10. Juli 2018 Hinrich Kuhls: Die Regierungskrise im Vereinigten Königreich

Die britischen Konservativen und der Rechtspopulismus

Zwei Jahre nach dem EU-Referendum und drei Monate vor dem anvisierten Abschluss der Brexit-Verhandlungen im Oktober hat die britische Regierung über einen Vorschlag beraten, wie die Handelsbeziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU nach dem EU-Exit reguliert werden sollen.

Die beabsichtigte Transformation ausgewählter Binnenmarkt-Vorteile in eine neue Freihandelszone im Anschluss an den harten Brexit ist sofort auf den unnachgiebigen Widerstand der Rechtspopulisten in der Konservativen Partei gestoßen.

Über Monate hinweg hatte die britische Regierung ein Weißbuch angekündigt, in dem sie die »Neue ökonomische Partnerschaft« im Detail darlegt und so ihre Verhandlungsposition der seit Anfang des Jahres vorliegenden Verhandlungsdirektive des Europäischen Rats entgegensetzt. Die Verhandlungen über die zukünftigen EU-UK-Handelsbeziehungen werden im Detail zwar erst nach dem Brexit am 29. März 2019 aufgenommen und der Vertrag hierüber tritt frühestens nach dem voraussichtlichen Ende der Übergangsperiode am 1. Januar 2021 in Kraft. Doch im Austrittsvertrag sollen in einer rechtsverbindlichen politischen Erklärung die Umrisse der zukünftigen Beziehungen vereinbart werden.

Die Festlegung dieser Rahmenbedingungen ist erforderlich, weil sonst wesentliche Regelungen des Austrittsvertrags nicht kodifiziert werden können, vor allem nicht das Grenzregime und die Handelsbeziehungen zwischen der Republik Irland und Nordirland als integralem Bestandteil des Vereinigten Königreichs. Diese Vertragskonstruktion folgt aus der Unterwerfung der britischen Regierung unter die Vorgabe des Europäischen Rats, Austrittskonditionen und Folgevertrag in zeitlicher Sukzession zu verhandeln.

Auf der medienwirksam inszenierten Kabinettsklausur Anfang Juli war es das Ziel von Premierministerin May, die widersprüchlichen Positionen der beiden Parteiflügel für das Weißbuch auszugleichen und die Kabinettsdisziplin wiederherzustellen. Das Kommuniqué deutet darauf hin, dass mit dem Weißbuch die Politik der destruktiven Mehrdeutigkeit fortgesetzt wird.[1]

Am harten Brexit, also dem Austritt aus Binnenmarkt und EU-Zollunion sowie dem Ende der EuGH-Jurisdiktion und der Personenfreizügigkeit für EU-Bürger*innen, wird unverändert und explizit festgehalten. Der Eindruck in der Öffentlichkeit ist ein anderer, weil eine Option für eine zollfreie Regulierung des Warenhandels offengehalten und – vor allem auf Druck der verarbeitenden Industrie (Automobilbauer, Airbus etc.) – stärker akzentuiert wird. Damit soll zugleich eine Zollgrenze um Nordirland – sei es gegenüber der Republik Irland, sei es gegenüber der britischen Hauptinsel – vermieden werden, um so die Verletzung des Karfreitagsabkommens von 1998 zu vermeiden.

Diese Akzentverschiebung als einen Wechsel zu einem »weichen Brexit« darzustellen, ist allerdings absurd. Im Gegenteil: Als Alternative zu ihrem Verhandlungsvorschlag droht die britische Regierung jetzt wieder den ungeordneten Brexit ohne Vertragsabschluss (»No deal«) an, obwohl zwischen den Verhandlungspartnern mit dem Abschlussdokument über die erste Phase der Verhandlungen von Ende 2017 vereinbart worden ist, dass die Scheidung nicht vertragslos vonstattengehen kann. Das damalige Zwischenergebnis war nicht vom Brexit-Minister Davis, sondern von Premierministerin May mit der EU-Verhandlungskommission verhandelt worden.

Die Intention der Premierministerin, mit einem offensiven Befreiungsschlag die innenpolitischen Kräfteverhältnisse für den Übergang zu einem »Globalen Britannien« zu stabilisieren, ist ein weiteres Mal gescheitert. Die Fiktion, die Kabinettsklausur habe den großen Durchbruch gebracht, konnte nur wenige Tage aufrechterhalten werden, bis sie mit den Rücktritten von Davis und Johnson desavouiert worden ist.

Schon im letzten Jahr war Mays Intention, vor Beginn der Brexit-Verhandlungen durch vorgezogene Neuwahlen das Zentrum der Konservativen Partei zu stärken, nicht aufgegangen. Die Tories verloren die Mehrheit der Parlamentssitze und sind auf die nordirische konservativ-nationalistische Democratic Unionist Party als Mehrheitsbeschaffer angewiesen. Im parlamentarischen Patt zwischen den Konservativen und den Oppositionsparteien haben in der Tory-Parlamentsfraktion die gegenseitigen Sperrminoritäten stärkeres Gewicht gewonnen, sowohl die 60köpfige Gruppe der Brexit-Hardliner als auch die rund zwanzig Abgeordneten, die sich für einen EU-Ausstieg mit Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt einsetzen.

