27. März 2019 Otto König/Richard Detje: Vor den Kommunalwahlen in der Türkei

Die Opposition wittert Betrug

Am 31. März sind rund 57 Millionen Wähler*innen in der Türkei aufgerufen, bei den Kommunalwahlen[1] neben den Ober- und Stadtteilbürgermeistern auch Stadt- und Provinzräte sowie die Muchtars (Dorf- oder Ortsvorsteher) zu wählen.

Was wie ein untergeordneter Wahlgang aussieht, könnte für die regierende islamistisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) genauso wichtig werden wie die Wahlen zum nationalen Parlament. Deshalb hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schon vor Wochen erklärt: »Die Wahlen sind eine Frage des Überlebens geworden« und damit »ein wichtiger Meilenstein auf unserem heiligen Marsch«.

Tatsächlich könnte es für die »Volksallianz« aus AKP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) eng werden. Selbst traditionelle AKP-Anhänger*innen sind unzufrieden. Das Meinungsforschungsinstitut Piar stellte in einer ihrer Umfragen fest, dass statt ideologisch-religiös begründeter Bindungen die ganz normalen Probleme des Alltags prägend sind. Gerade die Einwohner*innen in den großen Städten sind mit ihrer aktuellen Situation unzufrieden.

Mehr als jede/r Dritte, knapp 35%, nannte als Grund hierfür die schlechte wirtschaftliche Lage, 14,6% beklagen die hohe Arbeitslosenquote – und man kann gewiss sein, dass die realen Werte höher sind. Für Erdogan ist dieses Meinungsbild alarmierend, wurde doch in früheren Umfragen immer »der Terrorismus«, sein »Totschlagsargument« gegen die demokratische Opposition, als Problem Nummer eins genannt.

Fakt ist: Wirtschaftlich steht das Land am Bosporus schlecht da und die Bevölkerung merkt allmählich die Zusammenhänge zwischen der Wirtschaftskrise und der Politik Erdogans. Die Währung verfällt, die Arbeitslosenzahlen steigen,[2] Lebensmittel- und Energiepreise explodieren. Jüngstes Beispiel sind die Preise für Zwiebeln, die auf den Märkten mittlerweile das Vierfache kosten. Sie sind schlicht ein Muss: kaum ein Gericht ohne die Zwiebelknolle, weshalb ihr Preis ebenso wie der für Auberginen, Paprika und Tomaten zum Politikum, zum Symbol der Krise geworden ist. Aus diesem Grund haben AKP-Bürgermeister auf großen Plätzen städtische Verkaufsstände aufstellen lassen, die verbilligtes Gemüse anbieten.

Fest steht: Demokratische Standards sind auch bei den Kommunalwahlen suspendiert. Schon beim Verfassungsreferendum im April 2017 und den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr kam es zu massiven Verstößen gegen das Recht auf freie Wahlen. Die üblichen staatlichen Wahlmanipulationen[3] wiederholen sich.

Es sind die kurdischen Gebiete in der Ost-Türkei, die dem türkischen Präsidenten die meisten Kopfzerbrechen bereiten. Jüngste Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Rawest prognostizieren trotz massivster Behinderungen einen deutlichen Anstieg der HDP in den drei größten Städten mit kurdischer Mehrheitsbevölkerung. Obwohl die Angriffe auf die Partei und ihre Anhänger*innen noch zugenommen haben. Die Büros der Partei werden bei sogenannten Razzien verwüstet und zerstört.

Der HDP werden im Fernsehen und in der weitgehend gleichgeschalteten Presse auch die ihr rechtlich zustehenden Werbemöglichkeiten vollständig verwehrt. Nur über Social Media kann sie, und auch das nur eingeschränkt, ihre Nachrichten vertreiben. Nahezu flächendeckend ist ihre Organisation kriminalisiert. Allein im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der HDP mehr als 2000 ihrer Funktionäre verhaftet. 16 frühere HDP-Parlamentsabgeordnete sitzen in Gefängnissen, darunter die ehemaligen Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Für Demirtas fordern die Ankläger 142 Jahre Haft wegen »Mitgliedschaft in der PKK«, für Yüksekdag 83 Jahre.[4]

Dennoch könnte die HDP bei der Wahl die Zahl ihrer Bürgermeister sogar weiter steigern, so das Institut Rawest. Auch deshalb drohte Erdogan Anfang März auf einer Kundgebung im zentral-anatolischen Yozga den HDP-Anhänger*innen: »Wenn die Wähler die Rathäuser erneut der PKK überantworteten, werden wir wieder und ohne jeden Verzug unsere Treuhänder ernennen«.

