13. März 2022 Redaktion Sozialismus.de: der auch innenpolitische Balanceakt Erdoğans

Die Rolle der Türkei im Ukraine-Krieg

Dass die ersten Gespräche zwischen den Außenministern Russlands und der Ukraine, also auf Regierungsebene, seit Kriegsbeginn in der Türkei und im Beisein des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu stattfanden, ist für Ankara ein Erfolg.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat sich schon vor Monaten als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine präsentiert. Seither bemüht sich der Autokrat um die Einhaltung eines Balanceakts zwischen den Kriegsparteien. Die türkische Staatsführung hat den russischen Überfall zwar scharf verurteilt und den Bosporus für Kriegsschiffe gesperrt, den westlichen Sanktionen hat sich die Türkei als einziges NATO-Land aber nicht angeschlossen.

Erdoğan nutzte seine enge Zusammenarbeit mit Wladimir Putin bisher, um türkische Ziele in Syrien zu verfolgen und dem Westen zu signalisieren, dass die Türkei unabhängig von Amerikanern und Europäern und auf eigene Rechnung handeln könne. Die Türkei kaufte trotz heftiger Kritik ihrer NATO-Partner ein russisches Flugabwehrsystem und äußerte sich verächtlich über den Westen.

Noch vor kurzem warf Erdoğan den USA und Europa vor, in der Ukraine-Krise alles schlimmer zu machen. Nach dem Ende der Amtszeit von Angela Merkel gebe es eine Führungskrise in Europa, auch US-Präsident Biden mache keine gute Figur. Der türkische Präsident wollte sich als Vermittler anbieten, doch der Ukraine-Krieg erdet dieses politische Schauspiel.

Die angesichts massiver Geldentwertung nicht einfache Lebenslage für die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung wird durch den Ukraine-Krieg weiter belastet. In den vergangenen Wochen gab es Panikkäufe von Sonnenblumenöl, ein wichtiger Bestandteil der Grundnahrungsmittel. 70% ihres Bedarfs an Pflanzenöl importiert die Türkei aus Russland (etwa 65%) und der Ukraine (mehr als 4%). Auch 70% ihres Weizenimports stammen aus Russland. Noch weitreichender wäre ein Lieferstopp bei russischem Erdöl.

1 Liter Sonnenblumenöl kostete vor zwölf Monaten 19 türkische Lira, jetzt sind es fast 40 (rund 2,50 Euro). Das ist ein hoher Preis in einem Land, in dem mehr als zehn Millionen Beschäftigte nur den Mindestlohn erhalten und rund 3,5 Millionen Beschäftigte sogar für noch weniger arbeiten.

Die Angst vor einer Lebensmittelknappheit ist daher sehr groß. Der Anstieg des Preises für Sonnenblumenöl verdeutlich die Preissteigerungen und die Geldentwertung. Der Preisanstieg der Verbraucherpreise hat sich weiter beschleunigt – im Februar über 54%. Die Mehrheit der Bevölkerung leidet seit Monaten unter der Geldentwertung, die auch die Folge einer absurden Kredit- und Zinspolitik von Präsident Erdoğan ist. Ein Abflachen der Inflation ist nicht in Sicht.

In Istanbul haben dieser Tage Tausende gegen die zunehmende wirtschaftliche Misere demonstriert und trugen Schilder mit der Aufschrift: »Es reicht!« Die schätzungsweise 5.000 Demonstrant*innen forderten vor allem eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns auf 5.200 Lira (331 Euro). Angeprangert wurde zudem die stark gestiegene Inflation. Zu der Demonstration hatten die größten Gewerkschaften des Landes aufgerufen.

Je höher die Preise für Grundnahrungsmittel steigen, desto geringer ist die Kaufkraft besonders derjenigen, die nur den Mindestlohn verdienen. Grund hierfür ist die massive Abhängigkeit der türkischen Lira von der Entwicklung des US-Dollar und des Euro. Trotz einer zwischenzeitlichen Anhebung des Mindestlohns mittlerweile auf 2.825 Lira (ca. 179 Euro) sank seine Kaufkraft in den vergangenen sechs Jahren durch die Abwertung der Lira im von 368 auf 283 US-Dollar.

