9. August 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: Weltklimarat ruft zu sofortigen Gegenmaßnahmen auf

Die Erde schwebt in Lebensgefahr

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Hochwasser, Hitzewellen, Tote – die Auswirkungen von Klimaerwärmung und -wandel werden auch in Europa und Deutschland immer spürbarer. Der Weltklimarat der Vereinten Nationen – der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – unterstreicht in seinem Sachstandsbericht 2021[1] diesen Zusammenhang.

Dieser Beitrag zum Sechsten IPCC-Sachstandsbericht (AR6-WGI  – der Fünfte Sachstandsbericht AR5 erschien 2014) wurde bei der 54. IPCC-Plenarsitzung vom 26. Juli bis 6. August 2021 virtuell verabschiedet und am 9. August auf einer Online-Pressekonferenz vorgestellt. Der Entwurf zur Kapitelstruktur des neuen Sachstandsberichts (AR6) wurde auf einem Scoping Meeting im Mai 2017 in Addis Abeba (Äthiopien) entwickelt.

243 Expert:innen aus 66 Ländern, darunter sieben aus Deutschland, arbeiteten von Sommer 2018 bis Juli 2021 im Kernteam am Beitrag von Arbeitsgruppe I und werteten rund 14.000 Studien aus. Weitere Expert:innen haben sich an der Überarbeitung des Textes beteiligt, so dass das Ergebnis weitgehend als Konsens der weltweiten Forschungsgemeinde betrachtet werden kann.

In der vergangenen Woche wurde schließlich die »Zusammenfassung für Entscheidungsträger« Satz für Satz mit den Delegierten der Regierungen der 195 IPCC-Mitgliedstaaten abgestimmt, bis auch über diesen Text Einigkeit herrschte. Das Ziel dieses Verfahrens ist es, auch auf politischer Ebene einen Konsens über die Fakten herzustellen. Der Bericht fasst den wissenschaftlichen Kenntnisstand zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels zusammen. Dazu beschreibt er den aktuellen Zustand des Weltklimas und Modellierungen seiner zukünftigen Entwicklung. Außerdem vermittelt er wichtige Informationen hinsichtlich der damit verbundenen Risiken für Mensch und Natur und analysiert den Bedarf an Emissionsminderungen, die für die Einhaltung der Ziele des Übereinkommens von Paris nötig sind.

Der aktuelle Bericht hat drei Teile, der erste wurde jetzt veröffentlicht. Er befasst sich mit den physikalischen Grundlagen des Klimawandels. In den Teilen zwei und drei, die 2022 erscheinen sollen, wird es um Folgen, Anpassung und Klimaschutz gehen. Die Forscher lassen keinen Zweifel daran, dass die Erderwärmung Folge des zunehmenden Kohlendioxid-Ausstoßes ist. Die Beweise seien erdrückend, dass der Mensch die Erderwärmung mit seinem Handeln selbst verschuldet hat. Wörtlich heißt es in dem Bericht: »Es ist eindeutig, dass der Einfluss des Menschen die Atmosphäre, den Ozean und die Landflächen erwärmt hat. Es haben weitverbreitete und schnelle Veränderungen in der Atmosphäre, dem Ozean, der Kryosphäre und der Biosphäre stattgefunden.«

Der Weltklimarat IPCC warnt in diesem sechsten Bericht davor, dass es bald unmöglich sein wird, die Erwärmung der Erde unter zwei Grad, geschweige denn 1,5 Grad Celsius zu halten, wenn nicht umgehend begonnen wird, die Treibhausgasemissionen schnell und drastisch zu reduzieren. Die Erde habe sich durch menschliche Aktivitäten vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum vergangenen Jahrzehnt um 1,07 Grad Celsius erwärmt. Im Mittel der kommenden zwei Jahrzehnte dürfte die Erwärmung 1,5 Grad erreichen oder überschreiten, unabhängig davon, wie sich die Emissionen weiterentwickeln.

