7. Dezember 2022 Bernhard Sander: Vor den Senatswahlen im Frühjahr 2023

Die französische Rechte stellt sich neu auf

Marine Le Pen und ihr Nachfolger Jordan Bardella

Im Wahlmarathon des Jahres 2022 war es den Resten der linken Parteien gelungen, mit Verteilungsfragen wieder die politische Agenda mitzubestimmen. Da die bürgerliche und die radikale Rechte auf diesem Gebiet schon seit Jahren wenig anzubieten haben –mit Ausnahme des entdiabolisierten Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen –, radikalisierte sich der fremdenfeindliche Diskurs in ihren Milieus.

Allerdings auch ohne, dass es zu spektakulären Gewalttaten sogenannter Islamisten gekommen wäre. Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine kam ein weiteres Feld hinzu, auf dem die traditionell Putin-freundliche Rechte sich isoliert fand. Zu Beginn des neuen Jahres werden fast alle Formationen neue Führungsleute gewählt und damit die politische Neujustierung nach dem Dauerwahlkampf des Jahres 2022 abgeschlossen haben.

Während sich auf dem Dezember-Parteitag der Sozialisten (PS) ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem amtierenden Generalsekretär und NUPES-Mitbegründer Olivier Faure und drei oppositionellen Strömungen anbahnt, scheinen die rechtsbürgerlichen Republikaner (LR) in nationalistisch-neoliberalen Cliquen gespalten, deren Unterschiede nur Eingeweihten erkennbar sind. Die sozial-nationalistische RN hat unterdessen die Niederlage bei der Präsidentschafts- und die deutlichen Zugewinne bei der Parlamentswahl verarbeitet und mit der Wahl eines Vorsitzenden außerhalb des Familienclans der Le Pen eine neue Periode eingeleitet.

Für LR und ihren rechtskatholischen Flügel, der mit machtvollen Demonstrationen gegen das Recht auf schwule Ehe und Kinderadoption vor zehn Jahren eine Massenbewegung ins Rollen brachte, die seit der Präsidentschaft François Hollands die Partei trug, kommt die offene Krise der französischen Kirche äußerst ungelegen. Es wurde offenbar, dass dutzende Priester schutzbefohlene Kinder sexuell missbraucht und höhere Dienstränge dies gewusst und gedeckt haben. Da RN die Themen der Pluralität der Lebensformen, Geschlechteridentität, sexueller Übergriffe usw. eher ignoriert hat, bleibt nur noch der falsche Prophet Éric Zemmour, der auf diesem Gebiet glaubhafte Angebote für das traditionelle Familienbild für die rechts-verwaiste und -verwahrloste Mitte bereithält.

Um den LR-Vorsitz bewerben sich im Dezember der gegenüber der Regierung kompromissbereite Fraktionsvorsitzende im Senat, Bruno Retailleau, sowie Éric Ciotti, der bereits im Präsidentschaftswahlkampf seine Unterstützung für Marine Le Pen avisiert hatte. Hinzu gesellt sich Aurelien Pradié, der sich als »sensibler Rechten« mit einem Schwerpunkt in der Behindertenpolitik definiert, der in der Nachfolge des Sozial-Gaullismus von Jacques Chirac stehe.

Er war einer der Sprecher der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur von Valérie Precesse und ist für eine Kooperation mit Macron offen, beschäftigt sich heute mehr mit Wirtschaftsfragen als mit den Themen Migration und Islamismus, wo sich kaum noch Abgrenzungsgewinne für das eigene politische Profil generieren lassen. Stattdessen propagiert er ein Bürgergeld in Höhe von 715 Euro pro Person, das alle Sozialleistungen ersetzen soll. Alle anderen Kandidat*innen stellen nationalistisch-konservative Varianten da.

In der Stichwahl schied Pradié mit einem knappen Viertel der Stimmen aus. Nun stehen der Rebell und Zemmour-Sympathisant Ciotti (43%) und der Vertreter des Establishments Retailleau (34,5%) vom erzkatholischen Flügel der Partei zur Wahl. Beide lehnen jede Kooperation mit Macron und seinem Parteienbündnis (Renaissance) ab, beide bekennen sich zur Theorie des »großen Bevölkerungsaustauschs« des identitären Vordenkers und schwulen Literaten Renaud Camus. Nach dieser – auch im Verlag des bundesdeutschen Rechtsradikalen Götz Kubitschek verlegten – Wahnidee werden das christliche Abendland und Frankreich in Sonderheit schleichend vom Islam durch Migration und durch wachsende Geburtenzahl unterminiert.

Angesichts dieser Gruselgestalten, mit denen auch die CDU in der EVP und im europäischen Parlament zu tun haben werden, kann man lobend erwähnen, dass der Staatspräsident Emmanuel Macron anlässlich eines Besuchs im ehemaligen Internierungslager Les Milles darauf hinwies, dass die Judenverfolgung (auch im freien Teil Frankreichs) nur mit aktiver Unterstützung der französischen Ordnungskräfte aller Ebenen möglich war. Diese sei »kein Unfall der Geschichte«, sondern die Folge der Erosion demokratischer Werte gewesen.

Gleichwohl macht die französische Exekutive Realpolitik, um zu beweisen, dass sie mit der Migration fertig wird. Die Bootsflüchtlinge, denen man in der Marine-Garnisonsstadt Toulon gestattete, von Bord zu gehen, wurde umgehend interniert, um in juristisch fragwürdigen Schnellverfahren nationale Zugehörigkeit und Asylanspruch zu klären, um sie umgehend abzuschieben. Noch 2019 hatte Macron eine Rückführungsquote von 100% verkündet, faktisch werden aber kaum 6% der Ausreisepflichtigen abgeschoben.

Frankreich stockt den Grenzschutz am Ärmelkanal auf und gibt britischen Beamten erstmals Zugang zu den operativen Einsatzzentralen. Ein neuer Vertrag zwischen Paris und London soll die Zahl der Bootsmigrant*innen reduzieren – und zeugt von einem Tauwetter nach der Amtsübernahme von Rishi Sunak in Großbritannien.

Hintergrund sind auch die Senatswahlen im Frühjahr 2023. Der Staatspräsident steht dabei auch unter Druck der Partei »Horizons« seines ehemaligen Premiers Édouard Philippe und deren zweitem Vorsitzenden Christian Estrosi, die beide aus dem Sarkozy-Lager der Republikaner stammen. Hier rechnet man mit enormem Zulauf, falls Ciotti die Führung der Republikaner übernehmen sollte.

Marine Le Pen hat sich auf den Fraktionsvorsitz in der Nationalversammlung zurückgezogen, wo sie die Rolle der loyalen Opposition übernimmt. Die Fraktion folgte bisher mit der Hand an der Hosennaht und stimmte keinesfalls gemeinsam mit der linken (relativen) Mehrheit, wenn diese wieder einmal ein Misstrauensantrag eingebracht hatte, weil Macrons Ministerpräsidentin Élisabeth Borne ihre Gesetzesvorhaben nur mithilfe des Notstandsparagrafen durchzubringen vermochte. Das sichert Macrons politisches Überleben wohl auf weiteres, solange auch die Republikaner es für wichtiger halten, Macrons Parteienbündnis zu isolieren.

Im Oktober verhandelte das Parlament die Reform der Arbeitslosenversicherung. Indem RN einen Änderungsantrag einbrachte, der in Frankreich arbeitende Migrant*innen ohne Pass von den Betriebswahlen ausschloss, knüpfte sie an eine Auffassung des Vichy-Regimes von 1940–1944 an, die der Arbeitscharta von Philippe Pétain eigen war, und in der Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber national gemeinsame Sache gegen die feindlichen Mächte und gegen ihre »Verbündeten im Inneren« machen.

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen, Sophie Taillé-Polian kommentiert den Vorgang so: »Die extreme Rechte ersetzt die horizontale Spaltung der Einheit der Arbeiterklasse, die durch ihre schwierigen Lebensbedingungen und ihre Ausbeutung durch die nicht arbeitende Unternehmerklasse verbunden ist, durch die vertikale Spaltung einer nationalen Einheit zwischen französischen Arbeitern und Unternehmern, die durch die Notwendigkeit verbunden sind, die Nation zu verteidigen, deren Überleben auf dem Spiel stehe, da sie von einem angeblichen Sittenverfall, einer angeblichen moralischen Dekadenz, der Gier ausländischer Mächte und der ihrer fantastischen Verbündeten im Inneren geplagt werde.«

RN leistet damit einen Offenbarungseid, Macrons Reformen im Parlament ein ums andere Mal durchkommen zu lassen, weil NUPES solche Änderungsanträge für eine »nationale Präferenz« ablehnen muss. Das sichert Macron ein fragiles Überleben und Herr der politischen Umgestaltung zu bleiben. Aus dieser Blockade könnte eine breitere politische Mobilisierung in der Bevölkerung herausführen. Doch danach sieht es im Moment nicht aus.