Grund für die hohe Inflationsrate ist vor allem die Abwertung der türkischen Währung, was den Import verteuert. Die Lira hatte allein im vergangenen Monat rund 30% ihres Wertes gegenüber dem US-Dollar eingebüßt. Die Opposition zweifelt die offiziellen Daten an und geht von einer noch deutlich höheren realen Teuerungsrate aus. Die Erfahrungen, die die Menschen in ihrem Alltag machen, untergraben das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Denn die Preise, die die Bevölkerung auf dem Wochenmarkt sehen, stimmen nicht mit den Daten des Statistikamtes TÜIK überein.

Die hohe Inflation und die massive Schwächung der Kaufkraft werden sich in der näheren Zukunft mehr und mehr in den politischen Entscheidungen niederschlagen. Die Wirtschaftskraft der Türkei ist zwar in den letzten gewachsen, aber das persönliche Einkommen ist zurückgegangen.

Ein Wirtschaftsexperte drückt diese Entwicklung so aus: »Dieses Wachstum kommt der Öffentlichkeit auf lange Sicht nicht zugute. Wir haben uns von einer nachhaltigen Politik entfernt. Die Menschen sind mit einer hohen Schuldenlast konfrontiert und ihre Einkommen sinken weiter. Menschen aus allen Bereichen des Konsums werden dies immer deutlicher feststellen. Es wurden große Fehler gemacht.«

Mit großer Sorge blicken die Türk*innen aktuell auf die Sommersaison. Russland und die Ukraine sind neben Deutschland die wichtigsten Herkunftsländer für Tourist*innen. Ökonomen befürchten, dass ohne die geplanten Deviseneinnahmen der Lira bald ein neuerlicher Sturzflug bevorsteht. Angesichts der Wahlen im Jahr 2023 will Erdoğan weitere wirtschaftliche Erschütterungen um jeden Preis verhindern. Die aktuelle Aufwertung des Autokraten ist auch ein Faktor, die miserable Regierungsbilanz und die Zerstörung der demokratischen Strukturen im politischen System und in der Zivilgesellschaft zu überdecken.

Viele Beobachter*innen der türkischen Außenpolitik sehen in der gegenwärtigen Krise eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen der Türkei und ihren traditionellen Verbündeten im Westen zu verbessern. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, dass der NATO-Staat Türkei zurzeit etwa weitere russische Waffensysteme anschafft. Der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 vor drei Jahren hat das Verhältnis zu Washington nachhaltig belastet. Gleichzeitig könnten angesichts der harten Sicherheitsinteressen Streitpunkte wie der Zustand des türkischen Rechtsstaats in den Hintergrund rücken.

Erdoğan will die Türkei als eigenständige Regionalmacht profilieren, ihre Interessen in den Vordergrund stellen und nicht unbedingt die Haltung von Europa und den USA übernehmen. Das führt trotz seiner Charmeoffensive zu Differenzen mit den westlichen Partnern. Marc Pierini, ein ehemaliger EU-Botschafter in Ankara, wies jetzt in einer Diskussion der Denkfabrik Carnegie Europe darauf hin, dass sich die Türkei nicht an den verstärkten Patrouillen von NATO-Kampfflugzeugen in den osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine beteiligt. Zur Rücksicht auf Russland gehört auch, dass der türkische Präsident kritisiert, der Westen habe bei der Entschärfung der Krise versagt.

Zwar arbeiten die Regierungen der EU-Länder und die türkische Regierung seit einiger Zeit beim heiklen Flüchtlingsthema fast geräuschlos zusammen, doch bei anderen Themen gibt es keine Bewegung. Die EU lehnt die türkischen Forderungen nach visafreiem Reisen für Türk*innen in Europa und nach einer Modernisierung der Zollunion weiter ab.

Dutzende Bundesbürger*innen sitzen aus politischen Gründen in der Türkei in Haft oder sind mit einer Ausreisesperre belegt. Regierungskritiker*innen in der Türkei hoffen, dass die neue Bundesregierung die rechtsstaatlichen Rückschritte in Ankara entschlossener anspricht als ihre Vorgängerin.

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