Viele dieser Veränderungen treten zum ersten Mal seit Tausenden von Jahren auf. Einige von ihnen bräuchten Hunderte oder gar Tausende Jahre, um rückgängig gemacht zu werden. Ein komplettes Zurück gibt es nicht mehr, aber noch bleibt Zeit, zu handeln, um die Erderwärmung und ihre Folgen zu begrenzen. Seit dem letzten Bericht 2014 haben demnach Extremereignisse, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel stehen, weltweit zugenommen. Vergangene Prognosen und Modellierungen haben sich überwiegend bewahrheitet. Selbst bei einem künftigen harten Durchgreifen im Klimaschutz werden aktuelle Klimaentwicklungen noch Jahre andauern – vergleichbar mit einem sehr langen Bremsweg.

Die Klimafolgen werden daher in jedem Fall zunächst noch schlimmer. Lässt sich der Klimawandel also nicht mehr aufhalten? Die dem Bericht zugrunde liegenden Forschungsdaten zeigen, dass die Welt derzeit auf eine Erwärmung um mindestens drei Grad Celsius bis 2100 zusteuert. Das Ausmaß der Erderwärmung lässt sich aber generell noch reduzieren. Dafür müssten die Menschen jedoch ab sofort und konsequent hohe Mengen an Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen reduzieren, mahnt der Klimarat in seinem Bericht.

Der erste IPCC-Bericht erschien 1990 und diente als Basis für die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen. Seither warnt der Klimarat vor den verheerenden Folgen der Erderwärmung, seine Beurteilungen dienen weltweit als wissenschaftliche Grundlage für politische Entscheidungen zum Klimaschutz. Ob die Politik danach handelt, wird sich bei der nächsten Weltklimakonferenz zeigen, die im November in Glasgow stattfindet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Sommerpressekonferenz vor wenigen Tagen Versäumnisse in Sachen Klimaschutz eingeräumt. Im aktuell inhaltslos dahin plätschernden Wahlkampf aber spielt der Klimawandel nur eine Nebenrolle. »In der Corona-Krise ging es erkennbar um Leben und Tod«, sagt die Soziologin Anita Engels. Sie forscht an der Universität Hamburg zu den Wechselwirkungen zwischen Klimawandel, Gesellschaft und Politik. Der Klimawandel hingegen werde von den Menschen anders wahrgenommen, so Engels. Außerdem lägen Lösungen nicht so auf der Hand, wie in der Corona-Pandemie. Beim Klimawandel müssten komplexe Dinge geschafft werden, eine Mobilitätswende, eine Energiewende, eine Wende in der Landwirtschaft. »Und dafür müssen erst einmal Mehrheiten geschaffen werden, weil das Konfliktpotenzial höher ist.«

Nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz Mitte Juli 2021 müsste das Thema Klimawandel auch im Bundestagswahlkampf einen zentralen Stellenwert einnehmen. Die größte Lösungskompetenz beim Thema Umwelt- und Klimaschutz wird den Grünen von den befragten Wähler:innen in Deutschland zugeschrieben.[2] 35% der Wahlberechtigten machen diese Angabe. Die Union kommt aktuell auf 17%, die SPD auf 6%.

55% der Deutschen sind der Meinung, dass die Flutkatastrophe im Zusammenhang mit dem vom Menschen gemachten Klimawandel steht. Dies sagen Wähler:innen von Bündnis 90/Die Grünen mit Abstand am häufigsten (88%). So ist es auch der Co-Vorsitzende der Grünen, Robert Habeck, der deutlich wird: In der TV-Sendung »Maischberger« macht er klar, wie drängend die Klimakrise als Herausforderung für die Menschheit ist.

»Wir reden nicht darüber, dass es keinen Klimawandel gibt. Das ist ausgeschlossen. Wir reden einzig und alleine darüber, und da wird die Dringlichkeit deutlich, dass die Erderwärmung so verlangsamt und so eingebremst wird, dass wir uns als Menschen anpassen können. Dass wir in der Lage sind, unsere Städte, unser Leben so zu schützen, dass wir nicht katastrophale Zustände erleben.« Es könne nun nur noch darum gehen, den Kipppunkt, der nach wissenschaftlichen Berechnungen bei einer zusätzlichen Erderwärmung von etwa 1,5 Grad liegt, nicht zu erreichen. Ansonsten würde das Methan freigesetzt, das sich derzeit noch in den Permafrostböden befindet. Dann würde die Erde »auf einmal drei, vier, vielleicht mehr Grad« heißer. »Und dann ist tatsächlich Holland in Not.«

