4. September 2019 Hinrich Kuhls: Britannien im politischen Ausnahmezustand

Die Spaltung der Konservativen Partei

Die im Juli ohne Mehrheit ins Amt gehobene neue Tory-Regierung mit ihrem Premier Johnson ist an ihrem zweiten Arbeitstag im Parlament demaskiert worden. Mit Arroganz sah sie ihrer Niederlage entgegen. Doch ihre Rache folgte prompt. Johnson schloss 21 Abgeordnete, die gegen die Regierung gestimmt haben, aus der Fraktion der »Conservative and Unionist Party« des Vereinigten Königreichs aus.

Mit 328 zu 301 Stimmen hat das Unterhaus am 3. September nach einer Dringlichkeitsdebatte einem Geschäftsordnungsantrag zugestimmt, demzufolge für den nächsten Tag nicht die Regierung, sondern das Parlament die Tagesordnung bestimmt. Ziel ist es, in dieser Zeit einen Gesetzesentwurf zur Verhinderung eines No-Deal-Brexits einzubringen und ihn in kurzer Frist zu verabschieden.

Nach der Niederlage kündigte Johnson an, einen Antrag auf Neuwahl des Unterhauses zu stellen. Für die Annahme des Antrags müssen zwei Drittel aller Abgeordneten stimmen. Oppositionsführer Corbyn und die Vorsitzenden der anderen Oppositionsparteien beharren jedoch darauf, dass erst das Gesetz zur Abwendung eines Chaos-Brexits unter Dach und Fach sein muss, bevor sie Neuwahlen zustimmen.

So ist absehbar, dass sich die parlamentarische Blockade auch in der Frage der Selbstauflösung fortsetzt. Ob die Opposition ihr Ziel, einen Chaos-Brexit zu verhindern, erreichen kann, ohne einen Misstrauensantrag des Vorsitzenden der Labour Party und Oppositionsführers, Jeremy Corbyn, gegen der Regierung Johnson zu unterstützen und geschlossen durchzubringen, bleibt zunächst noch offen.


Fraktionsausschluss

Auf Regierungsseite sprach der Parlamentsminister (»Leader of the House«) Rees-Mogg, im Privatleben Vorstandsmitglied eines Finanzfonds, gegen den überparteilichen Antrag zur Verfahrensänderung der Geschäftsordnung des Parlaments. Nach seinem Statement brachte er sein Desinteresse an der weiteren Debatte durch eine legere Körperhaltung (siehe Foto oben) auf der Regierungsbank zum Ausdruck, so sicher waren sich die Mitglieder des inneren Kabinetts, dass ihre Androhung des Fraktionsausschlusses bei den innerparteilichen Rebellen Wirkung zeigen würde. Eine Fehleinschätzung. Zu den Ausgeschlossenen zählen:

  • Kenneth Clarke, rechtsliberaler Alterspräsident des Parlaments, seit 1970 Tory-Abgeordneter, Mitglied der Regierungen Thatchers und Majors (zuletzt dort als Schatzkanzler) und bei Cameron Justizminister;
  • Sir Nicholas Soames, ein Enkel Winston Churchills, früherer Staatssekretär im Verteidigungsministerium;
  • David Gauke, der als Justizminister aus dem Kabinett May wegen Differenzen in der Brexit-Politik zurückgetreten war;
  • Dominic Grieve, von 2010 bis 2014 als Generalstaatsanwalt der Rechtsberater im Ministerrang im Kabinett Cameron;
  • Rory Stuart, bis vor kurzem Minister für Entwicklungszusammenarbeit, im Sommer noch einer der Gegenkandidaten Johnsons bei der Wahl zum Tory-Vorsitz und Hoffnungsträger des kleinen rechtsliberalen Flügels der Tories;
  • Caroline Nokes, im Kabinett May Staatssekretärin im Sozialministerium und dort zuständig für die Einführung des neuen Sozialleistungsrechts »Universal Credit«, dem Äquivalent der Hartz-IV-Gesetze;
  • Philip Hammond, Außenminister im Kabinett Cameron und Finanzminister in den Kabinetten I und II der im Sommer gestürzten Premierministerin May. Als Verfechter eines »weichen« Brexits und einer harten Austeritätspolitik hatte er zum frühzeitigen Scheitern von Mays Politik des mitfühlenden Kapitalismus beigetragen. Am Tag zuvor war er von seiner Wahlkreisorganisation als Kandidat für die nächste Unterhauswahl bestätigt worden.
  • weitere 14 Abgeordnete, die zum Teil seit Jahrzehnten ihre Wahlkreise im Parlament vertreten. Die meisten von ihnen haben angekündigt, bei der nächsten Parlamentswahl nicht wieder anzutreten.

