6. November 2018 Hinrich Kuhls: Verheißungen und Realitäten

Die Regierung May kündigt das »Ende der Austerität« an

Am 1. November hat das Unterhaus des britischen Parlaments das Gesetz zum Staatsbudget für das nächste Haushaltsjahr (April 2019 bis März 2020) verabschiedet. Der Etat wird wenige Tage nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union Ende März 2019 in Kraft treten.

Der Staatshaushalt wird getragen von den beiden unionistischen Fraktionen im britischen Zentralparlament: von der regierenden Konservativen Partei und der mit ihr durch ein Unterstützungsabkommen verbundenen nordirischen Democratic Unionist Party, die in Westminster mit zehn Abgeordneten vertreten ist.

Premierministerin May war auf der Jahreskonferenz der Konservativen Anfang Oktober zu den Klängen des Abba-Evergreens »Dancing Queen« auf die Bühne getanzt. In ihrer Parteitagsrede führte sie dann wenig melodiös zwei Argumente aus. Erstens werde sie ihren im Sommer publizierten Vorschlag für die künftigen Beziehungen des UK zur EU gegen alle Widerstände durchsetzen – nicht nur gegen den Widerstand in der EU, der britischen politischen Opposition und den proeuropäischen Teil der britischen Zivilgesellschaft, sondern auch gegen alle Vorbehalte in ihrer eigenen Partei. Zweitens werde mit dem EU-Austritt die Zeit der Austerität beendet sein – und das werde sich im nächsten Budgetentwurf zeigen.

Schon bei ihrer Regierungsübernahme im Sommer 2016 hatte May die harte konservative Austeritätspolitik infrage gestellt und die Rückkehr zu einer effektiven Industriepolitik gefordert. Beide angekündigten Kursänderungen wurden aber in der Haushaltspolitik der beiden folgenden Jahre nicht umgesetzt. Mit der Forderung nach einem Ende der Austerität und mit einem Programm für eine alternative Wirtschafts- und Sozialpolitik war es zudem der Labour Party mit ihrem Spitzenkandidaten Corbyn gelungen, in der vorgezogenen Neuwahl des Unterhauses die parlamentarische Mehrheit der Tories zu brechen.

Seitdem liegen Labour und die Konservativen in den Wahlumfragen auf gleicher Höhe. Andererseits wird die Brexit-Politik der Regierung, sowohl ihre Verhandlungsposition als auch ihre Verhandlungsführung, von der Mehrheit der britischen Wähler*innen negativ beurteilt, und zwar nicht nur bei den Austrittsgegnern, sondern auch bei den Brexit-Befürwortern. Daher überraschte Mays Vorstoß nicht, die Kernkompetenz der Labour Party als jener politischen Kraft, die für eine progressive gesellschaftliche Wende steht, mit der erneuten Ankündigung einer Abkehr von der Kürzungs- und Sparpolitik bei »Aufrechterhaltung der Haushaltsdisziplin« anzugreifen und einen zeitlichen Bezug zum formalen Austritt aus der EU im März 2019 herzustellen.

In den beiden Kabinetten Camerons hatten sowohl die jetzige Premierministerin May als auch der jetzige Schatzkanzler Hammond die Austeritätspolitik voll unterstützt. May hatte in ihrer Amtszeit als Innenministerin (2010-2016) nicht nur die Politik der »feindlichen Umwelt« gegenüber Migrant*innen etabliert, sondern auch die Kürzungspolitik bei den Zuweisungen für die kommunalen Gemeinwesen umgesetzt. Hammond amtierte von 2010 bis 2016 als Verkehrs-, Verteidigungs- und Außenminister. In der Kampagne vor dem EU-Referendum verhielt May sich neutral, sodass sie nach dem Brexit-Votum glaubwürdig den harten Brexit mit Austritt aus Binnenmarkt und EU-Zollunion anvisieren konnte.