Während CDU/CSU und die SPD und DIE LINKE zwar betonen, den Klimawandel ernst zu nehmen, fehlt es ihnen an einem umfassenden Konzept. Die FDP setzt nur auf die Innovationskraft des freien Marktes sowie moderne Technik und dokumentiert damit ihre Realitätsferne. Die AfD leugnet den von Menschen gemachten Klimawandel und redet von Panikmache. Lediglich die Grünen legten jetzt im Wahlkampf ihr »Klimaschutz-Sofortprogramm« auf den Tisch und erhoffen sich damit die so dringend notwendige inhaltliche Debatte. Die Bewältigung der Klimakrise wird in dem siebenseitigen »Sofortprogramm« als »Jahrhundertaufgabe« bezeichnet.

Um Abstimmungsprozesse innerhalb der Ministerien zu verschlanken und zu beschleunigen, soll in den ersten 100 Tagen einer neuen Bundesregierung eine »Klima-Task-Force« im Wochenrhythmus tagen. Die Federführung hierfür solle im Klimaschutzministerium liegen. Der Dreh- und Angelpunkt für mehr Klimaschutz und eine wettbewerbsfähige Industrie seien die erneuerbaren Energien. Deren Ausbau aber gehe derzeit viel zu langsam voran, heißt es: »Wir brauchen schnellstmöglich mehr grünen und günstigen Strom, um die klimaschädlichen Emissionen insbesondere in den Sektoren Verkehr, Industrie und Wärme zu verringern.« Deshalb solle direkt nach der Bundestagswahl eine »Ausbauoffensive« für die erneuerbaren Energien gestartet werden.[3]

Die Klimaschutzdebatte im Vorfeld der Bundestagwahl bleibt vage. Den Akteur:innen von »Friday for Future« gehen die bisherigen Vorstellungen der Parteien nicht weit genug. Die Parteien redeten über Klimaschutz, doch die Konsequenzen würden kaum thematisiert. Die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg zeigte sich auf Twitter nicht überrascht über den IPCC-Bericht: »Der neue IPCC-Bericht enthält keine wirklichen Überraschungen. Er bestätigt, was wir schon aus Tausenden vorherigen Studien und Berichten wissen – dass wir uns in einem Notfall befinden.«

Die schlimmsten Folgen des Klimawandels könnten noch verhindert werden, schrieb Thunberg. Allerdings dürfe nicht so weitergemacht werden wie bisher. »Wir müssen jetzt mutig sein, die Welt steht auf der Kippe«, sagte auch Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer. Die Regierungen müssten mit dem verantwortungslosen Befeuern der Klimakrise aufhören. Noch könne das Klima langfristig bei 1,5 Grad stabilisiert werden. Laut Angaben von Carla Reemtsma, ebenfalls von Fridays for Future, reiche kein einziges Programm etablierter Parteien aus, um die 1,5-Grad-Grenze einhalten zu können.

Annalena Baerbock twitterte nach Veröffentlichung des Berichtes in Bezugnahme auf den Mehrklang des Klimaschutz-Sofortprogramms: »Die Klimaerhitzung führt jetzt schon zu einem Temperaturanstieg von mehr als 1 Grad und das Klima ändert sich immer schneller – von der Ozeanerwärmung bis zu Wetterextremen in allen Regionen der Welt. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Gegen die Klimakrise helfen keine Sonntagsreden, sondern ausschließlich wirksamer Klimaschutz: ein schnellerer und massiverer Ausbau der Erneuerbaren und das Engagement, als erste Industrienation klimaneutral zu werden. Genauso entscheidend ist eine leidenschaftliche Klimaaußenpolitik. Die Bundesregierung muss gemeinsam mit EU, UK und USA alles dafür tun, dass die COP26 (Klimakonferenz in Glasgow) zum Wendepunkt wird und wir auf den 1,5-Grad-Pfad kommen.«

Sicher ist aber bereits jetzt, dass sich enormer Handlungsdruck für welche Regierungskonstellation auch immer aufbauen wird. Ob das Thema sich auch im Votum der Wähler:innen niederschlägt, bleibt offen. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kritisiert, dass im Bundestagswahlkampf der Streit in der Sache zu kurz komme. »Die bisher schwache inhaltliche Auseinandersetzung in diesem Wahlkampf besorgt die Industrie«, sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang in der »Welt am Sonntag«. »Angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor die uns internationale Zusammenarbeit, Klimawandel, Digitalisierung und die Corona-Krise stellen, ist es höchste Zeit, wegzukommen von Nebensächlichkeiten.«