Die ehemalige Premierministerin May hatte in der ersten Sitzung nach der Sommerpause ostentativ neben dem Alterspräsidenten Clarke und nicht in der Mitte der zu Johnson übergelaufenen Zentristen Platz genommen. Ihr Nachfolger hatte – wie fast alle jetzigen Kabinettsmitglieder – in den Monaten zuvor mehrere Male gegen ihre Vorlagen zur Ratifizierung des Brexit-Abkommens gestimmt, ohne dass er  – entgegen der Konvention – aus der Tory-Fraktion ausgeschlossen worden war.

Für eine Retourkutsche seitens May war es jetzt zu spät. Mit ihrer Stimme gegen Johnson hätte sie den gesamten Verfassungscoup vom Juli zur Sprache gebracht, der jetzt zwangsläufig die neue Eskalationsstufe nach sich ziehen musste. Denn May hatte als Chefin einer Minderheitsregierung ihren Nachfolger im Parteivorsitz ohne Feststellung von dessen parlamentarischer Mehrheitsfähigkeit zum Premierminister vorgeschlagen, und das Staatsoberhaupt hatte dieser Komplizenschaft innerhalb der »hässlichen Partei« des Landes zugestimmt, indem sie Johnson zum Premier ernannte. Der Machtübergang von einer zur nächsten Minderheitsregierung und die Diskrepanz von direkter und repräsentativer Demokratie sind der Rahmen des aktuellen Verfassungskonflikts.


Umbau in eine rechtspopulistische Partei

Erosionsprozesse in der Konservativen Partei waren schon vor dem Fraktionsausschluss sichtbar geworden. Die Vorsitzende der schottischen Konservativen, Ruth Davidson, hatte ihr Amt am Tag nach Johnsons Ankündigung der Prorogation des Parlaments niedergelegt, ebenso der Fraktionsvorsitzende der Tories im Oberhaus, Lord Young, der während der Koalitionsregierung von Konservativen und Liberaldemokraten von 2010 bis 2015 parlamentarischer Geschäftsführer der Tory-Fraktion war.

Zu Beginn der Unterhaussitzung am 3. September war der Abgeordnete Philipp Lee demonstrativ und unter zustimmendem Raunen von den Bänken der Regierungspartei auf die der Opposition gewechselt – mitten hinein in die Fraktion der Liberaldemokraten. Damit hatte das Kabinett Johnson schon vor der Abstimmung trotz der weiter fortbestehenden Unterstützung seitens der nordirischen DUP auch rechnerisch seine Mehrheit im Parlament verloren.

Steve Baker, der neue Sprecher der innerparteilichen Fraktion der EU-Feinde (European Research Group, ERG) und in dieser Funktion Nachfolger von Rees-Mogg, kündigte nach der Niederlage an, dass sie darauf drängen, in der bevorstehenden Neuwahl eine enge Zusammenarbeit mit Farages Brexit-Partei zu vereinbaren. Johnson habe das bisher zwar öffentlich abgelehnt, aber nur mit einer Vereinbarung mit den Rechtspopulisten lasse sich die Macht gegenüber der Labour Party, der SNP und den Liberaldemokraten behaupten.

Johnsons Niederlage und der umgehende Fraktionsausschluss sind nicht die ersten Schüsse im Kampf um die Ausrichtung der Konservativen Partei. Die Auseinandersetzung um den Brexit, der insgesamt in der Tory-Partei wütet, gleicht jener Spaltung, die Robert Peels Aufhebung der Korngesetze 1846 folgte.

Johnson agiert so, als wolle er eine solche Spaltung, um seine feindliche Übernahme der Tory-Partei zu besiegeln. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit seiner Machtübernahme überrascht nur auf den ersten Blick, denn in der Parteimitgliedschaft hatte sich dieser Kurswechsel schon seit zwei Jahren vollzogen, nachdem in der Parlamentswahl 2017 der Machtverlust gerade noch einmal hatte verhindert werden können.[1] Mehr als zwei Drittel der Tory-Mitglieder hatten Johnson – den Verfechter eines No-Deal-Brexits – im Juni zum Vorsitzenden gewählt. Einen Monat später sorgte er dafür, dass ausschließlich Anhänger*innen eines No-Deal-Brexits am Kabinettstisch Platz nehmen durften.

