21. März 2019 Bernhard Sander

Die Niederlande weiter nach rechts

Kampagnen-Portrait von Thierry Baudet von der rechtspopulistischen Partei Forum für Demokratie (FvD), die bei den niederländischen Regionalwahlen als großer Gewinner hervorging.Bild:APA/AFP/ANP/BART MAAT

Die Provinzialwahlen in den Niederlanden können als Stimmungstest für die EU-Parlamentswahlen Ende Mai gelten. Neuer Star unter den jetzt 12 parlamentarisch vertretenen Parteien der NL ist das rechte Forum für Demokratie (FvD).

56% der wahlberechtigten Niederländer*innen – und damit gut 10% mehr als bei den Wahlen 2015 – haben sich an den Provinzialwahlen beteiligt. Dabei das FvD aus dem Stand heraus die meisten Stimmen auf sich hat vereinigen können. Zwar wird die FvD-Fraktion aller Voraussicht nach ebenso groß sein wie die VVD-Fraktion, dennoch hat die erst 2016 gegründete Partei mehr Stimmen gewinnen können. Das FvD ist damit der klare Sieger des Wahlabends. Vor allem ehemalige VVD- und PVV-Wähler haben gestern ihr Kreuzchen beim nationalistischen FvD gemacht.

 

Die vier regierungsbildenden Parteien verloren in der Ersten Kammer, die auf Grundlage dieser Provinzialwahlen zusammengesetzt wird, ihre Mehrheit (31 von insgesamt 75 Sitzen der Ersten Kammer). Die Regierung ist im Gesetzgebungsverfahren auf die Zustimmung der Ersten Kammer angewiesen.

Ministerpräsident Rutte hatte an seine Landsleute appelliert, dass für ihn viel auf dem Spiel steht. »Ich betrachte die Niederlande als einen zarten Besitz, der uns allen gehört«, und beschrieb das Land als eine zerbrechliche Vase, die von 17 Mio. Menschen getragen werde. Und diesen Besitz gilt es laut Rutte zu beschützen.

Zwischen den Zeilen richtet sich der Regierungschef an die Nationalisten von PVV und Forum, die sich für einen EU-Austritt der Niederlande stark machen. Rutte verweist nämlich auf Großbritannien, wo durch den Brexit offenbar »Politiker wie Bürger vergessen haben, was sie zusammen erreicht haben. Jetzt stecken sie im Chaos.« Ebenso kritisierte Rutte, dass das Kinderfest Sinterklaas zunehmend politisiert würde. Er selbst sprach sich in der Vergangenheit bereits mehrfach für das Beibehalten der umstrittenen Zwarte-Pieten-Tradition aus. Der Kotau vor rechten Mentalitäten begrenzte die Verluste auf einen Sitz und damit jetzt 12 Sitze für die rechtsliberale VVD von Rutte.

Auf Twitter ließ Geert Wilders von der nationalistischen Anti-Islam-Partei PVV von sich hören: Rutte verwende sechzehn Mal das Personalpronomen »ich« in dem Brief und sei deshalb nicht glaubwürdig. »Was ein Narzisst, was ein Berufslügner«, twitterte Wilders. Aber Wilders zieht nur noch einen Teil des rechten Spektrums an und verlor vier seiner bisherigen neun Sitze.

Das Attentat in der Straßenbahn von Utrecht verunsicherte in der Schlussphase des Wahlkampfes die Bürgerschaft und befeuerte die rechten Parteien. Wahlkampf und Streik wurden landesweit ausgesetzt. Das Tagesereignis konnte seine Wirkung umso besser entfalten als die niederländische Gesellschaft durch eine tiefe soziale Spaltung, insbesondere die Schwierigkeiten über Lohnarbeit den eigenen Lebensstandard zu sichern, düstere Perspektiven für das Alter und durch Diskreditierung des politischen Systems verunsichert ist.


Rente, Klima, Migration als Wahlkampfthemen

Im Wahlkampf dominierten nationale Themen nicht die der Provinz, mit der man sich weit weniger identifiziert als mit dem Land oder der Heimatstadt. Das Poldermodell, mit dem über Jahrzehnte die sozialen Konflikte eingedeicht werden, hat Risse bekommen.

