27. Dezember 2016 Otto König / Richard Detje: Ein Jahr nach Macris Wahl in Argentinien

Die Armen-Fabrik

Proteste unter dem Motto »La Marcha Federal«

Vor einem Jahr wurde Mauricio Macri zum Staatspräsidenten Argentiniens gewählt. Der Repräsentant des konservativen Bündnisses »Propuesta Republicana – Republikanisches Programm (PRO)« und des agrar-industriellen Komplexes steht für »freie Marktwirtschaft« und für Distanz zum gemeinsamen Binnenmarkt der Staaten Südamerikas (Mercosur), jedoch für eine Anbindung seines Landes an die Pazifik-Allianz, der die Länder Mexiko, Kolumbien, Peru und Chile angehören, und damit für Nähe zu den USA.

Während des Wahlkampfes rief der neoliberale Politiker eine »Revolution der Freude« aus und nach der Wahl jubelte die Neue Züricher Zeitung, jetzt könne Argentinien nach der lähmenden Ära des »Kirchnerismo«[1] wieder eine »Vorreiterrolle in Südamerika einnehmen« und das Land »zu neuer Blüte« führen. Sein Wahlsieg mit weniger als drei Prozent Vorsprung zum Kandidaten des Wahlbündnisses »Frente para la Victoria – Front für den Sieg« (FPV) und die putschistische Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien[2] wurden als Ende der »linken Epoche in Lateinamerika« gefeiert.

Der Rechten ist unter Ausnutzung gravierender Schwächen der Linken – u.a. kurzsichtige, teils extraktivistisch verengte Wirtschaftspolitik, ausbleibende Reformen des Staatsapparates, Umverteilungspolitik ohne gesellschaftliche Politisierung – gelungen, die politische Macht wieder an sich zu reißen. Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera weist u.a. darauf hin, dass gerade der Ausbau der sozialen Gerechtigkeit ohne gesellschaftliche Politisierung und Mobilisierung »eine neue Mittelklasse mit Konsumkapazität, mit Befriedigungskapazität« schaffe, die »Trägerin der althergebrachten konservativen Denkweise« bleibe. Damit gelinge es den restaurativen Kräften, die Idee und das Projekt des fortschrittlichen Wandels in Zweifel zu ziehen.

Tatsächlich erlebten große Teile der Bevölkerung Lateinamerikas insbesondere in den links regierten Länder zunächst eine spürbare Verbesserung ihrer sozialen Lage: Durch den Ausbau der Sozialleistungen, die Erweiterung des Zugangs von Geringverdienern zu öffentlichen Dienstleistungen und Transfers konnte die Armut und die Einkommensungleichheit deutlich verringert werden. Nach zehn Jahren »eines intensiven Vormarsches, einer territorialen Ausstrahlung progressiver und revolutionärer Regierungen auf unserem Kontinent, ist dieser Fortschritt (nun) aufgehalten worden«, so Álvaro García Linera. Der argentinische Soziologe Alejandro Grimson mutmaßt, dass es die Kirchner-Regierung im ständigen Kampf um Machterhalt versäumte, »gemeinsame Werte und eine klare politische Vision zu entwerfen«.[3]

Die Wahlsiege der rechten Opposition drückten den Wunsch von großen Teilen der Bevölkerung nach neuen Rezepten aus, um die drängenden politischen und ökonomischen Probleme zu lösen – so übereinstimmende Analysen der Südamerika-Korrespondenten in den Leitmedien auf dem europäischen Kontinent. Nahezu euphorisch wurden auch die Wahlkampfversprechen Macris kommentiert: Armut rasch und endgültig beseitigen, Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, Inflation reduzieren und die »Armut auf null« setzen. Ein Jahr nach dem Einzug in den Präsidentenpalast »Casa Rosada« in Buenos Aires ist Ernüchterung eingetreten und die sozialen Konflikte nehmen zu.

Die »Revolution der Freude« mündete in ein Deregulierungs-Programm des Präsidenten und seines Kabinetts, eine Ansammlung ehemaliger Konzernvorständler von Shell, JP Morgan, IBM oder HSBC, das das Land in eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise gestürzt hat. Die Streichung der meisten Exportabgaben auf Agrar- und Bergbauprodukte sowie die Abschaffung der Devisenkontrollen stoppte weder die Rezession noch die Inflation, auch die Aufhebung der Importregulierungen lockte keine Investoren an.