Jetzt hat Johnson seine Mehrheit im Parlament verloren, aber seinen Einfluss auf die Partei gestärkt. Die Kritiker wurden rausgeschmissen, so dass er bei der bevorstehenden Wahl, sollte sie noch Mitte Oktober stattfinden, mit dem Wahlversprechen kandidieren kann, das Gesetz rückgängig zu machen, mit dem die Opposition und die jetzt ausgeschlossenen Gegner*innen in der eigenen Partei die Regierung verpflichten wollen, beim Europäischen Rat für eine Verlängerung der Austrittsfrist über den 31. Oktober hinaus einzutreten, damit der ungeordnete Brexit ausgeschlossen wird.

Johnson hat in seiner ansonsten konfusen Regierungserklärung zu den Ergebnissen des G7-Gipfels erneut klar gemacht, dass er zwar – anders als Brexit-Notstandsminister Gove hat anklingen lassen – allen Gesetzen Folge leisten werde, dass er aber auf keinen Fall einen Antrag auf Verlängerung der Austrittsfrist stellen wird. Dieser Widerspruch kann nur mit einem offenen Verfassungsbruch oder einer Neuwahl gelöst werden. Daher bedient sich Johnson Trumps Taktik, die Gegner anzugreifen, um die eigenen Anhänger*innen zu motivieren.

Dass dabei die Konservative Partei gespalten wird, interessiert ihn und seine Brexit-Verfechter im Kabinett nicht, weil sie davon ausgehen, auf das große Wählerreservoir der Brexit-Partei zurückgreifen zu können. Mit der Verwandlung der Tory-Partei in eine Brexit-Partei wird ihr Umbau in eine rechtspopulistische, nationalistische englische Regionalpartei fortgesetzt.

Der Guardian kommentiert in seinem Leitartikel: »Johnsons Kampffeld wird die Aktualisierung des Populismus sein, den der damalige Tory-Vorsitzende William Hague schon im Wahlkampf 2001 auf der Straße erprobt hat: dass die Menschen von einer ›liberalen Elite‹ verraten werden, die ihre Bedenken gegen Ausländer vorsätzlich ignoriert – genauso wie die Bedrohung, der sie sich durch die EU ausgesetzt fühlen und die, wenn ihr nicht entgegengetreten wird, das Vereinigte Königreich zu einem ›fremden Land‹ machen würde. Doch selbst Hague vertrat nicht die Auffassung, dass die Bündelung der Souveränität mit europäischen Partnern unsere eigene Souveränität untergräbt, und dass uns das Recht entzogen wird, Deregulierungen durchzusetzen und für uns das Beste aus den Handelsabkommen mit dem Rest der Welt zu herauszuholen. Hague wollte einen Kulturkrieg mit Europa, keinen Wirtschaftskrieg. Johnson will beides. So weit hat sich das bösartige Virus des europafeindlichen Populismus ausgebreitet. Er wird die Nation weiterhin tief spalten, selbst dort, wo es bisher noch Übereinstimmungen gibt. Johnson versteht intuitiv, dass es die Turbulenzen sind, die seine Macht sichern, was einschließt, das er alle Bereiche der Regierungsgeschäfte niederbrennt, solange er dadurch im Amt bleiben kann. Das muss gestoppt werden.«

Gemessen an der politischen Aufmerksamkeit und Aktion der EU-Institutionen und der Regierungen der EU27 – vor allem der deutschen und französischen, mit Ausnahme der irischen – ist Großbritannien nicht die zweitstärkste Volkswirtschaft der EU mit einem Sitz im UN-Sicherheitsrat, sondern eine abgelegene Insel auf der südlichen Halbkugel – nicht der Erde, sondern des Mars. Diese Inaktivität einer staunenden und erstarrten europäischen Elite wird mehr als einen Katzenjammer zur Folge haben.

Anmerkung

[1] Vgl. hierzu: Hinrich Kuhls: Ein neuer Premierminister im uneinigen Königreich. Wahlkampf bei den britischen Konservativen. In: Sozialismus.de, Heft 7/8-2019 (Juli/August), S. 21-24.

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