5. März 2025 Redaktion Sozialismus.de: Eine »Koalition der Willigen« soll es richten

Die Stunde Europas nach dem Eklat in Washington?

Die Europäer versuchen nach dem Zerwürfnis im Weißen Haus die Wogen zu glätten. Eine informelle Staatengruppe soll zum wichtigsten sicherheitspolitischen Format Europas werden.

Der Eklat zwischen Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump sowie dessen Vizepräsidenten J.D. Vance hat in Europa diplomatische Hektik ausgelöst. Die schroffe Abfuhr, die der ukrainische Präsident im Oval Office erfahren musste, animierten etliche EU-Regierungschefs zu Solidaritätsbekundungen für ihn. Außerdem stellte sich der britische Premierminister Keir Starmer an die Spitze der Bemühungen, den Bruch zwischen Europa und den USA seit dem Zweiten Weltkrieg zumindest teilweise wieder zu kitten.

Die aktuelle Wendung der amerikanischen Außenpolitik, vor allem das unerwartete Entgegenkommen gegenüber Russland im Ukraine-Krieg, hat die europäische Politik aufgeschreckt. Für mehrere Jahrzehnte glaubte die Mehrheit der europäischen Politiker*innen und Völkerrechtler*innen an die »regelbasierte« Weltordnung der Nachkriegszeit. Sie beginnen jetzt langsam zu begreifen, dass sie einer Illusion gefolgt sind. Die lange gültige Regel, dass feststehende Staatsgrenzen nur in beiderseitigem Einvernehmen geändert werden dürfen, konnte nur so lange Gültigkeit haben, wie die politisch-militärisch stärksten Mächte der Welt sie anerkennen.

Die Folgen des Bruchs zwischen Trump und Selenskyj für Europa sind fatal. Auf die bisherige verpflichtende amerikanische Zusage, im Rahmen der NATO bei einem Konflikt mit der östlichen Supermacht Hilfestellung zu leisten, können sich die europäischen Staaten künftig nicht mehr verlassen. Selbst wenn eine Wiederannäherung noch einmal gelingen sollte, wofür derzeit eher wenig spricht, ist die »transatlantische Allianz« schwer beschädigt.

Der britische Premier Starmer war nicht nur in Sachen Solidarität mit Selenskyj in vorderster Front, sondern hat jetzt auch eine politische Initiative ergriffen: London und Paris wollen mit anderen Staaten und der Ukraine einen eigenen Plan für einen Waffenstillstand ausarbeiten und diesen der internationalen Politik und vor allem der US-Administration vorlegen.

Diese Entwicklung innerhalb der europäischen Politik kann nicht wirklich überraschen, deshalb haben London und Paris auch den Arbeitstitel »Koalition der Willigen« gewählt. Diese intensiviert ihre Vorbereitungen zur Entsendung von Soldat*innen in die Ukraine, um einen möglichen Waffenstillstand zu überwachen.

Nach dem Gipfel in London wird der Plan der »willigen« europäischen Staaten klarer. An erster Stelle soll ein Friedensabkommen stehen, für den der französische Präsident Emmanuel Macron in einem Interview mit »Le Figaro« bereits weitere Details hat durchblicken lassen. So soll ein Schritt für ein mögliches Friedensabkommen in einer einmonatigen Waffenruhe »in der Luft, auf See und im Bereich der Energieinfrastruktur« bestehen.


Die »Willigen«

Um einen möglichen Friedensplan militärisch abzusichern, hätten sich laut Starmer bereits weitere Staaten am Sonntag bereit erklärt, mitzutun. Es ist noch nicht klar, wer diese sind und was ihre Aufgabe sein würde, doch erste Linien zeichnen sich ab. Bereits zwei Wochen zuvor hatte Starmer die Entsendung von Truppen aus Großbritannien in Aussicht gestellt, ebenso Frankreich. Beide Länder bestehen aber darauf, dass ein solcher Einsatz durch die USA abgesichert wird.

Auch die Niederlande und Schweden haben sich in der Vergangenheit offen dafür gezeigt, sich an der Entsendung von Truppen zu beteiligen. Laut der Deutschen Presse-Agentur hat Macron klargestellt, dass nur im Falle eines stabilen Waffenstillstandes – und nicht bereits während der zunächst angestrebten Waffenruhe – europäische Soldat*innen entsandt würden.


Die Unentschiedenen

Nach einem Gipfel in Paris, wo dieses Thema bereits diskutiert worden war, hatte sich Spaniens Ministerpräsident Pedro Sanchez gegen eine Entsendung von Truppen ausgesprochen, solange der Konflikt im Gang sei. Dänemark zeigte sich zwar grundsätzlich offen, allerdings müsste im Vorfeld noch einiges geklärt werden, sagte deren Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ebenfalls in Paris.

Deutschlands derzeit noch amtierender Bundeskanzler Olaf Scholz zeigte sich »irritiert«, als die Diskussion aufkam, und betonte, er halte sie für verfrüht. Ähnlich äußerte sich auch Friedrich Merz, der allerdings den Einsatz der deutschen Bundeswehr in der Ukraine auch nicht ausschloss.


Die Unwilligen

»Wir haben nicht vor, polnische Truppen in die Ukraine zu schicken, aber wir werden den Ländern, die das wollen, logistische und politische Unterstützung zukommen lassen« sagte Polens Ministerpräsident Donald Tusk, als die Diskussion erstmals Fahrt aufnahm, obwohl Polen als starker Unterstützer der Ukraine gilt.

