14. August 2018 Joachim Bischoff

Die Türkei am Abgrund – Erdogan vor dem Scheitern

Vergiftetes Verhältnis zwischen Trump und Erdogan (Foto: White House/Washington D.C. | Public Domain Mark 1.0)

Seit Monaten schon versucht Präsident Erdoğan, den Verfall der Lira und die Krisensymptome durch eine »eigenwillige« Wirtschaftspolitik zu stoppen. Wiederholt forderte er seine Landsleute auf, ihre Sparguthaben, die sie z.T. in Gold oder Währungen wie Euro und US-Dollar halten, in die heimische Währung umzutauschen.

Immer wieder attackierte er zudem die Notenbank in Ankara, weil sie die Leitzinsen erhöht hatte und damit die Konjunktur in der Türkei gefährde. Erdoğan hat sich selbst wiederholt als »Gegner der Zinsen« bezeichnet und angekündigt, eine größere Kontrolle über die Geldpolitik ausüben zu wollen. Er will, dass die Banken billige Kredite vergeben und so das Wirtschaftswachstum ankurbeln.

Erdoğan bezeichnete schließlich den beschleunigten Kursverfall der Lira als »Rakete« in einem Wirtschaftskrieg gegen sein Land. Der Weg aus der »Währungsverschwörung« bestehe darin, die Produktion zu steigern und die Zinsen zu senken. Er bestritt, dass die Türkei in einer Finanzkrise wie der in Asien vor zwei Jahrzehnten stecke. Der Verfall der Lira sei das Ergebnis eines Komplotts und spiegele nicht die wirtschaftlichen Fundamentaldaten des Landes wider. »Was ist der Grund für diesen Sturm im Wasserglas? Es gibt keinen wirtschaftlichen Grund dafür«, sagte Erdoğan. »Das ist das, was man eine Operation gegen die Türkei nennt.«

Keine Frage: Der Währungszerfall hat sich durch die Konfrontation zwischen der Türkei und der US-Administration Trumps massiv verschärft. Es gibt reichlich politischen Dissens:

  • Die Türkei fordert, den im amerikanischen Exil lebenden islamischen Priester Fethullah Gülen, der den Putsch von 2016 organisiert haben soll, an die Türkei auszuliefern. Ankara habe den Amerikanern alle dafür nötigen Dokumente übergeben, sagte Erdoğan und schlug unter Verweis auf die amerikanische Forderung nach einer Freilassung des US-Pastors Andrew Brunson einen Deal vor: »Ihr habt einen anderen Pastor in euren Händen. Gebt uns diesen Pastor, und wir werden in unserer Justiz tun, was wir können, um euch diesen hier zu geben.« Die Trump-Administration hatte in der Vergangenheit keine Besorgnis erkennen lassen über die Menschenrechtslage in der Türkei und die Erosion von Demokratie und Rechtsstaat vor allem seit dem vereitelten Putsch im Sommer 2016. Der Konflikt um den US-Pastor Brunson hat die US-Administration herausgefordert. Zwei Jahre war er in der Türkei in Haft unter höchst fragwürdiger Beweislage wegen Unterstützung der Gülen-Bewegung und eines terroristischen Hintergrunds. Die Trump-Regierung hatte hinter den Kulissen versucht, seine Freilassung zu erreichen. Der Pastor kam zwar aus dem Gefängnis, steht aber seither unter Hausarrest. Die USA setzten Sanktionen in Kraft und verfügten, Vermögenswerte des türkischen Innen- sowie des Justizministers einzufrieren. US-Präsident Donald Trump hat schließlich eine Verdoppelung der Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus der Türkei angeordnet. Erdoğan drohte daraufhin mit einer wirtschaftlichen und politischen Abkehr vom Westen und kündigt eine stärkere Hinwendung zu Russland, China und der Ukraine an.
  • Auch geopolitisch gibt es Ärger zwischen den Ländern: Die USA unterstützen im Syrienkrieg die Kurden, ihre einzigen verlässlichen Verbündeten in der Region, und die Türkei bekämpft sie. Die USA wollen eine starke kurdische Präsenz in Syrien, die Türkei möglichst gar keine oder nur ein kurdisches Vasallengebilde unter türkischer Kontrolle. Die Türkei hat die Kurdenprovinz Afrin und angrenzende Gebiete in Nordsyrien erobert, in einer anderen Region, in Idlib, unterhält sie zwölf Militärstützpunkte. Dort sind Kämpfer*innen zahlreicher Milizen, die – gestärkt von Ankara – gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad kämpfen. Syrien hat angekündigt, das türkisch dominierte Idlib »befreien« zu wollen, und die Türkei hat ihrerseits gedroht, ihre Offensive auf den von den Amerikanern und Kurden gehaltenen Teil Syriens ausweiten zu wollen. In Ankara geht man davon aus, dass Moskau und Teheran nichts dagegen hätten, wenn die USA in Syrien eine Niederlage erleiden.
  • Schließlich ist der Nato-Partner der US-amerikanischen Politik auch im Iran in die Quere gekommen. