29. März 2023 Andrew Fisher: Keir Starmer blockiert Jeremy Corbyn

Die Labour Party abseits innerparteilicher Demokratie

Die Entscheidung des Parteivorstands, Jeremy Corbyn nicht als Labour-Kandidat bei den nächsten Parlamentswahlen antreten zu lassen, ist ein öffentlichkeitswirksames Symbol für den Abbau der innerparteilichen Demokratie. Es ist mehr als nur eine weitere langweilige Episode in der Keir-Starmer-Saga, in der der amtierende Parteivorsitzende seine Partei immer wieder gegen sich aufbringt.[1]

Bereits im Februar hatte Starmer in einer nicht mit den Parteigremien abgestimmten Erklärung gefordert, dass sein Vorgänger Corbyn bei den nächsten Wahlen nicht mehr für die Labour Party kandidieren solle. Nun ist Starmers Wunsch in Erfüllung gegangen, denn mit 22 zu 12 Stimmen unterstützte der Labour-Parteivorstand seinen Antrag, Corbyn daran zu hindern, sein Mandat als Labour-Abgeordneter für Islington North, das er seit 40 Jahren innehat, fortzusetzen.[2]

In dem von Starmer eingebrachten Antrag heißt es, dass die Wahlchancen der Labour Party »erheblich geschmälert würden, wenn Herr Corbyn von der Labour Party als Kandidat für die nächsten Parlamentswahlen unterstützt würde«. Entgegen der Rhetorik, die von Starmers Unterstützern in den Medien verwendet wurde, ist in dem Antrag weder von Antisemitismus noch von Corbyns Antwort an die Kommission für Gleichstellung und Menschenrechte (EHRC) die Rede.

Corbyn wurde 2020 aus der Partei ausgeschlossen, nachdem er nach der Veröffentlichung des EHRC-Berichts über Antisemitismus in der Labour Party eine Erklärung abgegeben hatte.[3] Corbyn hatte erklärt, dass die Empfehlungen des Berichts umgesetzt werden sollten und dass Antisemitismus »verabscheuungswürdig« sei. Seine Bemerkung, dass das Ausmaß des Antisemitismus innerhalb der Labour Party von seinen Gegnern und einem Großteil der Medien »dramatisch übertrieben« worden sei, wurde jedoch als unangemessen betrachtet, und er wurde bis zum Abschluss der Untersuchung suspendiert.

Im November 2020 stimmte der Parteivorstand der Labour Party dafür, Corbyns Suspendierung aufzuheben und ihn wieder als Mitglied aufzunehmen. Corbyn hatte nach der Veröffentlichung des EHRC-Berichts über Antisemitismus erklärt, er bedauere jegliche Verletzungen, die seine Äußerungen verursacht haben könnten. Seine neue Erklärung war von Zurückhaltung geprägt.

Meiner Ansicht nach und wahrscheinlich auch nach Ansicht des Parteivorstands, der ihn wieder aufnahm, wurden seine missverständlichen und später geklärten Äußerungen als Grund für eine Meinungsverschiedenheit und nicht für einen Ausschluss angesehen. Dennoch verweigerte Starmer Corbyn die Mitgliedschaft in der Labour-Fraktion, was bedeutete, dass Corbyn in den letzten zweieinhalb Jahren zwar Mitglied der Labour Party war, aber ohne Zugang zu Fraktionsressourcen als Unabhängiger dem Unterhaus angehört.

Aus Gesprächen mit langjährigen Labour-Mitgliedern in Islington North geht klar hervor, dass sie bei den nächsten Parlamentswahlen Jeremy Corbyn als ihren Kandidaten gewählt hätten. Ihr Wille wurde nun mit Füßen getreten.

Die örtliche Parteiorganisation reagierte sofort auf die Entscheidung des Parteivorstands und zitierte Starmers Versprechen, als er für den Parteivorsitz kandidierte (das wie die meisten seiner Versprechen inzwischen gebrochen wurde), dass nicht der Parteivorstand, sondern  »die Mitglieder der jeweiligen Wahlkreisorganisation ihre Kandidaten für jede Wahl wählen sollten«. Die örtliche Partei erklärte außerdem: »Wir lehnen die ungebührliche Einmischung des Parteivorstands in Islington North ab, die unser Ziel, die Konservativen zu besiegen, untergräbt.«

In welcher Form sich die Parteiorganisation von Islington North gegen die Entscheidung des Parteivorstandes wehren wird, ist noch unklar. Aber sie hat Recht, dass dies eine Ablenkung von der Aufgabe der Labour Party ist, die Konservativen aus der Regierung zu drängen. Statt über das Versagen der Konservativen beim NHS, dem Nationalen Gesundheitsdienst, oder in der Wirtschaft, über ihr abscheuliches Einwanderungsgesetz oder gar über die am selben Tag vorgestellten sozial-ökologischen Reformvorstellungen der Labour Party[4] zu sprechen, sind die Akteure der Labour Party gezwungen, in den Medien über interne Streitigkeiten Auskunft zu geben.

