opposition können in Krisenzeiten durchaus zusammenarbeiten«, dafür brauche es aber auch eine Bereitschaft der Ampel-Regierung. »Ausgrenzen und Abkanzeln führt uns nicht weiter«.

Merz hatte die Grünen als Hauptgegner der Union bezeichnet, und eine schärfere Abgrenzung als Reaktion auf den AfD-Umfrage-Höhenflug angekündigt. Das hatte für Kritik auch innerhalb der CDU gesorgt. In Sachsen wird im kommenden Jahr ein neuer Landtag gewählt. Aktuell regiert dort die CDU zusammen mit SPD und Grünen, die AfD kommt ihr in jüngsten Meinungsumfragen bedrohlich nahe.

Im Kampf gegen Arbeitskräftemangel und um die Sozialsysteme zu sichern, schlägt Kretschmer eine generelle Verlängerung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde vor, weil allerorten Arbeitskräfte fehlen. Zudem sollte der Renteneintritt ab 63 wieder abgeschafft werden. »Würde jeder Erwerbstätige in Deutschland nur eine Stunde pro Woche länger arbeiten, würde sich ein großes Potenzial für die Bekämpfung des Fachkräftemangels ergeben.« Der Rechtsanspruch auf Teilzeit solle überarbeitet werden. In Deutschland seien neue Arbeitszeitmodelle und mehr Anreize fürs Arbeiten über die Rente hinaus nötig. Einen späteren Renteneintritt hatte schon sein Parteikollege, Unionsfraktionsvize Jens Spahn, Ende Mai verlangt.

Zudem will Kretschmer das Asylrecht in Deutschland grundlegend ändern und schließt dabei eine Verfassungsänderung nicht aus – vor allem mit Blick auf Artikel 16a, in dem es unter anderem heißt: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Er plädiert für die Einsetzung einer Kommission, die grundlegende Reformen zur Lösung der Migrationskrise in Deutschland erarbeiten soll. »Es ist höchste Zeit für beherzte Entscheidungen.« Zu den beherzten Entscheidungen gehört auch, Sozialleistungen für Asylbewerber zu kürzen.

Kretschmer hält eine Obergrenze für den Zuzug von Migranten für notwendig und spricht sich für eine Verschärfung von Prüffaktoren aus: »Warum kommen die Menschen alle zu uns, und warum fällt es uns so schwer, die wieder zurück in ihre Heimatländer zu bringen?« Gewichtiger sind die andere Faregn: »Welche finanziellen Leistungen muss man bezahlen? Was ist die Existenzgrundlage? Und ist es wirklich so, dass Personen, die aus anderen Weltregionen zu uns kommen, Asyl beantragen und dann von einem gerichtlichen Verfahren dokumentiert bekommen ›Nein, Sie haben keinen Anspruch auf Asyl‹ – tatsächlich so behandelt werden müssen, wie wir das tatsächlich gerade tun?«

Die Menschen, die nach Deutschland kämen und hier arbeiteten, sollten mit ihren Familien auch kommen dürfen, aber gerades deswegen brauche es ein vernünftiges Austarieren. »Wir haben in den Jahren 2015 folgende miteinander einen Konsens erzielt, [...] dass die Grenze irgendwo bei 200.000 Personen ist, die wir hier gut integrieren können«. Inzwischen jedoch sei man auf dem Weg zu 400.000 bis 500.000 Anträgen.

»Es geht immer um die nicht gesteuerte, illegale Migration«. Deutschland sei ein »Zuwanderungsland«, das Fachkräfte brauche. Klar sei aber auch: Wenn die EU-Außengrenze nicht gesichert sei, wenn man nicht kontrollieren könne, wer nach Europa kommt, dann müsse über die Binnengrenzen gesprochen werden. »Zur Wahrheit gehört – Deutschland ist das Land, was bisher in der Europäischen Union immer gebremst hat.«

Der sächsische Ministerpräsident macht die Ampelkoalition für die AfD-Wahlerfolge verantwortlich. Der Staat dürfe nicht mit Verboten kommen, nicht belehren und vorschreiben. Innovation entstehe aus Technologie-Offenheit, nur so könne die Wirtschaft vorankommen. Ökologie, Ökonomie und Soziales müssten in Einklang gebracht werden. Dafür hätten die Union und er selbst immer Angebote der Zusammenarbeit gemacht, sich um einen gesellschaftlichen Konsens bemüht.

Wenn Kretschmer bei den Bürgergesprächen oder auf den Regionalkonferenzen redet, dann bespielt er häufig Themen, die auch die AfD anspricht, aber er nutzt einen anderen Duktus als der des Bundesvorsitzenden Merz und wirbt für Lösungen und Kompromisse. »Anständig im Ton, hart in der Sache«. Allerdings wird die Trennschärfe inzwischen ziemlich trübe und von einer Brandmauer zur AfD ist wenig zu erkennen.

 

Abgrenzung zur AfD?

Kretschmer macht mantraartig deutlich: Mit ihm stehe die Brandmauer. Nie werde er mit der AfD zusammenarbeiten, die sich immer weiter radikalisiere. »Gehen Sie in den sächsischen Landtag, hören Sie deren Reden und dann wissen Sie, warum diese Menschen niemals in Sachsen Verantwortung haben dürfen.« In Sachsen gelingt es der CDU bislang mit diesem Kurs des Anschmiegens an die AfD noch gerade, ihre Führungsposition zu behaupten, und in der sächsischen CDU scheint dies die einzige Hoffnung zu sein.