Im Herbst nahmen zwischen 100.000 und 300.000 Menschen an den landesweiten Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Teuerung und für die Tarifforderungen der Gewerkschaften teil, die von CGT, FO und Gewerkschaften aus dem Bildungswesen, nicht aber von den »gemäßigten« CFDT, UNSA usw. angemeldet worden waren. Auch wenn die Mobilisierung kaum über den harten Kern der militanten Interessenvertretungen hinausging, ist sie – nur zwei Tage nach dem Aktionstag des Parteienbündnisses der Linken – ein Erfolg. Die Streikaufrufe hingegen fanden nur schwache Resonanz.

Die Republikaner und die Nationale Sammlung Le Pens versuchen, von der sozialen Konfrontation abzulenken, in dem sie im Parlament die hohe Zahl der nicht erfolgten, gleichwohl gerichtlich angeordneten Abschiebungen durch Anfragen und Anträge ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung drücken.

Im Sinne der Ent-Diabolisierung macht die Parlamentsstrategie von Le Pen durchaus Sinn. Wo ihr linker Gegenspieler die Konfrontation sucht, setzt sie sich demonstrativ für politischen Dialog und für Recht und Ordnung ein. Marine Le Pen tut seit den Wahlen alles, um ihre Partei für die französischen Bürger*innen wählbar zu machen. Nun hat ein junger RN-Abgeordneter, der zu den Unterstützern des neuen Parteivorsitzenden zählt, gezeigt, welche Geister in der Partei noch immer toleriert werden: offener Rassismus gegenüber Menschen aus Afrika. Carlos Martens Bilongo, ein Abgeordneter der linken Partei »La France insoumise« (LFI) stellte der Regierung gerade eine Frage zur Rettung von Geflüchteten im Mittelmeer, als aus den Reihen der rechten RN ein lauter Zwischenruf kam: »Retourne en Afrique!« (»Hau ab nach Afrika!«) Die Präsidentin der Nationalversammlung Yaël Braun-Pivet von der Präsidenten-Partei LREM setzte die Sitzung zunächst aus und brach sie schließlich komplett ab.

Die Bewegung selbst stellt sich unter Leitung des per Internet-Abstimmung gewählten neuen Vorsitzenden Jordan Bardella neu auf, der aus dem identitären Studierendenverband von RN stammt. Sein unterlegener Gegenkandidat Louis Aliot führte im Wahlkampf die Strategie der Entdiabolisierung, die er als Le Pens Stellvertreter mit entwickelt hatte, konsequent fort. Er überreichte als Bürgermeister von Perpignan, der auch schon ein Mahnmal für Walter Benjamin errichten ließ, dem Nazi-Jäger Serge Klarsfeld, der u.a. den SS-Mann und Schlächter von Lyon Klaus Barbie enttarnt und für dessen Verurteilung 1987 gesorgt hatte, eine Ehrenmedaille für seine Verdienste.

»Sein Sohn Arno Klarsfeld verteidigte das in einem Tweet: Wenn Teile des RN sich weiterentwickelten, indem sie Untaten des Vichy-Kollaborationsregimes wie die Razzia von Vel d'Hiv verurteilen, die Erinnerung an die Shoah pflegen und das in der extremen Rechten grassierende einwandererfeindliche Theorem des ›Großen Bevölkerungsaustauschs‹ für unpassend erklären, warum solle man das nicht anerkennen? ›Es ist besser, wenn die extreme Rechte gemäßigt rechts wird als umgekehrt.‹« (taz vom 27.1022) Für Aliot hat sich das nicht bezahlt gemacht.

Denn im November wurde Bardella, der in einer Migrantenfamilie in der Banlieue geboren wurde, im Alter von 27 Jahren mit über 84% der knapp 40.000 abgegebenen Mitgliederstimmen zum Parteivorsitzenden des RN gewählt. Aliot verkörpert eher eine national-konservative extreme Rechte, während Bardella eher den Identitären nahesteht. Ihm werden Verbindungen zu militanten faschistischen Gruppierungen (GUD) nachgesagt, die schon bei der Gründung des Front National um Großvater Jean-Marie Le Pen dabei waren, und er griff den Innenminister auf Facebook wiederholt an, als dieser 2021 »Generation identitaire« verbot. Diese Gruppen versuchten, den Kampf gegen die Ehe für alle durch militanten Straßenkampf zu verschärfen.

