14. Oktober 2017 Joachim Bischoff / Björn Radke

Die Linkspartei nach der Bundestagwahl

Bei der Bundestagswahl am 24. September hat die Linkspartei 9,2% der Zweitstimmen bekommen, das waren 0,6 Prozentpunkte mehr als bei der Wahl vier Jahre zuvor. Als eine Konsequenz aus den Stimmverlusten in Ostdeutschland und dem starken Abschneiden der rechtspopulistischen AfD plant die Linksfraktion im Bundestag die Gründung einer Landesgruppe Ost.

Seine Partei habe einen Teil der ProtestwählerInnen nicht mehr an sich binden können, sagte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch. Deren Sorgen müssten ernst genommen werden. »Ich unterstütze diejenigen, die eine Landesgruppe Ost in der Bundestagsfraktion bilden wollen.«

Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei in Saarbrücken, Oskar Lafontaine, zieht aus dem Wahlergebnis eine weitere Schlussfolgerung: Die Flüchtlingspolitik der Linkspartei sei »verfehlt« gewesen. Auch die Linke habe – ebenso wie alle anderen bisherigen Bundestagsparteien – »bei ihren Antworten auf die weltweite Flüchtlingsproblematik das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt«. Man dürfe »die Lasten der Zuwanderung über verschärfte Konkurrenz im Niedriglohnsektor, steigende Mieten in Stadtteilen mit preiswertem Wohnraum und zunehmende Schwierigkeiten in Schulen mit wachsendem Anteil von Schülern mit mangelnden Sprachkenntnissen nicht vor allem denen aufbürden, die ohnehin bereits die Verlierer der steigenden Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen sind«.[1]

Dieser These widerspricht Stephan Lessenich vehement und setzt entgegen, »dass sich in der ›Flüchtlingspolitik‹ Strukturprobleme eines Gemeinwesens spiegeln und bündeln, das seine sozialen Infrastrukturen geschliffen und die Güter der öffentlichen Grundversorgung zu Waren erklärt hat, das Bildung nach wie vor als Privileg der gebildeten Klassen behandelt und politische Mitbestimmung vor allem für die sozial Bessergestellten bereithält«.[2] Ungeklärt bleibt, ob die vermeintliche Suspendierung der Kernforderung nach sozialer Gerechtigkeit für dieses Wahlergebnis wirklich ausschlaggebend war.

Der Parteivorsitzende Bernd Riexinger unterstreicht hingegen die positive Reaktion von Links auf die Zäsur in der Bundesrepublik.[3] DIE LINKE dürfe nicht den Blick vor der Gefahr verschließen, die damit verbunden ist, dass die rechtsextreme AfD bei Teilen der ArbeiterInnen und Erwerbslosen starken Zuspruch finde. Dies habe viel mit den Alltagserfahrungen von prekärer Arbeit zu tun, mit dem Gefühl, zu denen zu gehören, die »zu kurz« gekommen sind und dem Bemühen, die eigene Position in einer von Konkurrenzdruck geprägten »Abstiegsgesellschaft« und einer Welt im Umbruch zu verteidigen. DIE LINKE müsse in allen relevanten Fragen rechte Deutungsmuster kritisieren und gleichzeitig klar verständliche linke Alternativen aufzuzeigen.

Horst Kahrs[4] von der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist skeptisch gegenüber der These, dass die Abgehängten oder Modernisierungsverlierer der Schlüssel für das Glanzresultat der AfD seien: Der Erfolg der AfD ließe sich nur sehr begrenzt sozio-ökonomisch mit »Verlierern« und »Abgehängten« erklären. Er offenbare vielmehr das Dilemma des kulturellen und sozialen Konservatismus, der keineswegs auf die Union begrenzt ist. Die Dynamik der (transnationalen) kapitalistisch getriebenen Veränderung führe zu Veränderungen in der Arbeitswelt, in der Lebenswelt, in den sozialstaatlichen Institutionen und fordert entsprechende Anpassungsprozesse.

Beide Anpassungsprozesse behaupteten sich als »alternativlos«, was den Eindruck mangelnden Gestaltungswillens der politischen Parteien vertiefte. Viele fühlten sich mit ihren Vorstellungen vom guten Leben nicht nur vom Lauf der Dinge entwertet, sondern auch von ihren politischen Vertretern verraten. Statt von »Verlierern« der Modernisierung oder »Abgehängten« müsse man eher von »neuen Minderheiten« sprechen.

Wir plädieren in den nachfolgenden Thesen für eine umfassende und selbstkritische Wahlanalyse des Rechtstrends und eine Ausweitung des Blickwinkels über die Flüchtlingsfrage hinaus. Die Linke muss verstehen, welche Bedeutung die Ressentiments gegenüber Flüchtlingen für die AfD-Wählenden hatten.