Im Gegenteil: Die Freigabe des Wechselkurses führte zu einer Abwertung des argentinischen Pesos gegenüber dem US-Dollar zwischen 40 und 50% und trieb die Inflation auf über 40% hoch, so die Berechnungen des Nationalen Instituts für Statistik und Volkszählung (INDEC). Zur Erinnerung: Am Ende der Regierungszeit von Christian Kirchner lag die Jahresinflation bei 25,9%. Während durch diese Maßnahmen insbesondere die mächtigen Agrar- und Bergbaukonzerne begünstigt wurden, stiegen die Ausgaben der Bevölkerung nach der Peso-Entwertung um 29%.

Die Beilegung des Schuldenstreits mit den US-amerikanischen Geierfonds,[4] die zum Teil Profite von über 1.000% im Jahr auf argentinische Schuldscheine einklagten, verschaffte der Regierung zwar wieder Zugang zu den internationalen Finanzmärkten, jedoch um den Preis neuer Verschuldung. 45 Mrd. Dollar hat der argentinische Staat inzwischen aufgenommen. Um das Staatsdefizit zu finanzieren, das 2016 auf über 7% liegt, sollen 2017 weitere 40 Mrd. dazukommen.

Parallel zur Überweisung einer Tranche von 9,3 Mrd. Dollar an den Paul Singer Hedgefonds in den USA verkündeten Regierungsvertreter massive Preiserhöhungen, die sie als Politik der »readecuaciòn« (Wiederanpassung) bezeichneten. Dieser »Prozess zur Normalisierung der Gebühren« führte im öffentlichen Nahverkehr zur Verdopplung der Preise, für die Wasserversorgung um knapp 220%, für Gas im Schnitt um 300% und Strom um bis zu 700%. Durch die Streichung der Subventionen bei den Tarifen für öffentliche Güter und Dienstleistungen sind die Lebenshaltungskosten für einen großen Teil der Bevölkerung rasant nach oben geschnellt.

Mit der Folge, dass ein Jahr nach der Amtsübernahme Macris[5] die Kammer der Abgeordneten im Kongress den »sozialen Notstand« bis zum 31. Dezember 2019 ausgerufen und ein Gesetz zur »Armutsbekämpfung« beschlossen hat. Umgerechnet rund 1,8 Mrd. Euro an Sozialleistungen sollen in den nächsten drei Jahren prekär Beschäftigten die Lebensgrundlagen wie Ernährung, Wohnung, Kleidung und medizinische Versorgung sichern helfen. Dazu gehört, dass Gelegenheitsjobber, Haushaltshilfen, Straßenverkäufer oder Müllsammler (»Cartoneros«) ein zusätzliches Einkommen von umgerechnet etwa 240 Euro pro Monat erhalten, um die geringen Löhne im Bereich der informellen Arbeit aufzustocken (Amerika 21, 10.12.2016).

Zu den ersten Sparmaßnahmen des neoliberalen Kabinetts gehörte die Entlassung von über 70.000 Staatsangestellten. In den Folgemonaten wurden Sozialversicherungsdaten zufolge auch im privaten Bereich über 127.000 ArbeitnehmerInnen auf die Straße gesetzt. Die Entlassungswelle, die 2016 durchs Land rollte, zog 230.000 Kündigungen nach sich. Der daraus resultierende Nachfragerückgang auf dem Binnenmarkt beläuft sich nach konservativen Schätzungen auf rund zehn Prozent. Das wiederum wirkt sich vor allem auf die kleinen und mittleren Betriebe negativ aus, in denen rund 70% der abhängig Beschäftigten arbeiten.

Im Oktober 2016 fiel die Industrieproduktion um 8%, das Bauwesen schrumpfte seit Juli um 19,2%, die Arbeitslosenquote stieg auf 8,5% an. Besonders hart trifft die wirtschaftliche und soziale Situation Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren. Im Vergleich zum Vorjahr ist die Jugendarbeitslosigkeit von 19 auf 24,6% gestiegen.

Als hohle Demagogie entpuppte sich das im Wahlkampf von den Rechten abgegebene Versprechen »Pobreza Cero – Null Armut«. Nach Schätzungen des Gewerkschaftsverbandes CTA stieg die Armut in Argentinien gemessen am Medianeinkommen zwischen Ende 2015 und Mitte 2016 von 19,7% auf mindestens 32% an. Eine Untersuchung der Universidad Católica Argentina belegt, dass seit Macri die Regierungsgeschäfte übernommen hat 1,4 Mio. Menschen in die Armut zurückgeworfen wurden. Gegen diesen dramatischen Anstieg der Armut verbreitete sich im Land millionenfach als Protestparole der Hashtag #LaFabricaDePobres: die Armen-Fabrik.