Offiziell gilt im RN der Begriff des »großen Bevölkerungsaustausches« als geächtet. Bardella hängt gleichwohl diesem Paradigma an: »Ja, es gibt eine demografische Verschiebung, die befürchten lassen könnte, dass Frankreich in einigen Jahren sein Gesicht ändert, und das geschieht schon jetzt.« Anderseits gibt er sich liberal: »Die Ehe für alle ist nun eine Errungenschaft« und verweist seine Gegner auf die Nutzung des Referendums, das der RN einführen will. Außerdem möchte er »Personen, die sich illegal in Frankreich aufhalten, die Sozialhilfe streichen«, und spricht sich für die Zulassung von Cannabis zu therapeutischen Zwecken aus. Bardella erklärte nach seiner Wahl, dass die Partei unter ihm »moderner, weiblicher und professioneller« werden solle, und kündigte die Gründung einer Parteikaderschule.

Bardella erinnerte an die wichtigsten Punkte des RN-Programms, darunter den Kampf gegen die Einwanderung: »Die Menschen in Frankreich sind gezwungen, eine Migrationspolitik zu erdulden, die sie nicht gewählt haben. Frankreich darf nicht das Hotel der Welt sein.« Er wandte sich auch mit einem Augenzwinkern an den rechten Rand der Partei, indem er »ein Frankreich, das aus der Identität ein Schimpfwort machen möchte« geißelte, während seine Verbindungen zu den »Identitären«, die unter anderem Zemmour nahestehen, von seinen Gegnern angeprangert werden.

Steeve Briois, Bürgermeister in der RN-Hochburg Hénin-Beaumont, wurde vom Vorsitzenden nicht mehr ins Exekutivkomitee entsandt und schickte gleich nach der Bekanntgabe der Zusammensetzung des Exekutivbüros eine Erklärung an die Presse, in der er »den Beginn einer Säuberung gegen diejenigen, die die soziale Linie verteidigen«, anprangerte.

Briois, der Aliot unterstützt hatte, sprach von einer »Verengung« der Partei: »Während ich seit vielen Monaten Alarm wegen einer potenziellen ›Reradicalisation‹ schlage, kann ich in meinem Ausschluss nur eine Strafe dafür sehen, dass ich auf ein Phänomen aufmerksam machen wollte, das die Tatsachen bestätigen, angefangen bei der Annahme rechtsgerichteter Positionen, die meiner Meinung nach dem ›Weder rechts noch links‹ widersprechen, das jahrzehntelang im Front National vorherrschte.« Er bedauert, »dass Jahre der Entdiabolisierung zunichte gemacht werden, mit dem einzigen Ziel, einer Minderheit von Wählern zu gefallen, und mit dem Risiko, dass der RN erneut an den Rand gedrängt wird«. Er lehnte auch die Berufung in das nationale Komitee ab, das mit weit weniger Macht ausgestattet ist.

In Bezug auf die bevorstehenden Wahlen hatte der neue RN-Führer Bardella erklärt: »Die Dringlichkeit ist der Wechsel. Das ist unser Ehrgeiz und unsere Aufgabe.« Die Verankerung in der Fläche des provinziellen Frankreich hat sich in den letzten Wahlen bestätigt. Aus dem Kreis der Lokalpolitiker*innen wird indirekt (von rd. 150000 Lokalgrößen) der Senat gewählt und vermutlich einen ersten Erfolg für Bardella zeigen, während das Regierungslager sich durch »Horizons« selbst schwächt und das Schicksal der Republikaner, deren Profil immer weniger von RN zu unterscheiden ist, ungewisser wird, wenn RN die »sozial-nationale Linie« aufgeben sollte und in LR die links-gaullistische Tradition, aber auch die pro-europäische neoliberale Tendenz in die Minderheit geraten.

Da stabil drei Viertel der französischen Wählerschaft glaubt, nicht mehr Herr im eigenen Hause zu sein und dass es zu viel Migration nach Frankreich gäbe, hoffen alle Schattierungen der Rechten, mit diesen Themen Mehrheiten finden zu können. Den Kommunalpolitiker*innen wird in Frankreich traditionell noch das meiste politische Vertrauen entgegengebracht, weil sie noch am nahesten an den Stimmungen des Volkes sind. Der Senat spielt im institutionellen Gefüge eher eine untergeordnete Rolle, sodass linke Parteien Mobilisierungsprobleme für soziale Themen bekommen. Alles deutet also daraufhin, dass sich die Rechtsentwicklung der politischen Parteien im politischen System fortfrisst.

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