Hammond hingegen hatte sich beim EU-Referendum für den Verbleib Britanniens in der EU ausgesprochen. Nach seiner Ernennung zum Finanz- und Wirtschaftsminister (»Schatzkanzler«) hat er als Vertreter des neoliberalen Tory-Flügels in Mays Kabinett die Position eines möglichst weitgehenden Post-Brexit-Zugangs zum Binnenmarkt – nicht nur für die britische Finanzwirtschaft – vertreten und mit seinen beiden bisherigen Budgets (März 2017 und November 2017) den Kurs der harten Austeritätspolitik seines Vorgängers Osborne beibehalten.[1]

Hammond erledigte seinen Auftrag, den Brexit und das »Ende der Austerität« unter einen Hut zu bringen, sehr geschickt. In einer launigen Rede zur Einbringung des Haushalts hielt er sich zunächst mit etlichen Details der Einnahme- und Ausgabenseite auf, um dann »das Ende der Austerität« in Aussicht zu stellen. Wenn die Brexit-Verhandlungen mit einem Austrittsvertrag abgeschlossen werden und wenn dabei ein »durchschnittliches Freihandelsabkommen« mit der EU als Ziel der künftigen EU-UK-Beziehungen vereinbart werde, dann könne er in seinem nächsten Haushaltsentwurf für 2020/21 – also für die Übergangsphase nach dem zwar formalen EU-Austritt, aber vorläufigen Verbleib in Binnenmarkt und EU-Zollunion – auf die »Brexit-Dividende« zurückgreifen, die Kürzungspolitik beenden und das Ziel eines »ausgeglichenen Haushalts« erreichen.

Im Falle eines ungeordneten Brexits müsse selbstverständlich ein weiterer, außerordentlicher Haushalt auf die Beine gestellt werden, um die dann anstehenden Turbulenzen einzufangen. Zudem sei der Hauptposten zusätzlicher Ausgaben nicht von ihm in den Haushalt eingestellt worden, sondern sei schon fünf Monate zuvor zugesagt worden, indem May anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung des Nationalen Gesundheitssystems (NHS) zusätzliche 20 Mrd. Pfund (über fünf Jahre verteilt) zur Beseitigung der gravierendsten aufgelaufenen Mängel in der Krankenversorgung versprochen hatte.

Der Schatzkanzler hat den per »Richtlinienkompetenz« der Premierministerin erteilten Auftrag zur Beendigung der Austerität einfach zurückgespiegelt, indem er eine Kursänderung in Höhe und Ausrichtung der Staatsausgaben davon abhängig macht, dass die Regierungschefin zunächst einen für die Staatsfinanzen günstigen Austrittsvertrag in Brüssel zum Abschluss bringt, und diesen dann auch im Parlament durchsetzt. Die von den Tories allseits erhoffte »Brexit-Dividende« kann jetzt im Haushaltsansatz nicht berücksichtigt werden. Bevor sie jemals in späteren Jahren zur Verfügung steht, muss die innerparteiliche Opposition vor allem des rechtspopulistischen Flügels in der konservativen Parlamentsfraktion gegen jedweden anderen als einen harten Brexit überwunden werden – so die politische Kernbotschaft des Schatzkanzlers.

Der Staatshaushalt 2019/2020

In der finanz- und wirtschaftspolitischen Ausrichtung schließt der Budgetentwurf daher nahtlos an die bisherige Haushaltspolitik an. Das Ausmaß der achtjährigen Austeritätspolitik der britischen Konservativen kommt darin zum Ausdruck, dass sie den Haushaltsplan als den »freigiebigsten« seit 2010/11 hochjubeln, die Ausgaben pro Kopf 2019/20 in realen Preisen jedoch weiterhin sinken, wenn schon allein von den erforderlichen Zusatzausgaben für die verspätete Anpassung des NHS an die demografische Entwicklung und zur Abwendung weiterer Verelendung bei der Systemumstellung der Sozialhilfe abgesehen wird.



Die Gesamtausgaben belaufen
sich auf 842 Mrd. Pfund (42% des prognostizierten BIP). Die politischen Entscheidungen zur Ausweitung des Haushalts summieren sich gerade einmal auf Mehrausgaben von 15 Mrd. Pfund; darunter für den NHS 7,3 Mrd. Pfund, für die Sozialhilfe (Universal Credit) 0,8 Mrd. Pfund, für den Verteidigungshaushalt eine Mrd. Pfund. Für das laufende Haushaltsjahr werden nachträglich noch weitere 2,3 Mrd. Pfund zur Verfügung gestellt, darunter jeweils eine halbe Milliarde Pfund für Schulbauten und Straßenreparaturen.

Der zusätzliche Spielraum in Höhe von 13 Mrd. Pfund beruht auf einer einmaligen Veränderung der Berechnung der zeitlichen Frist der Zahlungseingänge – vor allem der Unternehmenssteuer, die in Zeiten niedriger Zinsen zügiger gezahlt wird. Daraus können einmalig die diesjährigen Ausgabenversprechungen finanziert werden, nicht jedoch die künftigen Anforderungen, und erst recht kann damit nicht die Austeritätspolitik beendet werden.