Seit dem 1. Januar 2019 liegt das Renteneintrittsalter in den Niederlanden bei 66 Jahren und vier Monaten. Schritt für Schritt soll es aber bis 2022 auf 67 Jahren und 3 Monate erhöht werden. Ob das Renteneintrittsalter weiter erhöht wird, hängt indes davon ab, wie sich die Lebenserwartung entwickelt. Rente und Lebenserwartung sind in den Niederlanden nämlich aneinander gekoppelt.

Der niederländische Gewerkschaftsbund FNV findet die Erhöhung des Renteneintritts ungerecht. Gemeinsam mit den Schwestergewerkschaften VCP und CNV organisierte der FNV deshalb zwei Tage vor der Wahl einen Aktionstag, um gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu protestieren. Das Ziel: Mit Streiks im öffentlichen Nahverkehr sollten die Niederlande lahmgelegt werden. Bereits zwei Tagen vorher begannen Hafenmitarbeiter*innen in Rotterdam mit ihrem Streik. Auch in der Metallindustrie und im Baugewerbe sollten Streiks stattfinden. Die Organisatoren erwarteten, dass sich rund 10.000 Menschen an neun Orten in den Niederlanden an den Streiks beteiligen.

Die Gewerkschaften wollen erreichen, dass das Renteneintrittsalter bei 66 Jahren eingefroren wird. Länger könnten Menschen mit körperlich schwerer Arbeit nicht ihren Beruf ausüben. Auch soll die Strafe abgeschafft werden, die Arbeitgeber zahlen müssen, wenn Arbeitnehmer*innen früher in Rente gehen als gesetzlich vorgegeben. Des Weiteren fordern sie einen gemeinsamen Rententopf für alle Arbeitskräfte, also auch für Solo-Selbstständige, Leiharbeiter*innen und Unternehmer*innen. Die letzte Forderung der Gewerkschaften beinhaltet die Indexierung der Rentenzahlungen an die Verbraucherpreise: Steigen die Preise für Einkäufe, Sprit, Möbel und andere Konsumgüter, soll auch die Rente entsprechend angehoben werden.

Die Klimapolitik ist in einem Land, das zu einem Viertel unter dem Meeresspiegel liegt, ein wahlkampfprägendes Thema. Die Regierung wollte wenige Wochen vor der Wahl eine CO2-Steuer einführen. Mit der Änderung von 600 gesetzlichen Bestimmungen soll der Ausstoß dieses Treibhausgases bis 2030 um die Hälfte reduziert werden. Das Maßnahmenpaket hatte Potential zur Spaltung der Koalition: Der linksliberalen D66 und der ChristenUnie ist das Klimaabkommen äußerst wichtig, während es für die christdemokratischen CDA und die rechtsliberale VVD weniger Dringlichkeit hat. Sybrand Buma, Spitzenmann des konservativen CDA, spottet über »proseccotrinkende Tesla-Fahrer«, die keinen Sinn für die Nöte derjenigen hätten, die am Monatsende ihre Stromrechnung kaum bezahlen könnten. Doch die früher bestimmende Kraft CDA wurde von 12 auf neun Sitze zurückgestuft.

Enttäuscht von der Regierung und der nicht durchgeführten Umsetzung des Klimaabkommens, rief vor dem Kabinettsbeschluss die Aktionsgruppe Youth For Climate NL am Donnerstag, den 7. Februar, zum Schulstreik und Protestmarsch in Den Haag auf. Laut Angaben der Organisation nahmen schätzungsweise 15.000 Schüler*innen teil. Die linke Sozialistische Partei (SP) fordert ebenfalls die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, die VVD sei dafür verantwortlich, dass die Stromrechnungen der Privathaushalte immer höher würden.

In Umfragen zeigt sich die Bevölkerung gespalten, so dass alle in der Frage engagierten Parteien Wählerschaft mobilisieren könnten. Aktuell befürworten 33% die Regierungsstrategie (verglichen mit 25% vor drei Wochen und vor dem Beschluss zur Einführung einer Kohlendioxid-Steuer); umgekehrt sank der Anteil der Gegner von 33 auf 27%.