Zur Erinnerung: Die Amtsenthebungen waren nach dem gescheiteren »Putschversuch« Teil eines breit angelegten Feldzugs der AKP-Regierung gegen die linke Partei. In den kurdischen Gebieten wurden 90 gewählte Bürgermeister der HDP durch Treuhänder des Innenministeriums ersetzt. Die meisten Ex-Bürgermeister befinden sich im Gefängnis und haben mit hohen Haftstrafen zu rechnen. Im Oktober 2018 setzte das Innenministerium 259 gewählte Ortsvorsteher von Dörfern und Stadtteilen in den kurdischen Gebieten mit der Begründung ab, sie seien eine Gefahr für die nationale Sicherheit, da sie Verbindungen zur kurdischen PKK hätten. Beweise oder Gerichtsbeschlüsse bedurfte es dafür nicht.

Doch nicht nur gegen Kurden und ihre Repräsentant*innen, auch gegen die CHP-Opposition und Gewerkschafter*innen sowie zivilgesellschaftliche Kräfte wie Beteiligte an der Gezi-Bewegung und Künstler*innen führt der autokratische Staatsapparat seinen brutalen Repressionskurs fort. Vor den Kommunalwahlen wurde erneut eine »Kampagne der Einschüchterung« losgetreten. Mitte Dezember hatte die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität von 68 CHP-Abgeordneten beantragt, weil sie eine Erdogan-Karikatur über Twitter geliked und verbreitet hatten. Ihnen drohen Haftstrafen von bis zu vier Jahren und ein Verbot politischer Betätigung.

Im Januar wurde in Izmir von Sicherheitskräften eine Gewerkschaftskundgebung angegriffen und 15 Gewerkschafter verhaftet. Ein Monat später wurde das Urteil gegen die Professorin Füsun Üstel rechtskräftig: 15 Monate Haft für ihre Unterschrift unter der Petition »Wir werden nicht Teil des Verbrechens sein«. Es gilt als Präzedenzurteil für alle unterzeichneten Wissenschaftler*innen, die wegen der Friedenspetition vor Gericht mussten.[5]

Das Verbot des großen Marsches der Frauen in Istanbul am 8. März, dem Internationalen Frauentag, das Vorgehen der Polizei mit Knüppeln und Tränengas gegen die Demonstrant*innen zeigt die Unruhe des Staates hinsichtlich des Widerstandsgeistes von Teilen der Bürger*innen.

Kritische Journalist*innen sind entweder inhaftiert oder arbeitslos. Mehr als 160 Journalist*innen sitzen derzeit in der Türkei in Gefängnissen. 90% der Medien arbeiten wie PR-Agenturen des Regimes, schreibt Die Zeit. Während des Wahlkampfes übertragen fast alle Sender nur Erdogans Reden live, kritische Beiträge sucht man vergebens.

Wachsende Teile der Bevölkerung reagieren auf die Gleichschaltung der Print- und Rundfunk-Medien mit steigender Nutzung der Sozialen Medien. So ist der Anteil der Nutzer*innen von Twitter, Facebook usw. in den letzten zehn Jahren von 38 auf 72% angewachsen. Die türkische Regierung reagiert auf diese Entwicklung mit »Cyber-Patrouillen«, die das Netz auf Kritik durchforsten.

Allein letztes Jahr wurden gegen 110.000 Accounts Ermittlungen eingeleitet, darunter auch Accounts aus Deutschland. Türkische Behörden gehen jeden Tag gegen etwa 50 Verdächtige vor, die mit Kommentaren in sozialen Medien auffallen. Mehrere Deutsche sind deswegen in der Türkei in Haft.

Die AKP und die Nationalistische MHP, die politische Heimat der berüchtigten rechtsextremistischen »Graue Wölfe«, ziehen wie bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 gemeinsam in die Kommunalwahl. Erdogan und Devlet Bahceli präsentieren sich als enge politische Partner. Immer wieder bemüht Erdogan den Begriff »Bündnis«. Dabei ignoriert er, dass in der Türkei bei Kommunalwahlen keine Bündnisse auf den Wahlzetteln möglich sind. Allerdings können sich Parteien gegenseitig bei ihren Kandidaten unterstützen, worauf sich AKP und MHP geeinigt haben.