Dass von einer Umkehr der Austeritätspolitik keine Rede sein, sondern allenthalben von einer Mäßigung der Kürzungspolitik gesprochen werden kann, wird in der britischen Wirtschaftspresse auch für die mittelfristige Finanzplanung betont. Wird von den Ausgaben für Verteidigung, Entwicklungshilfe und von den Sonderausgaben für die nachgeholte Stabilisierung des Gesundheitssektors abgesehen, dann sind bei den mit dem Budget 2019/20 für die Folgejahre haushaltswirksam festgelegten Ausgaben für den inländischen öffentlichen Sektor weiterhin Kürzungen vorgesehen, die sich in fünf Jahren auf fast 3% belaufen.

Was ein Ende der Austerität und eine Rückkehr zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben finanziell bedeuten würde, zeigt die Entwicklung der Direktzuweisungen der Zentralregierung an die Kommunen in England (in den anderen drei Landesteilen sind die Zuweisungen in den Haushaltszuwendungen für die Regionalregierungen enthalten). Die Direktzuweisungen an die Kommunen sind seit 2010 kontinuierlich gesunken und konnten nicht durch die Erhöhung der Grundsteuer auf Wohngebäude (council tax) kompensiert werden, was in der neoliberalen Sicht der regierenden Konservativen zur Effizienzsteigerung der Aufgabenerledigung der Lokalbehörden beigetragen habe.

Eine Konsequenz ist, dass die Lokalbehörden zusätzliche und/oder höhere Gebühren für verschiedene Dienstleistungen erheben müssen und auf Kredite angewiesen sind. Neben Direktzuweisungen, Grundsteuern und Gebühren ist die vierte kommunale Einnahmequelle ein Anteil an der Grundsteuer auf Gewerbeimmobilien (business rate), was je nach regionaler Wirtschaftskraft zur weiteren landesweiten Differenzierung der kommunalen Dienstleistungen führt. Mit der Reduzierung der Direktzuweisungen ist die horizontale Ungleichheit erheblich verschärft worden.

Die Direktzuweisungen sind sowohl in den großstädtischen Agglomerationen als auch in den ländlich strukturierten Gebieten reduziert worden. Kürzungen sind auch für die nächsten Haushaltsjahre beschlossen. Im Haushaltsansatz 2019/20 belaufen sich die Kürzungen gegenüber 2010/11 inflationsbereinigt und kumuliert auf 56,3%.



Die Gesamtausgaben aller Kommunen in England beliefen sich 2017/18 auf rund 78 Mrd. Pfund (ohne Polizei und Feuerwehr), darunter für Schulen 33,3 Mrd. Pfund, für Sozialunterstützung in besonderen Lebenslagen für Erwachsene 15,6 Mrd. Pfund und für Kinder acht Mrd. Pfund. Die Finanzierung der Gesamtausgaben erfolgte in etwa zur Hälfte durch Direktzuweisungen der Regierung in Höhe von 39 Mrd. Pfund. Eine Rückkehr zur Finanzierungssituation von 2010, also der Rückabwicklung der Austerität, bedeutete also allein für die den Kommunen in England zugewiesenen Aufgaben einen zusätzlichen Finanzbedarf von 22 Mrd. Pfund. Es ist vor allem dieser Aspekt der ausbleibenden Korrektur der verschlechterten Lebensbedingungen vor Ort, den Corbyn in seiner Wertung hervorhob, als er der Regierung vorhielt, sie habe mit diesem Haushalt ein weiteres Mal ihr Versprechen der Kursänderung gebrochen.

Insgesamt wird das Hauptproblem der anhaltenden Unterfinanzierung der öffentlichen Dienstleistungen und der unzureichenden Anreize zur Erneuerung der weitgehend privatisierten Infrastruktur durch die mit diesem Haushalt verbundene mittelfristige Finanzplanung akzentuiert. Da die Bevölkerung altert und die Kosten für die Erbringung von Dienstleistungen steigen, wird die Regierung mehr ausgeben müssen – insbesondere für Renten, Gesundheit und Sozialfürsorge –, um den Erwartungen der Öffentlichkeit gerecht zu werden. Zugleich ist bei den ökonomischen Basisdaten (geringe Produktivität, geringstes BIP-Wachstum der G7-Länder in den letzten beiden Jahren) keine Trendwende in Sicht.

