9. Juli 2024 Redaktion Sozialismus.de: Wahlen zur Nationalversammlung in Frankreich

Die Linke blockiert den Durchmarsch der Rechten

Bei den französischen Parlamentswahlen ist das linke Parteibündnis Nouveau Front populaire (NFP) überraschend auf dem ersten Platz gelandet. Das Bündnis, zu dem sich die vier größten linken Parteien zusammengeschlossen haben, kommt in der neuen Nationalversammlung auf 180 Sitze.

In der Stichwahl gewann damit NFP am meisten Sitze, vor dem Bündnis rund um Präsident Emmanuel Macrons Mitte-Lager »Ensemble«, das in der neuen Nationalversammlung 163 Sitze belegen wird – deutlich mehr, als man erwartet hatte. Das Rechtsbündnis um das Rassemblement national (RN) landete auf dem dritten Platz und verfehlte deutlich die angestrebte absolute Mehrheit von 289 Sitzen, obwohl es auch im zweiten Wahlgang mit 37,1% die meisten Stimmen erhielt. Das reichte nur für 143 Sitze.

Der Nouveau Front populaire ist ein Bündnis, deren Forderungen von gemäßigt reformerisch bis radikal transformatorisch gehen, also mit unterschiedlicher Reichweite in der Veränderung der kapitalistischen Gesellschaft. Im Vorfeld der Wahlen wurden die programmatischen Überlegungen in einer gemeinsamen Erklärung wie folgt umrissen: »Wir wollen ein Programm des sozialen und ökologischen Bruchs unterstützen, um eine Alternative zu Emmanuel Macron aufzubauen und das rassistische Projekt der extremen Rechten zu bekämpfen.« (Siehe auch den Beitrag von Bernhard Sander auf Sozialismus.deNews vom 13.6.2024.) La France insoumise um Jean-Luc Mélenchon stellt mit 71 Vertreter*innen die größte Gruppe innerhalb des NFP.

Der RN ist eine rechtsextreme und europaskeptische Partei, die sich selbst seit einigen Jahren als »weder rechts noch links« sowie als »patriotisch«, »populistisch« und »souveränistisch« definiert und sich dabei rechtsextremer Programmelemente  bedient. Die gesellschaftlichen Widersprüche sollen durch eine Begrenzung und Rückführung der Migration sowie eine Ausrichtung der sozialpolitischen Verteilung auf einen Vorrang für französische Staatsbürger*innen umgesetzt werden. Parteivorsitzender war ursprünglich von 1972 bis 2011 Jean-Marie Le Pen, gefolgt bis 2022 von seiner Tochter Marine Le Pen, die seither eine Politik der »Entdämonisierung« verfolgt hat. Seit November 2022 ist Jordan Bardella der Parteivorsitzende.

Der Rassemblement national hat sein Ziel, die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen, klar verfehlt. Noch nach dem ersten Wahlgang am 30. Juni hatte die Partei mit 33,2% der Stimmen vorne gelegen, NFP und Ensemble belegten mit 28% bzw. 20% die nachfolgenden Plätze. Der erste Grund für die erfolgreiche Blockierung der französischen Rechten war zunächst die hohe Wahlbeteiligung.  67% der Wahlberechtigten gingen an die Urnen, die höchste Quote seit 1997. Beim ersten Wahlgang hatte die Wahlbeteiligung 66,7% betragen.

Der zweite Grund lag vor allem daran, dass sich die Mitteparteien und das Linksbündnis Absprachen getroffen haben, um nach dem Rechtsruck in der ersten Runde einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Im ersten Wahldurchgang hatten sich in über 300 der 577 Wahlkreise drei oder sogar vier Kandidat*innen für die zweite Runde qualifiziert. In 297 Wahlkreisen war das Rechtsbündnis aus RN und seinen Verbündeten stärkste Kraft. Um eine Aufspaltung der Stimmen zugunsten des RN zu verhindern, verzichteten über 200 Kandidat*innen der Linken und des Mitte-Lagers auf eine Teilnahme im zweiten Wahlgang.

Auch wenn der Rassemblement national nicht stärkste Kraft geworden ist, ist die Partei von Marine Le Pen in der Nationalversammlung stärker denn je vertreten. Damit wächst der Einfluss der Partei in der Parlamentsarbeit und sie erhält mehr Geld aus der Parteienfinanzierung, mit dem sie bereits die Vorbereitung der Präsidentenwahl 2027 und der spätestens dann auch anstehenden nächsten Parlamentswahl vorbereiten kann.

Marine Le Pen sieht den Sieg des RN daher nur vertagt. Heute seien die Samen für den Erfolg von morgen gesät worden. Staatschef Macrons Position sei jetzt schon unhaltbar. Sie könnte Recht behalten, wenn es nicht zu einer umfassenden Reformpolitik bei einer sicherlich komplizierten Regierungsbildung kommt.