Die Ministerpräsidentin von Italien, Giorgia Meloni, äußerte in einem Interview Zweifel an der Wirksamkeit einer europäischen Friedenstruppe und erklärte, keine  Soldaten entsenden zu wollen. Der Premierminister der Slowakei, Robert Fico, erklärte, dass es sich die EU beim Thema Truppen nicht einmischen solle – das sei ein Thema für die UNO.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nahm zwar nicht unmittelbar Bezug auf die Truppenidee, schrieb jedoch auf dem Kurznachrichtendienst X, dass die europäische Führungsspitze sich dazu entschieden habe, mit dem Krieg fortzufahren, anstatt sich für Frieden zu entscheiden. Dies sei »schlecht, gefährlich und ein Fehler«. Ungarn lehnt von Beginn an Militärhilfen für die Ukraine ab und blockiert diese mitunter auch in der EU. Auch für einen an diesem Donnerstag anstehenden EU-Gipfel hat der ungarische Ministerpräsident per Brief an den Ratsvorsitzenden Antonio Costa neue Blockaden angekündigt.

Zudem sind die Details zum Umfang der geplanten Truppe, zu den Modalitäten ihrer Stationierung und zu den beteiligten Ländern noch weitgehend offen. Auch Stamers Bestehen auf einer unabdingbaren amerikanischen Sicherheitsgarantie wirft weitere Fragen zur Realisierbarkeit des Plans auf. Völlig unklar blieb auch, wie ein Waffenstillstand nach den Vorstellungen von London und Paris genau aussehen würde und wie die Europäer*innen Moskau von ihren Plänen überzeugen wollen.


Die EU spielt keine tragende Rolle

Starmer betonte, Europa stehe vor der größten sicherheitspolitischen Herausforderung seit einer Generation. Seine Labour-Regierung hatte letzte Woche bereits eine markante Erhöhung des Verteidigungsbudgets angekündigt. Nun erklärte NATO-Generalsekretär Rutte, etliche Alliierte hätten in London ebenfalls die Erhöhung ihrer nationalen Verteidigungsbudgets zugesagt.

Die Aufrüstungsanstrengungen sollen Europa von den USA unabhängiger machen. Gleichzeitig entsprechen sie Trumps Forderungen und sollen dazu dienen, ihn in der europäischen Sicherheitsarchitektur zu halten. Die Rechtsnationalistin Meloni, die sich auch dank ihrer ideologischen Nähe zu Trump als transatlantische Brückenbauerin versucht, sagte, es gelte, ein dringliches Gipfeltreffen zwischen der EU und den USA einzuberufen.

Allerdings scheint man in Washington an der EU als Gesprächspartnerin nicht sonderlich interessiert zu sein. Trump hatte unlängst erklärt, er halte die EU für ein Konstrukt, das gegründet worden sei, um den USA zu schaden. Ohnehin ist der amerikanische Präsident kein Anhänger multilateraler Formate, sondern setzt auf bilaterale Deals.

Umso schwerer war es Europa in den letzten Wochen gefallen, auf die neuen Töne aus Washington mit einer abgestimmten Strategie zu reagieren. Der finnische Präsident Alexander Stubb sprach in London von einer »Kakofonie«. Während der spanische Regierungschef Sánchez Trump kritisierte, setzten Macron und Starmer bei ihren Besuchen in Washington auf Charmeoffensiven. Konkrete militärische Zusagen erhielten die beiden freilich auch nicht.

Selbst wenn das Londoner Treffen ohne bahnbrechende Resultate zu Ende ging, könnte die informelle Staatengruppe zum wichtigsten sicherheitspolitischen Format Europas avancieren. Statt des deutsch-französischen EU-Motors sind Frankreich und das Nicht-EU-Land Großbritannien als regionale Militär- und Atommächte die treibenden Kräfte.

Die EU ist in der Handelspolitik eine Macht, und will auf einem Sondergipfel in Brüssel über die vereinfachte Finanzierung der Aufrüstung befinden. In harten Sicherheitsfragen spielte sie aber im Gegensatz zur NATO noch nie die Hauptrolle. Zusätzlich geschwächt wird sie durch die Uneinigkeit ihrer Mitgliedstaaten.

Laut Starmer müsse Europa angesichts der rasanten geopolitischen Verschiebungen jetzt die Schwerstarbeit zur Garantie seiner Sicherheit verrichten. Er habe Verständnis dafür, dass sich nicht alle Staaten gleichermaßen an dieser Arbeit beteiligen wollten. Darum garantiere nur eine »Koalition der Willigen«, dass Europa schnell und flexibel handeln könne, statt sich in der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu verlieren.

Das westliche Bündnis ist damit auf Kollisionskurs: Diese europäische Koalition will die Ukraine aufrüsten, um das Land vor Russland zu schützen. Amerika wiederum sucht den schnellen Frieden, möglicherweise zum eigenen Vorteil und dem von Russland. Widerstand gegen ein Kriegsende, lässt Trump verlauten, werde Amerika nicht mehr lange ertragen. Und Europa dürfte aus der politischen Unsicherheit und Zögerlichkeit wohl nicht herausfinden.

 

Neue EU-Pläne zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie und zur Erhöhung der militärischen Fähigkeiten könnten fast 800 Mrd. Euro mobilisieren. Das sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die EU werde vorschlagen, den Mitgliedstaaten mehr steuerlichen Spielraum für Verteidigungsinvestitionen sowie 150 Mrd. Euro an Darlehen für diese Investitionen zu gewähren, und werde versuchen, auch privates Kapital zu mobilisieren.

Auch die mögliche neue deutsche Regierung von CDU/CSU und SPD nimmt bereits vor den eigentlichen Koalitionsverhandlungen ein massives weiteres Aufrüstungsprogramm in Höhe von rd. 500 Mrd. Euro in den Blick. Dafür soll sogar auf abenteuerliche Weise noch im alten Bundestag eine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Änderung der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse erreicht werden (dazu in einer nächsten Analyse mehr).

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