Das Kinder-Pardon beschäftigte über Monate die Regierung leidenschaftlich. 200.000 Bürger*innen unterzeichneten eine Petition, die die Ausweitung des Schutzes von Kindern vor Abschiebung fordert. Bei den ungefähr siebenhundert betroffenen Kindern und ihren Familien, die bereits mehr als fünf Jahre in den Niederlanden leben, wird jetzt geprüft, ob sie versucht haben, die bevorstehende Ausweisung aktiv zu verhindern. Die Kinder und Familien, auf die das nicht zutrifft, sollen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Das Kriterium der Mitarbeit zur Ausweisung wird folglich aufgehoben.


Verunsicherung trotz guter Konjunktur

Die Wachstumsraten waren in den Niederlanden in den vergangenen drei Jahren gut (2,2%, 2,9% und 2,5% seit 2016) und die Prognose für das laufende und das kommende Jahr zeigen eine sanfte Abkühlung der Konjunktur (1,5%). Der Index der Erwerbseinkommen mit der Basis 2010 stieg von 107 (2016) auf 113 (2019). Obwohl die Zahl der Beschäftigungsfähigen im vergangenen Jahr um rd. 200.000 Menschen zugenommen hat, sank die Arbeitslosenquote von 4,2 auf 3,6% und hat damit Vollbeschäftigungsniveau. Doch selbst Liberale wie der neue D-66-Vorsitzende sind beunruhigt: »Die reichsten 10 Prozent besitzen 66 Prozent des Vermögens. Sicherheit wird erblich.

Die eine Gruppe hat das Nachsehen, die andere vergrößert ihren Wohlstand und gibt ihn weiter.« Die Planungsbehörde der Niederlande, das CPB, konstatierte laut Pressemeldungen: »Wer in den Niederlanden reich sei, profitiere vom Wachstum, doch die Armen blieben weiterhin abgehängt. Während die Vermögen anwüchsen, stiegen die Löhne kaum. Dies verletze, so das CPB, mittelfristig das ›Wohlbefinden der Niederländer‹. Steigende Energiekosten und unsichere Arbeitsverhältnisse erledigten ein Übriges.«

Der Anteil der fixen Kosten eines Haushaltes an seinen Ausgaben ist in den vergangenen 10 Jahren um etwa 5% gestiegen. Ein durchschnittlicher Haushalt mit einem Monatseinkommen von 2.252 Euro muss nun 55% davon für feste Belastungen wie Energie, Miete, Gesundheit ausgeben. »Das erklärt, warum so viele Leute – fast 40% – Schwierigkeiten haben, über den Monat zu kommen«, zitiert die Presse den Forschungsleiter Arjan Vliegenhart. »Zusätzliche Kosten wie höhere Krankenversicherungsbeiträge verursachen finanziellen Stress.«

Nur für besserverdienende Haushalte habe sich die Senkung der Hypothekenbelastungen in den letzten Jahren positiv ausgewirkt, aber auch sie geben 45% ihres Einkommens für die Essentials aus. Die Zahl der Haushalte, die ihre Miete oder ihre Hypothekenzinsen nicht pünktlich zahlen können, ist zwischen 2012 und 2018 von 12% auf 19% angestiegen. Die Wasserabgabe für Hausbesitzer*innen ist in den vergangenen vier Jahren um 9% gestiegen. Die Energierechnung eines Durchschnittshaushalts hat sich im vergangenen Jahr um 30 Euro pro Monat erhöht, aufgrund der Erhöhung der Gassteuer.

2003 arbeiteten 1,7 Mio. Menschen in den Niederlanden in flexiblen Verträgen oder als Freelancer. Ihre Zahl ist bis 2017 auf 3,1 Mio. gestiegen. Der Anteil der unbefristeten Verträge ist laut Auskunft des Statistikamtes CBS von 75% auf 60% zurückgegangen. Die wachsende Zahl der befristeten Verträge, Arbeit auf Abruf und Solo-Selbständigkeit untergräbt nicht nur die unmittelbare Reproduktion der Ware Arbeitskraft, sondern unterminiert auch das Steueraufkommen und die soziale Sicherheit.