Die Rücktrittserklärungen von Davis als »Minister für den Austritt aus der Europäischen Union« sowie seines Stellvertreters Baker und von Boris Johnson als Außenminister haben trotz der schnellen Neubesetzungen die Balance der politischen Flügel aus dem Gleichgewicht gebracht, da mit Davis und vor allem Johnson jetzt zwei der markantesten Brexit-Verfechter während der EU-Referendumskampagne ihren Dissens zu Protokoll gegeben haben.

Zunehmend berichten Tory-Abgeordnete von Zuschriften und Voten lokaler Parteiversammlungen, in denen Mitglieder ankündigen, die Partei nicht weiter zu unterstützen. Vor allem in Wahlkreisen, die für den Brexit votiert hatten und die konservative Abgeordnete mit hohen Stimmanteilen ins Unterhaus gewählt haben, mehren sich die Stimmen, das Kabinett May würde den Brexit verwässern, also auf die Wiederherstellung der vollen Souveränität als Voraussetzung eines florierenden Außenhandels und Wirtschaftswachstums verzichten. Die Zustimmungsrate für May ist unter den Brexit-Wähler*innen in ihrer Partei, also der Parteimehrheit, stark gesunken.



Die Regierungskrise ist nicht nur ein weiterer von vielen Rückschlägen für die Premierministerin. Die Brexit-Hardliner wollen sämtliche institutionellen Verbindungen zur Europäischen Union kappen, damit Britannien nicht weiterhin eine »Kolonie der EU« (Johnson) bleibt. Diese Position war Davids Leitlinie für die Verhandlungen mit der EU-Kommission. Faktisch wurden die Verhandlungen aber seit Ende letzten Jahres aus dem Amt der Premierministerin geführt. Daher sieht sich May jetzt mit der Forderung aus ihrer Fraktion konfrontiert, nicht nur die Schlussfassung des Weißbuchs vorzulegen, sondern auch den Entwurf des vormaligen Brexit-Ministers.

May hat vorerst die Machtprobe bestanden. Dass der Dissens aber in aller Schärfe formuliert, und als vorläufiger Rückzug in einer langen Machtprobe von den vorläufig Unterlegenen präsentiert wird, ist aber ein Zeichen dafür, dass der Vormarsch der Rechtspopulisten in der britischen Konservativen Partei weit vorangeschritten ist und sich konsolidiert hat. Die Balance gerät nicht nur in der Regierung aus den Fugen, sondern die Gewichte zwischen konservativ und rechtspopulistisch orientierten Mitgliedern unter den weit weniger als 100.000 Mitgliedern der Konservativen Partei und in der Wählerschaft haben sich weiter verschoben.

Bei den Europawahlen 2014 war die rechtspopulistische UK Independence Party mit 27,5% stärkste Partei im Vereinigten Königreich geworden – vor Labour und den Konservativen. UKIP, die italienische Fünf-Sternebewegung (M5S) und die Schwedendemokraten schlossen sich in einer Fraktion zusammen. Die britischen Konservativen bildeten unter anderem mit der nationalistischen PIS – damals noch nicht Regierungspartei in Polen – die Fraktion der »Europäischen Konservativen und Reformer«, die – wie in den fünf Jahren zuvor – strikt Abstand zur Fraktion der Europäischen Volkspartei hielt, und der dann auch die damals für die AfD gewählten Abgeordneten um Lucke und Henkel beitraten.

Die britischen Regierungen mit Premierminister Cameron verfolgten eine Doppelstrategie, die vom Europäischen Rat gestützt wurde. Einerseits wurde die Austeritätspolitik als Antwort auf die Folgen der Großen Krise 2007/2008 verschärft, andererseits sollten die britischen EU-skeptischen und EU-feindlichen Kräfte durch eine teilweise Bindungsentpflichtung des UK vom EU-Vertragswerk für einen Verbleib in der EU gewonnen werden. Diese Machtprobe mit den Rechtspopulisten verlor die Regierung Cameron. Die Rechtspopulisten konnten das Brexit-Votum als ihren Triumph verbuchen, weil große Teile der Konservativen Partei sich in der EU-Referendumskampagne hinter den Parolen der UKIP versammelten. Die damalige Innenministerin May, die auf ein umfangreiches Regelwerk zur Diskriminierung von Migrant*innen zurückblicken konnte, hatte nur ein rein formales Ja zum Verbleib in der EU zu Protokoll gegeben, was ihr seitdem ermöglicht, ihre Politik des harten Brexit als Umsetzung »des Willen des britischen Volks« gegen alle außerparlamentarischen und parlamentarischen Einwände zu verteidigen.