Die Entscheidung wird Labour über die aktuellen Schlagzeilen hinaus erhebliche Probleme bereiten. Mehrere der Labour Party angeschlossene Gewerkschaften haben gegen den Antrag gestimmt, darunter die mitgliederstärkste Gewerkschaft Unite, die Communication Workers Union (CWU), die Lokführergewerkschaft ASLEF, die Gewerkschaft der Feuerwehrleute FBU und die Transportgewerkschaft TSSA. Die zweitgrößte Gewerkschaft Unison lehnte eine Unterstützung ab und enthielt sich der Stimme. Die Finanzierung der Partei durch die Gewerkschaften ist bereits zurückgegangen, und dieser Trend wird sich wahrscheinlich noch verstärken.

Einer der dienstältesten Gewerkschafter im Parteivorstand, der 2015 für Andy Burnham und nicht für Corbyn als Parteivorsitzenden gestimmt hatte, soll in der Sitzung gesagt haben, er habe unter vielen Parteivorsitzenden gedient und sie alle respektiert, und schloss mit den Worten: »Aber vor Ihnen, Starmer, habe ich keinen Respekt.« Starmer saß nur wenige Plätze weiter. Die stellvertretende Parteivorsitzende Angela Rayner war der Sitzung ferngeblieben, um sich von den Spaltungsmanövern des Parteivorsitzenden abzugrenzen.

Ich bin bereits von mehreren Mitgliedern kontaktiert worden, die sagen – und einige haben dies bereits öffentlich erklärt –, dass sie Corbyn unterstützen werden, wenn er sich entscheidet, als Unabhängiger zu kandidieren. Wenn Corbyn sich entscheidet, als Unabhängiger zu kandidieren, befürchte ich, dass die Sektierer, die jetzt die Labour Party führen, Personalressourcen darauf verwenden werden, die sozialen Medien nach Anzeichen von Unterstützung für Corbyn zu durchsuchen, um diejenigen, die zugesagt haben, Corbyn zu unterstützen, auszuschließen.

Ob sich Corbyn für eine unabhängige Kandidatur entscheiden wird, ist unklar. Als hoch angesehener Abgeordneter seines Wahlkreises mit 40 Mandatsjahren, einem landesweiten Profil und einer breiten Anhängerschaft hat er jedoch bessere Chancen als sonst andere unabhängige Kandidaten, das Mandat eines Wahlkreises zu gewinnen.

Starmers doppelzüngiges Sektierertum wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Labour Party noch mehr Mitglieder verliert, weniger Gewerkschaftsgelder erhält und, falls Corbyn als Unabhängiger kandidiert, bei den nächsten Wahlen mehr Parteiressourcen für den Kampf um einen eigentlich sicheren Labour-Sitz aufwenden muss. Bizarrerweise und für Labour zudem kontraproduktiv könnte dies auch dazu führen, dass Corbyn bei dieser Wahl ein viel größeres Profil erhält, als er es als einfacher Hinterbänkler der Labour Party gehabt hätte.

Was ist aus jenem Keir Starmer geworden, der bei seiner Kandidatur für den Parteivorsitz Jeremy Corbyn als »Kollegen und Freund« bezeichnete, »dessen Erbe« er weiterführen wolle? Viele Labour-Mitglieder wissen, dass das eine Lüge war. Das vielleicht größte Problem für Starmer wird sein, wenn die Öffentlichkeit realisiert, dass er vor einer Wahl das eine sagt, und danach etwas anderes.

Andrew Fisher war von 2016 bis 2019 Executive Director of Policy bei der Labour Party. Bei den Parlamentswahlen 2017 und 2019 koordinierte er die Arbeit am Wahlprogramm der Partei. Der hier dokumentierte, leicht bearbeitete Beitrag erschien zuerst am 28.3.2023 unter dem Titel If Jeremy Corbyn stands as an independent, Keir Starmer will feel the full force of his mistake in seiner Kolumne in der Londoner Tageszeitung The i (i-news) (Übersetzung: Hinrich Kuhls).

Anmerkungen:

[1] Vgl. Andrew Fisher: Keir Starmers wirtschaftspolitische Non-Agenda. Orientierungslose Führung der Labour Party, Sozialismus.de Aktuell, 28.7.2022.
[2] Vgl. Faye Brown: Jeremy Corbyn accuses Labour of 'shameful attack' after he is blocked from standing for party, Sky News, 28.3.2023.
[3] Vgl. Hinrich Kuhls: Bürgerkrieg in der Labour Party. Jeremy Corbyns Suspendierung, Sozialismus.de Aktuell, 2.11.2020.
[4] Vgl. Pippa Crerar: Labour urges ministers to show ›ambition‹ as it recasts green growth plan, The Guardian, 28.3.2023.

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