Eine wachsende Zahl von Solo-Selbständigen riskieren ein Leben unter der Armutsgrenze (weniger als 1.040 Euro netto als Einzelperson oder als Familie mit zwei Kindern weniger als 1.960 Euro). 2013 sind das etwa 250.000 Beschäftigte gewesen. 2017 hatten 1,6 % der unbefristet Beschäftigten solche Armutslöhne gegenüber 2,3% in 2013. Unter den Freelancern ist die Armutsquote ebenfalls gefallen von 10,6 auf 8,1%, jedoch danach trotz des Wirtschaftswachstums wieder auf 8,6% (2017) angestiegen.

Mit dem Aufschwung kam zwar auch ein gewisses Vertrauen zurück, doch bleiben die Niederländer gegenüber ihren politischen Repräsentant*innen in der Zweiten Kammer (42%) und dem europäischen Parlament (45%) und den Banken skeptisch.


Die Neuformierung der Rechten

Die Anti-Islam-Partei von Geert Wilders PVV setzt im Wahlkampf auf die unzufriedenen Wähler*innen. Tenor: »Rutte muss weg!« Mit dieser Anti-Establishment-Rhetorik versuchte die Ein-Mann-Partei PVV die Wahlen zu einer Abstimmung über die Regierungskoalition in Den Haag zu stilisieren. Die PVV schwächelt seit geraumer Zeit in den Umfragen. Grund hierfür ist die neue Konkurrenz von rechts durch das Forum voor Democratie (FvD). Ein weiteres Problem für Wilders: Seine PVV sitzt zwar in allen Provinzialparlamenten, regiert allerdings nirgends mit. Zudem sind die klassischen PVV-Wähler*innen – die unzufriedenen Wutbürger*innen – nur schwierig zu mobilisieren.

Das Forum für Demokratie ist auf Anhieb mit 12 Sitzen genauso stark wie die Partei des Ministerpräsidenten. Das FvD wurde zwar erst 2016 gegründet, hat aber jetzt schon mehr Parteimitglieder als die Regierungspartei VVD. Sie greift die Verunsicherung erfolgreich auf und grenzt sich von der rüpelhaften Rhetorik des Geert Wilders ab, ist aber im Kern nicht weniger menschenverachtend. Sie war vor allem in der Mobilisierung gegen das EU-Ukraine-Assoziationsabkommen in den Vordergrund gerückt und hat in den Parlamentswahlen 2017 erstmals zwei Sitze (von 150) erreichen können. Ihr Vorsitzender trumpfte am Wahlabend auf: »Arroganz und Dummheit wurden bestraft. Wir wurden ruiniert von Leuten, die uns eigentlich schützen sollen. Wir wurden unterwandert von Universitäten und Journalisten und den Leuten, die unsere Häuser bauen.«

Als Neuling kann das FvD seine Anti-Establishment-Haltung voll ausnutzen und gegen die politische Elite polemisieren. Man findet zahlreiche Forderungen für mehr direkte Demokratie. Die Regierung Rutte III hatte in Auswertung der verlorenen EU-Ukraine-Abstimmung beratende Volksabstimmungen abgeschafft. Das FvD hält rein gar nichts vom Klimaschutz: Die Klimakatastrophe sei weder menschengemacht noch besorgniserregend. In seinem Wahlprogramm für die Provinzialwahl wurde das Kernthema Migration nur nebensächlich behandelt. Im Fokus stehen stattdessen die »milliardenverschlingenden« Klimaschutzmaßnahmen und die immer höher werdenden Energiesteuern.

Des Weiteren befürwortet das FvD einen Nexit, also einen Ausstieg der Niederlande aus der Europäischen Union. Es möchte Zuwanderung soweit wie möglich einschränken. Mit dieser Strategie hat das FvD Ende Februar Interesse an einer Mitgliedschaft der EKR-Fraktion im EU-Parlament bekundet. (EKR = »Europäische Konservative und Reformer«). In der EKR-Fraktion tummeln sich daher neben den eher gemäßigteren EU-Skeptikern wie den britischen Tories, der flämischen N-VA oder der AfD-Abspaltung LKR von Bernd Lucke auch rechtspopulistische Parteien wie der polnischen PiS, die Schwedendemokraten oder die wahren Finnen. Aus den Niederlanden sind derzeit die kalvinistischen Parteien SGP und die an der Regierung beteiligte ChristenUnie in der EKR-Fraktion vertreten. Besonders die ChristenUnie war von der Mitgliedschaftsanfrage des FvD überhaupt nicht begeistert: »Forum will einen Nexit, das heißt, nicht reformieren, sondern zerstören. Darum passt nach unserer Auffassung Forum nicht in die EKR-Fraktion.«

