2. Mai 2018 Hinrich Kuhls: Demaskierung des konservativen Populismus

Die feindselige Migrationspolitik der britischen Regierung

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Die britische Innenministerin Amber Rudd ist am Abend des 29. April zurückgetreten. Der Rücktritt war unvermeidlich, weil mit der regierungsoffiziellen »Politik des feindseligen Umfelds« gegenüber irregulär Zugewanderten auch viele britische Staatsbürger*innen ihrer sozialen und staatsbürgerlichen Rechte beraubt worden waren.

Noch wenige Tage zuvor hatte die konservative Premierministerin May in der jeweils auf Mittwoch mittags im Unterhaus angesetzten Fragestunde diesen Schritt als schlechten Scherz zurückgewiesen. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn hatte als Oppositionsführer zum Schluss seiner Hinterfragung der aggressiven Migrationspolitik den Rücktritt gefordert. Das offenbar gewordene Ausmaß der anhaltenden Diskriminierung britischer Bürger*innen, die ab 1948 aus den westindischen Kolonien (die »Windrush«-Generation) und anderen Commonwealth-Ländern zugewandert sind, ließ auch keine andere Konsequenz zu.

May war sich zunächst nicht klar, ob die Rücktrittsforderung ihr oder der Innenministerin galt. Ihre Irritation war nicht unbegründet. Denn May ist die Architektin der bewussten Politik des »hostile environments«, mit der eine administrative Abschottungsmauer hochgezogen und ein feindseliges Umfeld geschaffen worden ist – und zwar nicht nur zur Abschreckung von Sans-Papiers, sondern gegenüber allen Formen der Zuwanderung aus Ländern innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Es war May, die die administrativen Richtlinien dieser Politik als Innenministerin im Kabinett Cameron von 2010 bis 2016 ausgearbeitet hat.

May und Rudd suchten ihre Verteidigungslinie in einer Differenzierung. Sie gestanden Fehler in der Behandlung britischer Staatsbürger*innen ein, die aus den früheren Kolonien, vor allem aus der Karibik, eingewandert waren oder in der zweiten Generation im Land leben. Sie rechtfertigten das im letzten Wahlprogramm (2017) der Tories formulierte Ziel, die Netto-Einwanderung insgesamt auf »wenige Zehntausend« zu begrenzen und dabei auch das Mittel verstärkter Abschiebungen »illegaler Einwanderer« offensiv einzusetzen.

Rudds politisches Ende war besiegelt, als sie im Innenausschuss wiederholte, dass ihr Ministerium keine Zielvorgaben für die Abschiebung illegaler Migranten vorgegeben habe – eine Behauptung, die sich schnell als Lüge herausstellte. Denn die für ihren investigativen Journalismus bekannte Tageszeitung The Guardian publizierte einen Brief, in dem Rudd im Januar 2017 gegenüber May das »ehrgeizige, aber erreichbare« Ziel der Abschiebung von mehr illegalen Einwanderern, also die Fortsetzung von Mays Politik, zusagte. In dem durchgesickerten Brief hatte Rudd der Premierministerin eine Erhöhung der Zwangsabschiebungen um 10% oder mehr in den nächsten Jahren versprochen.

Die erzwungene Demission berührt – anders als die Kabinettsumbildung Anfang des Jahres – den Kern des ideologischen Gerüsts, mit dem die konservative Regierung ihr Programm der »neuen ökonomischen Partnerschaft«, also der Neuausrichtung des Außenhandels der britischen Ökonomie, umgibt. Gleich zwei zentrale Punkte der von May, Johnson, Gove und der Mehrheit des britischen Kabinetts verfolgten Politik des harten Brexits – Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und Ablehnung einer Zollunion – werden berührt: die »Rückgewinnung« der Kontrolle über die Grenzen und die Suggestion »Globales Britannien«.

Erstens: Die vollständige Rückgewinnung der Kontrolle über Rechtsprechung, Finanzen und Grenzen steht im Mittelpunkt der nationalistischen Politik der Brexit-Befürworter. Darin eingeschlossen ist die fremdenfeindlich konnotierte Rückführung der Netto-Einwanderung auf weniger als 100.000 Personen pro Jahr, das von May ausgegeben worden war. Ein Ziel, das bisher nicht erreicht werden konnte, nur mit weiteren Verstößen gegen staatsbürgerliche Rechte durchsetzbar wäre und zudem arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv ist.