So tritt die Oppositionspartei CHP mit der Abspaltungspartei der MHP, der nationalkonservativen Gute Partei (IYI) sowie der konservativen Saadet-Partei unter dem Namen »Bündnis der Nation« an. Die HDP, die alleine antritt, hat sich zum Ziel gesetzt, alle unter Zwangsverwaltung stehenden Gemeinden in Kurdistan zurück- und neue Gemeinden hinzuzugewinnen, die Zahl der Provinzräte zu erhöhen und anstatt der Muh­tare, die zu einem verlängerten Arm des Präsidentenpalasts geworden sind, Demokraten wählen zu lassen.

Im Westen der Türkei setzt die HDP in Großstädten wie Ankara, Istanbul, Izmir, Mersin und Antalya darauf, durch den Verzicht auf eigene Kandidaten, aber durch Mobilisierung gemeinsam mit gesellschaftlichen Kräften die Chancen der sozialdemokratischen Opposition gegen die AKP/MHP-»Volksallianz« zu steigern. Voraussagen zufolge könnte diese Taktik aufgehen. So dürfte es in den großen Städten eng werden. Laut Umfragen könnte die AKP nicht nur Ankara sondern auch Istanbul an die oppositionelle CHP verlieren.

»Ich verfolge die AKP seit ihrer Gründung und habe sie noch nie so bedrückt gesehen. Da kocht es, schlimmer als im Hexenkessel«, schrieb der Journalist Ahmet Takan in dem kleinen Nationalistenblatt Yeniçağ. Der Autor gilt als Ankara-Kenner, und Umfragen scheinen sein Urteil zu bestätigen: Dort sagen mehrere Institute einen Sieg des Oppositionskandidaten Mansur Yavaş voraus. Die Umfrageagentur PIAR sieht einen Vorsprung von sechs Punkten vor dem AKP Kandidaten Mehmet Özhaseki. Die drittgrößte Stadt des Landes, Izmir, ist ohnehin eine Hochburg der Opposition.

In Istanbul, wo der ehemalige Ministerpräsident und derzeitige Parlamentspräsident Binali Yildirim für die AKP antritt, zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Binali ist absolut loyal gegenüber dem Staatschef. Doch er tut sich schwer, denn gerade in der bevölkerungsreichsten Stadt am Marmarameer spüren die Menschen die prekäre Wirtschaftslage.

Gleichzeitig erlebte die Metropole in den vergangenen Jahrzehnten eine starke Zuwanderung von Kurden aus dem Osten des Landes. Die HDP hat hier ein Stimmenpotential von rund zwölf Prozent. Das könnte reichen, um dem CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu, Bezirksbürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü, zum Sieg zu verhelfen.

Die Möglichkeit, dass am 31. März mindestens zwei, wenn nicht sogar drei der größten Städte der Türkei von den demokratischen Oppositionskräften erobert werden, ist durchaus realistisch. Verliert die AKP Istanbul, wäre das für Erdogan möglicherweise ein Menetekel: Als Bürgermeister begann er dort Mitte der 1990er Jahre seine politische Karriere.

[1] Siehe dazu auch: Joachim Bischoff, Die wirtschaftliche Lage in der Türkei – Kommunalwahlen in schwierigen Zeiten, in: SozialismusAktuell, 6.3.2019.
[2] Die Arbeitslosenquote in der Türkei ist innerhalb eines Jahres um 3,1 Prozentpunkte gestiegen. Laut dem Statistikamt in Ankara zufolge lag sie Ende Dezember 2018 bei 13,5%. Damit waren nach offiziellen Angaben 4,3 Millionen ohne Arbeit, rund eine Million mehr als noch im Dezember 2017.
[3] Meldungen über falsche Anmeldungen, Löschungen der Wahlregister und die Hortung von Stimmzetteln häufen sich: In einer Unteroffizierswohnung in Siirt leben angeblich 700 Wahlberechtigte. Im Istanbuler Stadtteil Beyoglu wurde in einem 4-stöckigen Haus einfach noch ein fünfter Stock inklusive Wählerschaft erfunden. Die CHP deckt auf, dass in der Türkei eine überdimensional große Anzahl von Menschen lebt, die über 100 Jahre alt sind. Mehr als 6.389 Wähler*innen sollen über 100 Jahre alt sein.
[4] Vgl. Otto König/Richard Detje: Politische Geisel – EGMR verlangt Freilassung des ehemaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, in: Sozialismus Aktuell, 2.12.2018.
[5] Von den mehr als 2.212 Wissenschaftler*innen, die die Friedenspetition unterzeichnet hatten, kamen 652 vor Gericht, 137 sind mittlerweile verurteilt. Ihre Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

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