Das FvD setzt auf eine charismatische Führungsperson, nämlich Thierry Baudet. Der 36-Jährige ist Partei- und Fraktionsvorsitzender des FvD und das Aushängeschild der Partei schlechthin.[1] Baudet sah sich bereits mit Rassismusvorwürfen konfrontiert, weil aus seiner Sicht durch Zuwanderung die niederländische Identität verwässere. »Homöopathische Verdünnung« nennt er das. Jedoch lehnt Baudet die Anti-Islam-Polemik seines Konkurrenten Geert Wilders entschieden ab: »In all seinen Reden plädiert Wilders für ein Koran-Verbot. Wir stehen aber für die Aufklärung und wollen den Koran kostenlos zur Verfügung stellen, damit jeder nachlesen kann, was darin steht.«

Auch in Wirtschaftsfragen trennten laut Baudet FvD und PVV Welten. FvD sei eine klassisch-liberale Partei, die auf freie Marktwirtschaft setzt. Wilders sei dagegen ein heimlicher Sozialdemokrat, der an staatliche Wohlfahrt glaube, so Baudet. Eine Zusammenarbeit mit der PVV schließt Baudet dennoch nicht kategorisch aus. Das Forum mobilisiert die jungen, gut ausgebildeten, (später vielleicht) besserverdienenden Bewohner*innen der Zentren, die die soziale Spaltung als Wert inszenieren. Sein Ziel hat er erreicht: Wer einst sein Kreuzchen bei VVD, CDA oder PVV gemacht hat, soll heute das FvD wählen. Dazu geht Parteichef Baudet auch eher unkonventionelle Wege und fokussiert sich vor allem auf Social Media wie Instagram und Facebook. Statt an Wahldebatten in den Provinzen teilzunehmen, organisiert das FvD Parteiabende, die, wie das NRC Handelsblad kommentiert, »fast schon an Meet-ups von GroenLinks erinnern«.

In der reichsten Provinz Süd-Holland mit der Hauptstadt Den Haag und Rotterdam sind PVV und Forum die stärksten politischen Formationen.


Rutte-Referendum

Die Sozialistische Partei, die in Amsterdam und Utrecht zusammen mit Grünlinks die Stadtregierung stellt, wollte aus den Provinz-Wahlen ebenfalls eine Volksabstimmung über die Regierung Rutte machen. Die Provinzialwahlen haben dann aber die Schwäche der Linken belegt: Die SP sackte von neun auf vier Sitze, die sozialdemokratische PvdA von acht auf sieben Sitze. Die Schwächeperiode nach den letzten nationalen Parlamentswahlen 2017 und den Kommunalwahlen setzt sich also fort. Dafür gibt es Gründe.

In Amersfoort veranstalteten die Sozialisten ihren Parteirat, bei dem Parteimitglieder über die anstehenden Provinzial- und Europawahlen diskutierten. SP-Chefin Lilian Marijnissen fand in der Aussprache deutliche Worte für die Regierungsarbeit des Kabinetts Rutte III: In der Pflege, der Rechtsprechung, der Kinderbetreuung, bei der Post und der Energieversorgung habe der marktliberale Kurs der Viererkoalition versagt, so Marijnissen. Sollte die Regierung aus VVD, CDA, D66 und ChristenUnie ihre Ein-Stimmen-Mehrheit in der Ersten Kammer verlieren, würde die SP nicht als Mehrheitsbeschafferin dienen, während andere linke Parteien wie GroenLinks oder PvdA durchaus für eine Zusammenarbeit mit der Regierung Rutte (VVD) zu haben sind. »Die Menschen fragen nicht nach Bergen aus Gold, sondern nach einem anständigen Leben.« Letztendlich bleibt laut Marijnissen den Wählenden in den Niederlanden nur noch eine Wahl: Rutte oder Gerechtigkeit. Während über den Oppositionskurs Einigkeit in der SP herrscht, streitet sie sich über zwei ganz andere Themen: Arbeitsmigration und Asyl.