Vor dem Hintergrund der nun offenkundig gewordenen Verwaltungspraxis erscheinen die an EU-Bürger*innen versandten Aufforderungen, das Land zu verlassen, sofern ihr Aufenthaltsstatus nicht eindeutig geklärt sei, in einem anderen Licht. Waren sie bisher als Versehen bezeichnet worden, so nähren sich jetzt die Zweifel, ob die vertraglichen Vereinbarungen zur gegenseitigen Sicherung der Bürgerrechte, die im Entwurf des EU-Austrittsvertrags bisher fixiert worden, nach Vertragsabschluss Bestand haben werden, oder ob sie – wie sowohl im Europäischen Parlament als auch von der Labour-Opposition im britischen Parlament befürchtet – durch Verwaltungsverordnungen unterlaufen werden.

Zweitens: Die Vision des Globalen Britannien, mit der bewusst auch an die spätkoloniale Epoche des britischen Empire angeknüpft wird, ist nachhaltig getrübt. Auch wenn der Außenhandel mit den Commonwealth-Ländern nur ein Zehntel des Außenhandels mit den EU-Ländern beträgt, so ist doch das Brexit-Versprechen zukünftiger Prosperität vor allem an die positive Rückwirkung neuer Freihandelsabkommen gerade mit den ehemaligen Kolonien gebunden.

May musste sich nun wegen des Windrush-Skandals auf dem in London stattfindenden Commonwealth-Gipfeltreffen für die Diskriminierung britischer Bürger*innen, deren Herkunft mit diesen Ländern verbunden ist, entschuldigen. Den Ambitionen des Außenhandelsministers und Brexit-Hardliners Fox, hier schnell zu Abschlüssen zu kommen, war das nicht förderlich.

Zudem ist drittens die fragile Balance des Tory-Kabinetts gefährdet. Rudd repräsentierte zusammen mit Schatzkanzler Hammond die weiche Variante des Brexits. Zwar zählte der neu ernannte Innenminister Sajid Javid bisher nicht zu den Vertretern des harten Brexits um May und Johnson. Doch Javid war 2016 im Tandem mit dem damaligen Arbeitsminister Stephen Crabb gegen May als Mitbewerber für den Parteivorsitz angetreten. Das Tandem-Vorhaben scheiterte, aber Javids Ziel von damals, neben Crabb das zweitwichtigste Amt des Schatzkanzlers zu besetzen, ist jetzt leichter zu erreichen. Trägt er zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zugunsten der Brexit-Hardliner bei, rückt das Scheitern der Brexit-Verhandlungen näher.

Doch welches gesellschaftliche Problem hat die Sprengkraft, eine konservative Regierung ins Schwanken zu bringen, die zwar im Parlament nicht über die Mehrheit der Sitze verfügt, aber mit der Unterstützung der rechtsnationalistischen nordirischen DUP bisher durchregieren konnte?


Die »Windrush-Generation«

Die Verbindungen zwischen Großbritannien und der früheren Kolonie Jamaika sind über 300 Jahren hinweg immer eng gewesen. Seite Ende der 1940er Jahre, in einer Zeit akuten Arbeitskräftemangels, wurden viele Jamaikaner*innen ermutigt, sich in Großbritannien niederzulassen. Die ersten trafen mit dem Passagierschiff »Windrush« ein, bis Ende der 1960er Jahren waren es mehr als eine halbe Million. Als Bürger*innen des »Vereinigten Königreichs und der Kolonien« hatten sie das Recht, sich zwischen den beiden Ländern frei zu bewegen. Als Jamaika jedoch im August 1962 unabhängig wurde, änderte sich der Status der Staatszugehörigkeit: Sie waren jetzt jamaikanische Staatsangehörige, gehörten als solche dem Commonwealth (ein Staatenverbund ohne supranationale Souveränitätsrechte) an und verloren formell ihre britische Staatsangehörigkeit. Das betraf auch diejenigen, die mit ihren britischen Pässen aus Jamaika nach Großbritannien gekommen waren.