Inzwischen fragen immer mehr seiner Kritiker*innen, was es etwa für SPD und Grüne bedeuten würde, wenn Kretschmer am Ende des Wahlkampfs so wie schon 2019 wieder auf Stimmenfang bei ihnen ginge – nach dem Motto: »Wählt die CDU« oder die AfD liegt vorn. Kritik an den AfD-nahen Forderungen des CDU-Ministerpräsidenten kommt vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Sachsens DGB-Chef Markus Schlimbach monierte, dass Kretschmer zum wiederholten Male die Forderung von Arbeitgebern 1:1 wiederhole. »Manche Arbeitgeber in Sachsen haben bis heute nicht verstanden, dass Motivation und gute Arbeitsbedingungen ganz eng miteinander verbunden sind.« Um Fachkräfte zu halten, brauche es bessere und nicht schlechtere Bedingungen. Das sieht Sachsens GEW-Chef, Burkhard Naumann, ähnlich. Er nannte Kretschmers Äußerungen »weltfremd«. Sein Vorschlag: »Wir brauchen eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit, damit der Beruf nicht krank macht.«

Die Kritik der in Sachsen mitregierenden SPD fällt schärfer aus: Dass Kretschmer häufig als notirischer Opportunist auftritt, sei man in Sachsen gewöhnt. Dass derselbe Ministerpräsident aber den Tag nutzt, an dem in Solingen des Brandanschlags von Rechtsextremisten auf eine türkische Familie am 29. Mai vor 30 Jahren gedacht wurde, um eine Grundgesetzänderung in Sachen Asyl zu fordern und dies faktisch mit der Hetze gegen Asylbewerber*innen in der Bevölkerung begründet, mache einigermaßen fassungslos.

 

Kretschmer fordert, was verfassungswidrig ist

Der Sachstand ist: Alleinstehende erwachsene Asylbewerber*innen erhalten in Deutschland derzeit Leistungen im Wert von 367 Euro im Monat. Der Betrag sinkt bei gemeinsamer Unterbringung oder Wohnung für Paare und Wohngemeinschaften auf je 330 bis 294 Euro. Jugendliche erhalten je nach Alter (14 bis 17) 326 Euro, das verringert sich schrittweise bis auf 249 Euro (für Unter-Sechsjährige).

Offensichtlich ist dem Ministerpräsidenten entgangen, dass das Bundesverfassungsgericht die Leistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz für unzureichend und mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt hat. Daraufhin wurde § 3 AsylbLG 2015 geändert. Das bedeutet: Kretschmer fordert einen Zustand, der schon 2012 vom BVerG als verfassungswidrig erklärt wurde. Dabei weiß Kretschmer ganz genau, dass es sich bei den Leistungen für Asylbewerber*innen größtenteils um Sachleistungen handelt. Er spielt bewusst auf der rassistischen Argumentation der AfD und bedient so auf dem Rücken der Schwächsten Kretschmer so die Vorurteile der Rechtsnationalist*innen, die sich schon die Hände reiben.

Als Begründung für diese verfassungswidrige Argumentation verweist Kretschmer auf wachsende »Spannungen« und »Frustrationen« in Deutschland. »Das wird nicht gut ausgehen, wenn wir die Dinge so weiterlaufen lassen […] wir stehen vor einem Kollaps.«

Man muss da genau hinhören, um die Ungeheuerlichkeit zu begreifen: Kretschmer begründet seine Forderungen nach massiver Einschränkung des Asylrechtes letztlich mit rechtsextremistischer Hetze und Übergriffen auf Asylunterkünfte und Menschen mit Migrationshintergrund (Spannungen und. Frustrationen).

 

Die Brandmauer bröckelt, die AfD »bedankt« sich für die Umarmung

Kann durch diese Politik der Umarmung der »Kampf« der CDU gegen die völkisch-nationalistische AfD gewonnen werden? Will Kretschmer so die AfD bei den Wahlen im kommenden Jahr kleinhalten? Nein, wer so agiert wie Kretschmer, stärkt die AfD und gefährdet die Demokratie. Darüber hinaus aber verzerrt er die tatsächliche Situation. Denn von einer Dramatik einer Überlastung durch Asylbewerber*innen kann in Sachsen derzeit keine Rede sein – wohl aber von einer erschreckenden Zunahme von rechtsnationalistischen Aktionen gegen Asylbewerber*innen und gegen ihre Unterkünfte in Ostdeutschland.

Die AfD könnte relaxt auf solche Wortmeldungen und die Strategiefragen blicken, mit der der sächsische Ministerpräsident agiert. Doch ihr sind die Umarmungsversuche nicht geheuer. Der AfD-Vorsitzende Jörg Urban wird deutlich: »Herr Kretschmer bereitet mit seinen Äußerungen die Rente mit 70 vor. Das lehnen wir ganz entschieden ab. Es kann nicht sein, dass die Deutschen immer länger arbeiten sollen, während zeitgleich eine illegale Masseneinwanderung in unsere Sozialsysteme geduldet wird. Über eine längere Wochenarbeitszeit zu spekulieren, ist ebenfalls der falsche Ansatz. Am Ende geht das zulasten der Krankenschwestern, Busfahrer und Handwerker, die schon heute am Limit arbeiten. Unsere Probleme in Deutschland liegen nicht am fehlenden Fleiß der Deutschen, sondern an den Ausgabenexzessen der Regierung für illegale Migration, Klimamaßnahmen und die gescheiterte Energiewende.«

Sachsens Umweltminister Wolfram Günther (Grüne) findet für die Taktik seines Ministerpräsidenten klare Worte: »Eine AfD lebt davon, die Demokratie und die demokratischen Akteure infrage zu stellen.« Demnach sollten die übrigen Kräfte nicht die gleichen Töne an- und verbal in die Extreme ausschlagen. Das erhöhe nur die Angriffsfläche für die AfD.

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