1. Ähnlich wie in den europäischen Nachbarländern haben die Bundestagswahlen insgesamt eine unübersehbare Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse nach rechts sichtbar gemacht. Nach der Bestätigung einer konservativ-rechtspopulistischen Regierungskoalition in Norwegen müssen wir mit entsprechenden Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in Österreich, Tschechien und Anfang 2018 in Italien rechnen. Der Aufstieg der AfD ist keine bundesdeutsche Besonderheit.

2. Die beiden Koalitionsparteien CDU/CSU und SPD haben deutliche Einbußen zu verzeichnen. Die CDU/CSU hatte keine Chance mehr, das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 von 41,5 % zu halten. Die Unionsparteien haben 8,6% von der Wählerschaft verloren und das schlechteste Wahlresultat seit 1949 eingefahren. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland schaffte mit 12,6% locker den Einzug in den Bundestag. Die Rückkehr der wirtschaftsliberalen FDP auf die politische Bühne läuft auf eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit durch weitere Deregulierung sozialstaatlicher Regulierungen und Privatisierungen hinaus.

3. Dass die CSU in Bayern bei der Bundestagswahl mehr als 10% verloren hat, löste bei der Partei Existenzängste aus. Tief verwurzelt ist die Überzeugung, dass der Hauptgrund für die Verluste die Flüchtlingspolitik war. Der auf Franz Josef Strauß, langjähriger Vorsitzende der CSU, zurückgehende Leitsatz, wonach rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Partei sein dürfe, ist Makulatur. In ihrem 10-Punkte-Plan proklamiert die bayrische Staatspartei daher: Die AfD sei keine Alternative für Deutschland, »sondern eine Alternative zur NPD«. Sie müsse deshalb »knallhart« bekämpft werden.

4. Nicht nur die deutsche, sondern die europäische Sozialdemokratie steckt in einer tiefen Krise. Ihr chronischer Niedergang ist kein vorübergehender oder einfach umzukehrender Wahltrend. Mit dem dramatischen und äußerst innovativen Strukturwandel der Wirtschaft, die in den meisten europäischen Ländern den Industrieanteil auf nur noch 10% bis 20% der Wirtschaftsleistung gedrückt hat, ist der Sozialdemokratie ihr soziales Milieu – also ihre Kern-Anhängerschaft – zum Großteil verloren gegangen. Es gelang ihr nicht, die wegbrechenden Existenzgrundlagen durch neue Ideen und Projekte mit ähnlicher Anziehungskraft zu ersetzen. Die Folge ist die stete Erosion ihrer Wählerschaft und ihrer Machtbasis.

5. Die sozialstaatliche Modernisierung des Kapitalismus war lange Zeit das Markenzeichen von SPD und der europäischen Sozialdemokratie insgesamt. Die Veränderungen innerhalb der arbeitenden Klasse beförderten die Illusionen der neuen Mitte. Der Versuch der europäischen Sozialdemokratie, mit einer gemäßigten Deregulierung, Privatisierung und Eigentumspolitik in Absetzung von den sozialdemokratischen Grundwerten einen dritten Weg bei der Gestaltung des Kapitalismus durchzusetzen, ging gründlich schief. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu deren partiellen Entwertung und zu einem Zuwachs prekärer Arbeitsverhältnisse. Die SPD verliert sich bei ihren Alternativen in vielen kleinen Änderungsvorschlägen und verfügt über keine gesellschaftspolitische Gesamtkonzeption.

6. In der Linkspartei wird vielfach – auch mit Blick auf die Diskussion in anderen Parteien – die Flüchtlingspolitik in das Zentrum der Ursachenanalyse gerückt. Selbstverständlich muss diesem Faktor Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aber das Phänomen des Aufstiegs des Rechtspopulismus ist unseres Erachtens komplizierter. Ein Argument des Rechtsextremismus-Forschers Wilhelm Heitmeyer soll dies verdeutlichen: »Bereits 2002 konnten wir feststellen, dass etwa 20% der Bevölkerung rechtspopulistisch eingestellt sind.« Das Unterlegenheitsgefühl und ihre wutgedrängte Apathie sind nicht neu. Wir müssen uns darum kümmern, warum dies neuerdings eine politische Adresse findet.

7. Die Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft nach rechts erfordert eine umfassende gesamtgesellschaftliche Analyse und sollte nicht nur auf die AfD ausgerichtet sein. Eine vertiefte Analyse und Kritik des globalen Kapitalismus sollte angestrebt werden, denn mit der Politik des »America first« und dem britischen Austritt aus der EU wird die Auflösung der Nachkriegsordnung zunehmen. Die europäischen Länder kommen nicht umhin zu akzeptieren, dass mit Trump und dem Brexit eine politische und soziale Zeitenwende eingeleitet wurde. Gefordert ist eine selbstkritische Analyse, in der die Widersprüche in der Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Flüchtlingspolitik aufgearbeitet werden, und im breiten gesellschaftlichen Diskurs eine Verständigung auf eine eigenständige europäische Alternative verfolgt wird.