Das britische Einwanderungsgesetz von 1971 gewährte denjenigen, die im Vereinigten Königreich »sesshaft« waren und ansonsten kein Aufenthaltsrecht hatten, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und das Recht, sich als britische Staatsbürger registrieren zu lassen. Tatsächlich war aber vielen, vor allem in der nachwachsenden Generation, die entweder auf den Pässen ihrer Eltern eingereist oder in den1950er Jahren im UK geboren wurden, nicht bewusst, dass mit der Unabhängigkeitserklärung Jamaikas eine Klärung der Staatszugehörigkeit erforderlich wurde, zumal im UK bis heute keine Personalausweise bzw. Identifikationskarten ausgegeben werden.

Diejenigen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Großbritannien kamen, behielten ihr Aufenthaltsrecht, aber oft fehlten die Dokumente, um zu beweisen, dass sie das Recht hatten, hier zu leben. Dies war in den früheren Jahrzehnten nicht so wichtig, aber in den letzten Jahren wurden sie zunehmend aufgefordert, ihr Aufenthaltsrecht nachzuweisen.

Ein alter jamaikanischer Pass von vor 40 Jahren wird nicht mehr als ausreichender Nachweis akzeptiert. Reisepässe neueren Datums enthalten keine Stempel mit Aufenthaltsgenehmigungen. Die Beantragung eines aktuellen britischen Passes mit einer unbeschränkten Aufenthaltsgenehmigung kostet mehrere hundert Pfund Gebühren. Zudem verlangt das Innenministerium, dass die Antragsteller Nachweise für jedes Aufenthaltsjahr der letzten 40 Jahre vorlegen.

Mit dem Einwanderungsgesetz 2014 wurden das britische Migrationsrecht an vielen Stellen modifiziert, darunter: Ausweitung der Befugnisse zur Ausweisung aus dem UK; Aufhebung der meisten Rechtsmittel gegen Einwanderungsentscheidungen; Einschränkung des Zugangs zum NHS und anderen Diensten; neue Strafen für Vermieter; Änderung der Verfahren für Eheschließungen. Seitdem kam es vermehrt zu Komplikationen bei Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen und Sozialleistungen, bei der Arbeitsaufnahme und bei der Rückkehr aus dem Ausland.

Das Einwanderungsgesetz 2014, vorgelegt von Innenministerin May, wurde nicht nur mit den Stimmen der konservativ-liberaldemokratischen Regierungsmehrheit verabschiedet, sondern auch von der überwiegenden Mehrheit der Labour-Parlamentsfraktion. Es war das Jahr, in dem die rechtspopulistische UKIP bei den Europawahlen ihren größten Wahlerfolg errungen hatte. Unter den wenigen Abgeordneten, die gegen das Einwanderungsgesetzt gestimmt hatten, waren die damaligen Hinterbänkler: Jeremy Corbyn, Diane Abbott (heute Schatten-Innenministerin) und David Lammy.


Integration und Riots

Auch lange nach ihrer Ankunft blieben die karibischen Communities von Armut und sozialer Diskriminierung geprägt. Zwar fanden viele Zugewanderte unbefristete Arbeitsplätze bei öffentlichen Unternehmen wie Krankhäusern, Schulen, Verkehrsbetrieben, Post – aber es waren die Jobs mit den geringsten Löhnen: Reinigungsarbeiten, Fahrkartenverkauf, Briefzustellung, Bus- und U-Bahn-Fahrer etc. Seit den Thatcher-Jahren kamen dann die verstärkten Polizeikontrollen in den Wohngebieten hinzu, vor allem in den Londoner Stadtteilen Notting Hill, Brixton und Tottenham.

Linton Kwesi Johnson, das weit über London hinaus bekannte »poetische Gewissen« der jamaikanisch-britischen Community, fasst die Jahrzehnte währende Situation – auch mit Rückblick auf Riots in Notting Hill (1976 und 1977), Bristol (1980), in Brixton, in Tottenham (2011) und auf tödliche Polizeigewalt 1981 (New Cross) – in einem aktuellen Interview knapp zusammen: »Es ist ein Mythos, dass die Immigrant*innen sich nicht in die britische Gesellschaft eingliedern wollten. Es wurde uns vielmehr nicht erlaubt.« (Guardian vom 27.4.2018)