Auch Marijnissen hat eine Bewegung aus der Taufe gehoben. »Wir bekämpfen Zynismus und wählen Hoffnung. Denn eine Gesellschaft, in der Milliarden an Großkonzerne verschwendet werden, während unsere Pfleger, Polizisten, Busfahrer und Lehrer für ein wenig Wertschätzung kämpfen müssen, ist nicht gerecht«, heißt es auf der SP-Website über die Gerechtigkeitsbewegung. Aus diesem Grund lehnt die SP die Erhöhung der Mehrwertsteuer entschieden ab und fordert stattdessen eine zweiprozentige Zusatzsteuer für Millionäre. Auch den Kampf gegen die Klimakrise will Marijnissen gerechter gestalten. Die Bürger*innen sollen entlastet und die Umweltverschmutzer belastet werden.

Mit einer Linkswende versuchte Rob Jetten, der Partei- und Fraktionsvorsitzende von D66, die Konkurrenz von Grünlinks auf Abstand zu halten. Aber D 66 verlor vier ihrer bisherigen 10 Sitze, vermutlich mehr an GrünLinks als an das Forum. Nach dem Eintritt in die Regierung geht es der Partei nicht gut. Einer der großen Gewinner der Wahl war im Frühjahr 2017 unzweifelhaft die linksliberale Partei D 66, die das zweitbeste Ergebnis in ihrer Parteigeschichte einfahren konnte. Anfang 2018 schaffte die Koalition von VVD, CDA, ChristenUnie und D66 das beratende Referendum ab – gegen den Willen der Linksliberalen, die sich seit ihrer Gründung für direkte Demokratie einsetzen.

Das Pikante daran: Ausgerechnet die D66-Politikerin Kajsa Ollongren war als Innenministerin für die Abschaffung des Referendums verantwortlich. Hinzu kommt die Kapitalertragssteuer, die die VVD unbedingt abschaffen will, obwohl sich im Koalitionsvertrag darüber keine Silbe findet. Indes wollen die Linksliberalen an der Steuer, die für die Ausschüttung von Unternehmensgewinne an Anteilseignern fällig wird, eigentlich festhalten. Im Oktober letzten Jahres kam es zum Wechsel an der Parteispitze.

Jetten, neu im Amt, will den liberalen Glauben an die Leistung statt an das Erben beleben. Für einen Liberalen sei diese Schieflage in den Vermögensverhältnissen eine Zumutung. In einer Grundsatzrede skandalisierte Jetten die soziale Ungleichheit im Land: »Ich bin Befürworter eines progressiven Steuersystems. Darin können wir Vermögen über einer Million Euro schwerer belasten, sodass wir Kleinsparer entlasten können«, so Jetten in seiner Rede. Mit einer solchen Steuerreform schlösse sich die Schere zwischen Arm und Reich und vergrößere sich die Chancengerechtigkeit in den Niederlanden.

GrünLinks ist Gewinner auch dieser Wahl und legte von vier auf neun Sitze zu. In den kommenden Wochen werden die Gespräche sich darauf konzentrieren, ob es der Vierer-Koalition gelingt, eine Veto-Macht gegen sich in der Ersten Kammer zu verhindern. Die Provinzialwahlen haben gezeigt, dass die Rechtsliberalen ohne Rückhalt in der Bevölkerung amtieren. Für das nationale Kräfteverhältnis, darauf deuten auch die Umfragen zu Parlamentswahlen hin, zeichnet sich ab, dass weder die Rechtsradikalen (PVV und FvD) noch die Linkskräfte SP, PvdA und GrünLinks alleine in der Lage sind, aus sich heraus eine Koalitionsalternative zu bilden. Sie bleiben angewiesen auf christliche oder liberale Parteien. Der Stellenwert eines neuen Sozialmodells für eine solche Mehrheitsbildung bleibt durchaus unklar.

[1] Ein erstes Portrait des FdD und ihrers Führers Baudet findet sich hier.

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