8. Der Aufwärtstrend des Rechtspopulismus ist aus unserer Sicht Resultat mehrerer Faktoren: Die Fluchtbewegung nach Deutschland oder Österreich hatte dabei eine Katalysatorfunktion, hat zugrunde liegende Faktoren verstärkt. Die Grundkonstellation ist die aufgestaute immense Wut eines Teils der Bevölkerung, die längst vor der verstärkten Fluchtbewegung ausgebildet war und nicht nur die BRD erfasste. Der Rechtspopulismus ist eine Reaktion auf die Krisenkonstellation in den finanzmarktdominierten kapitalistischen Gesellschaften. Mit der Ausweitung der Zahl der Zufluchtsuchenden im Spätsommer 2015 nach Deutschland und Teilen Europas erhielt die fremdenfeindliche Ausrichtung der AfD zusätzlichen Auftrieb. Gleichzeitig blieb die Kritik am Establishment, die Europa-Kritik und die Ablehnung des Multikulturalismus zentral. Neben der Abwehr von den als fremdbestimmt ausgemachten supranationalen europäischen Institutionen zielt die Argumentation der Rechten auf eine Ablehnung der »Islamisierung des Abendlandes«.

9. Die wachsende soziale Polarisierung, das Gefühl, dass sich die individuellen Anstrengungen nicht mehr lohnen und die Zukunftsperspektiven der Kinder verbaut sind, sowie der Eindruck, dass die politische Klasse sich darum nicht kümmert, sind Gründe für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Gesellschaftliche Basis ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl chronischer Ohnmacht gegenüber erlittener Benachteiligung zugrunde. Die Mobilisierung der Rechtspopulisten ist allerdings auch 2017 immer noch begrenzt und bei guter und glaubwürdiger sozialer Politik in Deutschland und Europa einzudämmen.

10. Die Wahlergebnisse interpretieren wir so, dass Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit für einen großen Teil der WählerInnen nach wie vor ein zentrales Thema sind. Obwohl eine deutliche Mehrheit der Befragten sagt, dass es ihnen gut gehe, sorgen sie sich um soziale Gerechtigkeit. Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit in der »Berliner Republik« geht im Kern auf die politisch verursachte Entwertung und Entgrenzung der Lohnarbeit zurück (neben Mieten, Renten etc.). Die Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Umbau der sozialen Sicherungssysteme führen zu deren partiellen Entwertung und zu einem Zuwachs ungeschützter und tariffreier Arbeitsverhältnisse. Die SPD verliert sich bei ihren Alternativen in vielen kleinen Änderungsvorschlägen und verfügt über keine gesellschaftspolitische Gesamtkonzeption. Eine ähnliche Schwäche zeigt auch die Linkspartei.

11. Sollte die SPD die Kraft haben, in der Opposition (die von der Parteibasis getragen wird) Ansätze zu einer Erneuerung zu gehen, läge darin auch eine Chance, die bisher durch die deutsche Sozialdemokratie blockierte Erneuerung der europäischen Sozialdemokratie in Angriff zu nehmen. Etwas euphemistisch formuliert: Jeremy Corbyn und die britische Labour Partei würden kontinentale Bündnispartner gewinnen.

Damit könnte die aufgrund der realen Entwicklungen bereits ins Wanken geratene Doktrin, es gehe vor allem ums Sparen, um den Staatshaushalt ins Gleichgewicht zu bringen, endgültig beiseitegeschoben werden. Es geht um Zukunftsinvestitionen unter staatlicher Regie von der Infrastruktur über Schul- und Gesundheitswesen, Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns bis zum Sozialwohnungsbau.

[1] Oskar Lafontaine, Wenn Flüchtlingspolitik soziale Gerechtigkeit außer Kraft setzt, in: Neues Deutschland 27.9.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065077.wenn-fluechtlingspolitik-soziale-gerechtigkeit-ausser-kraft-setzt.html.
[2] Stephan Lessenich, Der Rassismus im lafonknechtschen Wagentainment, in: Neues Deutschland 11.10.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066535.der-rassismus-im-lafonknechtschen-wagentainment.html.
[3] Bernd Riexinger, Gegen die Haltung »Deutsche zuerst«, in: Neues Deutschland 29.9.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1065346.gegen-die-haltung-deutsche-zuerst.html.
[4] Horst Kahrs, Wenn die bekannte Welt »verdampft«, in: Neues Deutschland 9.10.2017; https://www.neues-deutschland.de/artikel/1066112.wenn-die-bekannte-welt-verdampft.html?sstr=Horst|Kahrs.

Zurück