Johnson, 1952 in Jamaika geboren, wurde 1963 von seiner in London arbeitenden Mutter nachgeholt. Er schuf mit seiner sozialkritischen Lyrik die »dub poetry«, vorgetragen und oft auch von Bands begleitet im Rhythmus des Ska oder Reggae. In seinem Bekanntenkreis hat er in den letzten Jahren immer wieder erlebt, dass nach einem Verwandtenbesuch in der Karibik die Wiedereinreise verweigert worden war. »Der Windrush-Skandal läuft also schon seit recht langer Zeit. Aber er ist auch symptomatisch für den Aufstieg des UKIP-Flügels in der Konservativen Partei. UKIP als Partei ist eigentlich verschwunden, aber sie lebt und gedeiht in der Konservativen Partei, die immer auch die Anti-Migrations-Partei war, nicht nur einfach die hässliche Partei.«


Die Philippika

Der Labour-Abgeordnete David Lammy ist einer der Abgeordneten, die der zweiten Windrush-Generation angehören. Seit 2005 vertritt er den Wahlkreis London-Tottenham im Unterhaus; 2017 erhielt er 82% der abgegebenen Stimmen. Über seinen Wohnbezirk Haringey in Tottenham sagt er, der Kapitalismus habe ihn vergessen. Die Riots dort (2011) hat er in seinem Buch »Out of the Ashes« dargestellt – Augenzeugenbericht und politischer Essay zugleich.

David Lammy war es, der Mitte April 2018 mit einer Dringlichkeitsanfrage im Namen der Labour-Fraktion die Innenministerin zu einer parlamentarischen Stellungnahme gezwungen hatte. Von verschiedenen Medien, vor allem vom Guardian und von der BBC, war in den Monaten zuvor über viele Fälle von Diskriminierungen berichtet worden, die Anlass zu etlichen parlamentarischen Anfragen seitens der Opposition gaben, ohne dass von Regierungsseite ausreichende Schritte zur Beseitigung der Diskriminierungen unternommen wurden. Als Rudd in ihrer Erklärung zu Beginn der Dringlichkeitsdebatte wieder in Ausflüchte auswich, erwiderte Lammy mit einer kurzen Phillipika, die den Anfang des politischen Endes der Innenministerin markierte:

»Das Verhältnis zwischen diesem Land und den Westindischen Inseln und der Karibik ist untrennbar. Die ersten britischen Schiffe kamen 1623 in der Karibik an, und trotz Sklaverei und Kolonialisierung kämpften 25.000 Westinder im ersten und zweiten Weltkrieg in den britischen Truppen. Als meine Eltern und andere ihrer Generation im Rahmen des British Nationality Act 1948 in dieses Land kamen, kamen sie als britische Staatsbürger*innen hierher. Es ist unmenschlich und grausam, dass so viele aus dieser Windrush-Generation so lange unter den hiesigen Umständen gelitten haben und dass die Innenministerin erst heute eine Erklärung zu diesem Thema abgibt.

Kann uns die Innenministerin sagen, wie viele Menschen abgeschoben wurden? Sie kündigt an, die Regierungen in Jamaika und weiteren karibischen Ländern hierzu zu befragen, aber es ist ihr Ministerium, das abgeschoben hat. Sie sollte die Zahlen kennen. Kann sie dem Hohen Haus sagen, wie viele hier, in ihrem eigenen Land in Abschiebhaft genommen worden sind? Kann sie uns sagen, wie vielen die Gesundheitsversorgung im Rahmen des nationalen Gesundheitsdienstes verweigert wurde, wie vielen die Renten verweigert wurden und wie viele ihre Arbeitsplätze verloren haben?

Heute ist ein Tag der nationalen Schande, und er ist durch die Politik des feindseligen Umfelds entstanden, die von der Premierministerin in Gang gesetzt worden ist. Reden wir Klartext: Wer sich zu den Hunden legt, bekommt Flöhe. Und genau das trifft in diesem Land auf die rechtsextreme Rhetorik zu. Wird sich die Innenministerin in aller Form entschuldigen? Wird sie darlegen, wie schnell ihre Behörde handeln wird, um sicherzustellen, dass die Tausenden von britischen Männern und Frauen, deren Rechte in diesem Land unter ihrer Leitung vom Innenministerium verweigert wurden, rehabilitiert werden?«

Rudds Nachfolger im Amt des Innenministers hat am letzten Apriltag angekündigt, den grundsätzlichen Kurs der Migrationspolitik beizubehalten. Der Daily Mirror titelte einen Tag später: »Mayday, Mayday«.

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