Erstmals zeichnet sich ab, dass die fünf Gewerkschaftsverbände, die in der Vergangenheit z.T. heftig untereinander zerstritten waren, gemeinsam gegen die Politik von Präsident Macri zu kämpfen beginnen. Bereits im Frühjahr organisierten die Gewerkschaften Massendemonstrationen gegen die Entlassungen im Öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft. Der Nationalkongress verabschiedete ein »Eilgesetz für Arbeit«, das für 180 Tage Entlassungen untersagte und die Wiedereinstellung der bisher Entlassenen oder eine Abfindung forderte. Es wurde jedoch von Präsident Mauricio Macri, der von seinem Vetorecht Gebrauch machte, einkassiert.

Unter dem Motto »Marcha Federal« organisierte der Gewerkschaftsbund CTA im September eine Massenkundgebung in Buenos Aires gegen die aktuelle Sparpolitik. »Der Streik ist nur noch eine Frage der Zeit«, zeigte sich später ein Führungsmitglied der peronistische Gewerkschaftsbund CGT sicher. Doch der für den Herbst geplante Generalstreik wurde zunächst ausgesetzt. Die Politikwissenschaftlerin Beatriz Rajland von der Universität von Buenos Aires ist überzeugt, dass in den kommenden sozialen Auseinandersetzungen die Gewerkschaftsbewegung innerhalb der sozialen Bewegungen »die wichtigste Kraft ist, weil sie die größte Mobilisierungskapazität hat« (LAN Ausgabe 505/506).

Das gilt sowohl für die Gestaltung der sozialen Bedingungen wie für deren Verteidigung. Dirk Hierschel, Bereichsleiter für Wirtschaftspolitik bei ver.di, weist im Zusammenhang mit den »verteilungspolitischen Erfolgen der lateinamerikanischen Mitte-Links-Regierungen« darauf hin, dass das »beste Rezept gegen Ungleichheit« starke Gewerkschaften und ein »arbeitnehmer-freundliches Regelwerk auf dem Arbeitsmarkt« sind. Eine Politik für mehr Gleichheit setze ein breites Bündnis von progressiven Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen voraus.[6]

Trotz der negativen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Venezuela sieht Álvaro García Linera »die historische Zeit« auf Seiten der Linken in Lateinamerika: »Wir sind die Zukunft. Wir sind die Hoffnung«. Im Gegensatz zu den Restauratoren, »haben (wir) in zehn Jahren das getan, was sich nicht einmal in hundert Jahren weder Diktatoren noch Regierungen getraut haben zu tun, wir haben das Vaterland, die Würde, die Hoffnung, die Mobilisierung und die Zivilgesellschaft zurückgewonnen.«[7] Dieser Optimismus setzt allerdings voraus, dass sich die Linke über die Gründe für das Scheitern ihrer Politik verständigt, ökonomisch-gesellschaftlichen Umbau und breite demokratische Bündnisse in der Zivilgesellschaft nicht nur proklamiert, sondern auch praktiziert.

[1] »Kirchnerismo« bezeichnet die zwölfjährige Amtsperiode von 2003-2015 des 2010 verstorbenen Präsidenten Néstor Kirchner und seiner Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner und das von ihnen 2003 gegründete – aus Sozialisten, Kommunisten und Sozialdemokraten verschiedener Schattierungen zusammengesetzte – Wahlbündnis »Frente para la Victoria – Front für den Sieg« (FPV).
[2] Der »weiche« bzw. institutionelle Putsch gegen gewählte, fortschrittliche Präsidenten konnte bereits in 2009 in Honduras und 2012 in Paraguay beobachtet werden.
[3] Vgl. Alejandro Grimson: Rückkehr der Neoliberalismus in Argentinien: Ursachen und Perspektiven, in: APuZ 26.9.2016.
[4] Vgl. Otto König/Richard Detje: Argentiniens Kampf gegen die Geierfonds »Patria o buitres« – Vaterland oder Geier, SozialismusAktuell 27.1.2015.
[5] Mauricio Macri gehört zu jenen 13 Staats- und Regierungschefs, deren Namen sich im Datenberg eines panamaischen Offshore-Dienstleisters fanden. Er wird in den Unterlagen als Direktor einer Firma auf den Bahamas genannt, gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder Mariano.
[6] Vgl. Dirk Hierschel: Mehr Gleichheit ist möglich, Sozialismus 1-2017.
[7] Vgl. Álvaro García Linera: Die historische Zeit ist auf unserer Seite, Amerika 21 v. 14.7.2016.

Zurück