Stattdessen müssten endlich intensive Debatten über die Konzepte der Parteien »zur Stärkung der Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Deutschland« geführt werden. »Die künftige Bundesregierung muss mit den richtigen politischen Maßnahmen den Weg in ein klimaneutrales Innovations- und Investitionsjahrzehnt beschreiten und das empfindliche Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem im Blick behalten«, sagte Lang. »Die Industrie fordert die Parteien auf, endlich in den Wettstreit darüber zu treten, welche Lösungen sie den Wählerinnen und Wählern anbieten, um den Standort zukunftsfest zu machen.«

Die Leiterin der IPCC-Koordinierungsstelle in Deutschland, Christiane Textor, weist darauf hin, dass sich die Wissenschaft von einem Bericht zum nächsten sicherer geworden sei, »dass es den Klimawandel gibt und dass er menschengemacht ist«. Und seit drei Jahrzehnten könnten diese Informationen nur als Warnung verstanden werden.

»Es gibt inzwischen viele Dinge, die wir nicht mehr verhindern können«, sagt Dirk Notz von der Universität Hamburg, einer der Leitautoren für das Kapitel zu Eis und Meeresspiegel. »Aber der Bericht zeigt auch, dass es noch viel Gestaltungsspielraum gibt. Wie schnell etwas passiert oder wie schlimm es kommt, liegt in unserer Hand.« Würde die Menschheit jetzt auf ehrgeizigen Klimaschutz umschwenken, würde sich das laut Bericht »binnen Jahren« auf die gemessenen CO₂-Konzentrationen auswirken. Innerhalb von 20 Jahren würde sich der Temperaturunterschied im Vergleich zu Szenarien mit hohen Emissionen zeigen. Andere Effekte würden länger brauchen, besonders lang ist die Reaktionszeit der Eisschilde. Doch spätestens zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus sind die Unterschiede zwischen den Szenarien nach wie vor dramatisch.

Fakt ist: Katastrophale Waldbrände wie jetzt am Mittelmeer, aber auch verheerende Flutkatastrophen wie zuletzt in Deutschland nehmen in Zukunft zu. Wir brauchen also ein Sofortprogramm, um die Gesellschaft an diese Folgen anzupassen. Und wir müssen weitergehende Maßnahmen umgehend einleiten.  Die Wissenschaftler argumentieren zu Recht: »Viele Veränderungen im Klimasystem werden in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden globalen Erwärmung größer. Dazu gehören die Zunahme der Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, marinen Hitzewellen und Starkniederschlägen, landwirtschaftlichen und ökologischen Dürren in einigen Regionen, das Ausmaß tropischer Wirbelstürme sowie Rückgänge des arktischen Meereises, von Schneebedeckung und Permafrost.« Dies bedeutet: Die Böden in Sibirien werden weiter schmelzen, die Gletscher auf Grönland ebenfalls!

Jochem Marotzke vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg ist einer der Mitautoren des Berichts. Er sagt: »Es gibt keinen Punkt, an dem es zu spät wäre, den Klimaschutz weiterzutreiben, egal wie viel Erwärmung es schon gegeben hat.« Und Prof. Mojib Latif (Uni Kiel) ergänzt: »Es wird dramatisch werden und wir erleben bereits die Grenzen unserer Anpassungsfähigkeit. Selbst wenn wir jetzt endlich anfangen gegenzusteuern, werden wir erst in einigen Jahrzehnten wissen, wohin die Reise geht, und ob einige Prozesse nicht doch schon unumkehrbar sind.«

Anmerkungen

[1] Die »Hauptaussagen« sind unter https://www.de-ipcc.de/media/content/Hauptaussagen_AR6-WGI.pdf zusammengefasst; siehe auch https://www.forschung-und-lehre.de/weltklimarat-mahnt-zum-sofortigen-handeln-3916/
[2] https://yougov.de/news/2021/08/04/klimawandel-den-grunen-wird-grosste-losungskompete/
[3] https://www.gruene.de/artikel/klimaschutz-sofortprogramm

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