28. Juli 2023 Andrew Fisher: Fazit nach drei Nachwahlen in England
Die Labour Party im Realitätstest
In den Nachwehen von drei Nachwahlen zum Unterhaus hat sich die Labour Party auf ihr gewohntes Terrain der Streitereien und Selbstgeißelungen begeben. Dieses Mal wendet sich die dominierende Rechte der Partei gegen Sadiq Khan, den Mitte-Links-Bürgermeister von London.
Die Parteiführung macht Khan für die Niederlage der Labour Party im Londoner Außenbezirk Uxbridge und South Ruislip verantwortlich, weil er die Umweltzone (Ultra-Low Emission Zone – ULEZ), in der für die Nutzung umweltschädlicher Fahrzeuge Gebühren erhoben werden, von den innerstädtischen Bezirken auf den gesamten Großraum London ausweiten will. Der Wahlkreis, in dem wegen des unrühmlichen Abgangs des ehemaligen Premierministers Boris Johnson neu gewählt werden musste, war aber auch zuvor noch nie von Labour gewonnen worden.
Dieser panische politische Rückzug der Parteiführung, der die eigenen Ambitionen und Koalitionsaussichten schmälert, wird Labour noch teuer zu stehen kommen – wenn nicht vor, dann nach den Parlamentswahlen.
Am selben Tag errang die Labour Party bei der Nachwahl im Wahlkreis Selby and Ainsty in North Yorkshire in Nordengland einen überwältigenden Sieg. Diesen Wahlkreis hatten die Konservativen seit seiner Neueinteilung im Jahr 2010 stets mit mehr als 10.000 Stimmen Vorsprung gewonnen.
Bei der dritten Nachwahl im Wahlkreis Somerton und Frome im Südwesten Englands kam die Labour Party auf den fünften Platz. Aber hier konnten die Liberaldemokraten den Konservativen einen Sitz abnehmen, wie schon in früheren Nachwahlen in Regionen, in denen die Labour Party traditionell schwach ist. Auch das ist eine gute Nachricht für die Labour Party – und macht es umso wahrscheinlicher, dass sie aus den nächsten allgemeinen Wahlen als stärkste Partei hervorgeht. Selbst im Wahlkreis Uxbridge und South Ruislip, der nun für viel Unmut sorgt, verfehlte sie den Sieg nur knapp um 495 Stimmen und erreichte einen positiven Swing von 7%.
Für die Tories war es von Anfang an eine gewaltige Aufgabe, sich auf eine Nachwahl zu fokussieren, die durch Johnsons Skandale und Gesetzesverstöße und seinen anschließenden Rücktritt ausgelöst worden war, und das mit einer Regierung, die den längsten und tiefsten Rückgang des Lebensstandards seit den 1950er-Jahren zu verantworten hat. Alles, was Labour hätte tun müssen, wäre gewesen, wie Ronald Reagan 1980 die Frage zu stellen: »Are you better off?«
Die Kampagne der Konservativen wurde von ihrem Generalsekretär Greg Hands geleitet, der geschickt auf das aktuelle Kernthema in den Londoner Außenbezirken einging: die Ausweitung des ULEZ-Zone durch den Labour-Bürgermeister.
Die Frage hätte also lauten müssen: Was ist wichtiger: eine Umweltschutzmaßnahme, die nur einen von zehn Autofahrern betrifft (und auf die der Wahlkreisabgeordnete keinen Einfluss hat), oder eine unpopuläre, skandalumwitterte Regierung, die die schlechteste Wirtschaftsbilanz vorlegt, mit der die Wähler*innen jemals konfrontiert worden sind.
Eigentlich hätte es einen K.O.-Sieg in der ersten Runde geben müssen. Aber der Kandidat der Labour Party gab der Tory-Kampagne Anfang Juli Auftrieb, indem er sich gegen die Ausweitung der Umweltzone aussprach und damit zum Ausdruck brachte, dass »die Tories hier richtig liegen«.
Eine wichtige Regel im Wahlkampf ist, das Framing des Gegners nicht zu legitimieren. Wenn beide Kandidaten sagen, dass die Ausweitung der Umweltzone ein Problem ist, für welchen Kandidaten werden sich die Wähler*innen entscheiden – für denjenigen, der sich konsequent dagegen ausgesprochen hat, oder für denjenigen, der dies halbherzig und ohne Überzeugung erst nach einer Wende mitten im Wahlkampf sagt?
Wie die meisten Londoner Außenbezirke tendiert auch Uxbridge seit geraumer Zeit zu Labour. Eine konservative Mehrheit von 11.000 Stimmen im Jahr 2010, als der Wahlkreis in seiner heutigen Form geschaffen wurde, schrumpfte auf 10.000 im Jahr 2015 und halbierte sich auf 5.000 im Jahr 2017. Selbst bei der Brexit-Wahl 2019 erzielten die Tories nur eine Mehrheit von 7.000 Stimmen.
Die Verringerung der Differenz auf 495 Stimmen mag ein gutes Ergebnis sein. Aber die Veränderung des Stimmenverhältnisses zwischen Tories und Labour, der »Swing«, betrug nur 7% zugunsten der Labour Party, obwohl er laut landesweiten Umfragen mindestens doppelt so hoch hätte sein müssen – und in derselben Nacht gewann Labour in Selby und Ainsty mit einem Swing von 24% und zertrümmerte damit den Vorsprung von 20.000 Stimmen, den die Konservativen bei der Brexit-Wahl 2019 gewonnen hatten.
Werfen wir noch einen genaueren Blick auf die Zahlen, wobei die – wie bei Nachwahlen übliche – geringere Wahlbeteiligung zu berücksichtigen ist, die dieses Mal bei rund 45% lag. In Selby erhielt der Labour-Kandidat und neue Abgeordnete Keir Mather 2.600 Stimmen mehr als der Labour-Kandidat 2019. In Uxbridge wurden für den Labour-Kandidaten Danny Beales (Ratsmitglied im Londoner Stadtbezirk Camden) fast 5.000 Stimmen weniger abgegeben als für Ali Milani (Mitglied im örtlichen Gemeinderat) im Jahr 2019.
Opportunismus statt transformativer Programmatik
Trotz des starken und konstanten Umfragevorsprungs der Labour Party auf nationaler Ebene ist Uxbridge eine Warnung an die Labour Party, dass die Partei weiterhin Schwachstellen hat. Der solide Umfragevorsprung ist auf die Abneigung gegen die Konservativen zurückzuführen, Labour ist lediglich ein passives Auffangbecken für die Anti-Tory-Stimmung.
Der Vorsitzende der Labour Party, Keir Starmer, ist nicht sehr beliebt, seine Zustimmungswerte liegen im negativen Bereich (-14%). Damit liegt er zwar derzeit besser als Premierminister Rishi Sunak (-26%), aber der Abstand ist geringer als in den Umfragen für die Parteien und stellt eine schwache Ausgangsbasis dar. Dies zeigt, dass die Labour Party nicht auf festem Boden steht, um einem Aufschwung der Tories zu widerstehen, wenn sie sich in den kommenden Monaten besser positionieren können.
In einem Mehrheitswahlsystem dominieren die beiden großen Parteien, indem sie interne Koalitionen bilden, aber Labour zerfällt als Partei. Eine wachsende Gruppe von Labour-Wähler*innen zieht es in Betracht, die Grünen zu wählen – fast die Hälfte derjenigen, die 2019 für Labour gestimmt haben, gaben an, dass sie möglicherweise die Grünen wählen würden, so die Analyse von Daten aus dem British Election Survey durch die Wahlforscherin Paula Sturridge. Insofern sind die Nachwahlen ein Menetekel: In Uxbridge gewannen die Grünen 893 Stimmen, während Labour 495 Stimmen verlor.
Ich habe schon früher geschrieben, dass die Grünen von Labour als Bedrohung für die nächsten Wahlen unterschätzt werden. Je mehr Labour sein Engagement für die Umwelt verwässert und sich gegen Maßnahmen wie die Ausweitung von Umweltschutzzonen ausspricht – Maßnahmen, die im von Labour dominierten London von einer Mehrheit der Bürger*innen unterstützt werden – desto mehr Wähler*innen könnten sich anderswo umsehen.
Abseits der Rhetorik der Panikmacher in der Labour Party und der Klimaleugner bei den Tories zeigen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts More in Common, dass 50% der Wähler*innen der Meinung sind, die Regierung tue nicht genug gegen den Klimawandel, und nur 12% glauben, sie tue zu viel. Selbst unter den Wähler*innen, die 2019 die Konservativen gewählt haben, liegen die Zahlen bei 37% bzw. 18%.
Nimmt man hinzu, dass die Labour Party bei der Bekämpfung der Kinderarmut zurückgerudert ist, ihr Versprechen zur Abschaffung der Studiengebühren aufgegeben und ihre Zusagen zu Sicherung von Arbeitnehmerrechten verwässert hat, was ihr den massiven Protest der Gewerkschaft Unite eingebracht hat, dann zeigt sich, dass sich ein deutliches, nicht fest an Parteien gebundenes Reservoir von Wähler*innen entwickelt hat, die sich um den Klimawandel und soziale Gerechtigkeit sorgen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die Labour-Führung politisch nach rechts gerückt ist. Aber auch wenn dies zum Teil ideologisch bedingt ist, so ist es doch auch auf die Politik des Starmer-Projekts zurückzuführen, die im Stil einer von oben nach unten gerichteten Managerpolitik betrieben wird. Starmer selbst sagte den Delegierten auf dem National Policy Forum der Labour Party am vorletzten Juliwochenende: »Wir machen etwas falsch, wenn die Politik der Labour Party auf jedem Flugblatt der Tories auftaucht.«
Dies zeigt, dass es dem Parteivorsitzenden an Selbstvertrauen mangelt, wenn es darum geht, politische Vorschläge mit Argumenten zu gewinnen und für etwas zu kämpfen, an das er glaubt. Für ihn ist jede Kritik von Seiten der Medien oder der Tories etwas Negatives – und keine Herausforderung, die es anzunehmen und zu bekämpfen gilt.
Diese erbärmliche Kapitulationsstrategie wird wahrscheinlich ausreichen, um die nächsten Wahlen zu gewinnen, aber nur, weil die Umfragewerte für die Tories so schlecht sind. Das Problem für die Labour Party ist, dass sie zwar den Krieg gewinnen kann, aber nicht den Frieden.
Nach den nächsten Wahlen wird Labour eine Vielzahl von Krisen erben – ökonomische, soziale, klimatische und die des öffentlichen Sektors – und die Partei ist nicht darauf vorbereitet, auch nur eine davon zu bewältigen. Ob vor oder nach den nächsten Wahlen, die Realität wird ihren Tribut fordern.
Andrew Fisher war von 2016 bis 2019 Executive Director of Policy bei der Labour Party. Bei den Parlamentswahlen 2017 und 2019 koordinierte er die Arbeit am Wahlprogramm der Partei. Der hier dokumentierte, leicht bearbeitete Beitrag erschien zuerst am 24.7.2023 unter dem Titel »The Labour Party is squabbling again – and it’s the Greens who will benefit« in seiner Kolumne in der Londoner Tageszeitung The i (i-news) (Übersetzung: Hinrich Kuhls).