Auch wenn die UK Independence Party vor allem wegen des Mehrheitswahlrechts im britischen Parteiensystem in den Hintergrund gerückt ist und mit dem Ausscheiden ihrer Europaabgeordneten von der politischen Bühne abtritt: das rechtspopulistische Wählerpotential ist nicht verschwunden. Ein Ende der Austeritätspolitik hat May nicht durchsetzen können. Hier haben die Vertreter des neoliberalen Flügels um Schattenkanzler Hammond nicht mitgezogen.

Mays innerparteiliche Gegner auf dem nationalkonservativen und rechtspopulistischen Flügeln wissen, dass enttäuschte UKIP- und Brexit-Wähler*innen sich sozialpolitisch weniger an den Tories, aber stärker an einer erneuerten Labour Party orientieren. Und sie wissen, dass May ihr Gesellschaftsprojekt eines »Globalen Britanniens« außerhalb der Europäischen Union nur umsetzen kann, wenn das Wählerpotenzial der UKIP- und Brexit-Wähler*innen durch ausreichend Repräsentanten in der Konservativen Partei mobilisiert werden kann, die für Rechtspopulismus und Nationalismus stehen.

Der Zeitdruck bei den Brexit-Verhandlungen ist für Mays Zielsetzung kein Nachteil. Beide Seiten sind in der Pflicht, einen Austrittsvertrag so zeitig vorzulegen, dass über ihn in den gesetzlichen Fristen im Europaparlament, dem Europäischen Rat und im britischen Parlament entschieden werden kann, damit er zum 29.3.2019 wirksam wird. Gelingt es May wie bisher, in der politischen Erklärung für EU-UK-Beziehungen nach dem Brexit die Mehrdeutigkeit beizubehalten, eröffnet sich in der Zeit bis zum Ablauf der Übergangsphase ein weiteres Verhandlungsfenster für die Ausgestaltung einer EU-UK-Freihandelszone. Zugleich können die Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit anderen Staaten, mit denen die Prosperitätsphase des »Globalen Britannien« eingeleitet werden sollen, begonnen und zum Ende der Übergangsphase ratifiziert werden.

Wie schon bei den Verhandlungen von Cameron mit dem Europäischen Rat vor drei Jahren wird die entscheidende Frage sein, wie weit bei der Personenfreizügigkeit, genauer der Arbeitnehmerfreizügigkeit, den britischen Forderungen nachgegeben wird. Die Perspektive eines Zugewinns der rechtspopulistischen Mandate in den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 und die Erwartung weiterer Regierungsbeteiligungen rechtspopulistischer Parteien in den EU-Mitgliedsstaaten lassen ein größeres Zugeständnis als das, was Cameron gegeben worden war, nicht unrealistisch erscheinen – ist doch die Unterbindung der Arbeitsmigration auch innerhalb der EU ein zentrales Ziel rechtspopulistischer Parteien.

Unterstützungsbekundungen hat die britische Regierung von verschiedenen Seiten erhalten. Der deutsche Innenminister ist vor allem an der Aufrechterhaltung der Sicherheitskooperation mit dem Post-Brexit-Britannien interessiert. Der US-Präsident hat einen Freihandelsvertrag mit »Null-Prozent-Zöllen« zum frühestmöglichen Zeitpunkt offeriert. Während sich Seehofer direkt an die Premierministerin gewandt hat, hat US-Sicherheitsberater Bolton Trumps Besuch in London an der Premierministerin vorbei vorbereitet, und zwar mit dem Sprecher Rees-Mogg und anderen Spitzen der »European Reform Group«, in der sich die Brexit-Hardliner der konservativen Abgeordneten zusammengeschlossen haben.

Unter den Rücktritten in der jüngsten Regierungskrise war neben der des Brexit-Ministers und seines Stellvertreters auch zunächst jene der Staatssekretärin im Brexit-Ministerium, Suella Fernandes Braverman, vermutet worden. Das stellte sich als Irrtum heraus. Braverman war erst Anfang dieses Jahres ernannt worden; eines ihrer Aufgabengebiete sind Vorbereitungen für den Fall, dass die Austrittsverhandlungen scheitern sollten.

Boris Johnsons Rücktritt war hingegen kein Irrtum. Ob er auch dieses Mal das politische Kräfteverhältnis richtig einschätzt, bleibt abzuwarten. Noch ist offen, ob sich in der Konservativen Partei der neoliberal-konservative oder der rechtspopulistische Flügel durchsetzen wird, oder nach einem weißen Ritter gerufen wird. Doch auch eine neue politische Formation des Rechtspopulismus benötigte neben ihren programmatischen Kernaussagen als Aushängeschild einen klugen und auch bekannten Kopf. Blond ist immer noch eine Haarfarbe, die im Trend liegt.


[1] Auf die ökonomischen Implikationen des Weißbuchs für Großbritannien und die EU wird nach dessen Publikation zurückzukommen sein.

Zurück