Das Office for Budget Responsibility (OBR) – die unabhängige Finanzaufsichtsbehörde – prognostiziert, dass die Regierung allein die Ausgaben für Gesundheit, Sozialleistungen und Renten in den nächsten 10 Jahren jährlich um 1,7% des BIP (oder 36 Mrd. Pfund) erhöhen muss, um den derzeitigen Umfang und die aktuelle Qualität zu erhalten und die steigenden Kosten für die Erbringung von Dienstleistungen zu decken. Im gleichen Zeitraum dürften die Steuereinnahmen ohne Ausweitung der Steuereinnahmen jedoch nur um 0,2 % des BIP (oder 5 Mrd. Pfund nach heutigem Stand) ansteigen. Die konservative Politik der »Aufrechterhaltung der Haushaltsdisziplin« mit dem Ziel, die schwarze Null im Jahr 2023/24 zu erreichen, ist nur mit der Fortsetzung der Austeritätspolitik möglich.

Die Staatsfinanzen und der Brexit

Die gesamte Haushaltsdebatte ist von der Frage überlagert, ob es in Kürze gelingt, eine rechtsverbindliche Regelung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU zu finden. Schatzkanzler Hammond setzt in seiner Haushaltsplanung darauf, dass die Regierung May erfolgreich aus den Verhandlungen und der parlamentarischen Umsetzung hervorgeht. Er setzt darauf, dass nach einem weichen Brexit die britischen Außenhandelsbeziehungen weiterhin friktionslos verlaufen, sowohl in der Übergangsphase bis Ende 2019 und dann im Rahmen eines Freihandelsabkommens mit der EU und weiterer bilateraler Handelsabkommen mit Drittstaaten.

Der Chef der Bank of England, Mark Carney, äußert Skepsis. Er sprach am Tag des Haushaltsvotums von einem Zustand fast »maximaler Unsicherheit«, mit dem die Unternehmen in Großbritannien konfrontiert seien. Derzeit wachse die britische Industrie so langsam wie seit dem Brexit-Referendum Mitte 2016 nicht mehr, und zum Jahresende drohe sogar ein Rückgang der Wirtschaftsleistung.

Auch für Carney ist ein harter Brexit nicht das wahrscheinlichste Szenario. Sollte es wider Erwarten dennoch dazu kommen, würde dies zu »logistischen Herausforderungen« führen, nicht nur in den Häfen. Produktionseinschränkungen und Unterbrechungen der Wirtschöpfungsketten seien dann nicht zu verhindern. Und ohne eine Regelung über die künftigen Beziehungen könnten beispielsweise die in London ansässigen Finanzinstitute keine wichtigen Dienstleistungen mehr für EU-Kunden erbringen.

Hammond und Carney stehen für den überwiegenden Teil der britischen und europäischen neoliberalen Kräfte, die für den Fall, dass sich eine Übereinkunft zwischen dem UK und der EU abzeichnen sollte, zugleich die Weichen gestellt sehen für eine positive Wende der wirtschaftlichen Entwicklung in Großbritannien und Europa. Von ihnen wird nach wie vor nicht nur die politische, sondern auch die ökonomische Zerstörungskraft eines geregelten, sogenannten weichen Brexits unterschätzt.



[1] Fiskalpolitik im Zeichen des Brexits. Haushaltsdebatte in Britannien. Sozialismus.de Aktuell, 29.11.2017; http://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/fiskalpolitik-im-zeichen-des-brexit/ sowie Konservative Industriepolitik? Haushaltsdebatte nach der Brexit-Entscheidung, Sozialismus.de Aktuell, 1.12.2016; http://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/konservative-industriepolitik/

Literatur
HM Treasury: Budget 2018. Policy paper published 29 October 2018. Online: https://www.gov.uk/government/publications/budget-2018-documents/budget-2018.
Resolution Foundation: How to spend it - Autumn 2018 Budget response. Online: https://www.resolutionfoundation.org/app/uploads/2018/10/How-to-spend-it-RF-Report.pdf.
Philip Brien: Local government finances. Commons Library Briefing Paper 8431. Online: http://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CBP-8431/CBP-8431.pdf.
National Audit Office (NAO): Financial sustainability of local authorities 2018. Online: https://www.nao.org.uk/wp-content/uploads/2018/03/Financial-sustainabilty-of-local-authorites-2018.pdf.

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