Unklare Zukunft für Frankreich

Das Land steht aktuell vor einem politischen Patt. Die Neue Volksfront fuhr zwar bei der Stichwahl den Sieg ein, verfehlte eine absolute Mehrheit aber deutlich. Ohne diese für ein Lager im Parlament gilt eine Regierungsbildung als schwierig, auch weil Koalitionen in Frankreich weitgehend unbekannt sind. Wie es weitergeht, ist also vorerst unklar.

Für die ersten 15 Tage nach einer Regierungsübernahme hatte sich die Neue Volksfront die Beseitigung der größten Ärgernisse in der französischen Gesellschaft zum Ziel gesetzt: Rücknahme der Rentenreform, eine Erhöhung der Altersrenten, Wohngelderhöhungen, Preisgarantien für Bauern und das Einfrieren der Preise für Energie und Nahrungsmittel.

Da dies erhebliche Mittel erfordert, wurden für die nächsten 100 Tage u.a. Steuererhöhungen für höhere Einkommen und Vermögen, eine Ausdehnung des öffentlichen Dienstes und eine Unterstützung von energetischen Maßnahmen gefordert. Die Sprecher der Volksfront haben die Kosten dieser Maßnahmen in den ersten beiden Jahren auf insgesamt 125 Mrd. Euro geschätzt. Dass sie alle so umgesetzt werden, war eher unrealistisch und sollte die Richtung der Eingriffe signalisieren.

Sollte es wider Erwarten zu einer Regierungsbildung unter Mélenchon kommen, bewerten etliche Ökonomen das als negativ für die EU. Dieser würde das Regelwerk der Union wie etwa den Stabilitäts- und Wachstumspakt konsequent ignorieren und Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft der EU eher zu einem destabilisierenden Faktor werden. Der französische Haushalt sei mit einem Defizit von über 5% schon jetzt nicht EU-konform. Ihre Befürchtung zudem: Auch der Euro könnte langfristig gegenüber dem US-Dollar verlieren. Dies ist sicherlich ein interessiertes Worst-Case-Szenario. Richtig bleibt, dass Frankreich insgesamt ökonomisch, sozial und mit Blick auf den Reform- und Investitionsbedarf in einer politisch verfahrenen Situation steckt.

Sozialistenchef Olivier Faure sprach sich gegen eine mögliche Koalition mit dem bisherigen Regierungslager aus: »Die Neue Volksfront muss diese neue Seite unserer Geschichte in die Hand nehmen.« Das Bündnis habe eine immense Verantwortung. Faure betonte, dass die Rentenreform, die das Rentenalter auf 64 Jahre angehoben hatte, abgeschafft werden solle. Es sei zudem »an der Zeit, die Superreichen und die Supergewinne zu besteuern«.

Frankreichs Premierminister Gabriel Attal bleibt trotz der Wahlniederlage des Regierungslagers bei der Parlamentswahl im Amt, Präsident hatte dessen Rücktrittsgesuch »vorerst« abgelehnt und ihn gebeten, im Amt zu bleiben, um »die Stabilität des Landes zu sicher zu stellen« – auch mit Blick auf die Olympischen Spiele, die am 26. Juli in Paris beginnen.

Die politische Herausforderung besteht darin, in absehbarer Zeit eine handlungsfähige Regierung zu finden, die praktische politische Ergebnisse liefert und der fortschreitenden Polarisierung in der französischen Gesellschaft entgegenwirkt. Noch ist schwer vorstellbar, dass aus diesem Wahlergebnis Kompromisse hervorgehen können.

Gleichwohl ist das Wahlergebnis gut für die demokratische Linke in Frankreich, weil es zeigt, dass es eben doch eine Alternative zum System »Macron gegen die Rechtsextremen« gibt. Der Präsident muss jetzt mit neuen Kräften zusammenarbeiten, die es ihm aufgrund der Zersplitterung der Nationalversammlung nicht leicht machen werden. Sofern Macron nicht auf die bisherige linke Opposition eingehen, droht eine politische Blockade, die auch sein weiteres Auftreten auf der internationalen Bühne beeinträchtigen dürfte.

Sollte keine Koalitionsregierung zustande kommen, gäbe es die Möglichkeit, dass die aktuelle Regierung geschäftsführend im Amt bleibt. Diese Übergangszeit kann etliche Wochen dauern. Macron könnte dann eine » Expertenregierung« aus hohen Verwaltungskräften und Ökonomen bilden. So oder so würde Frankreich politisches Neuland betreten. Eine erneute Auflösung des Parlaments und Neuwahlen sind erst in einem Jahr wieder möglich.

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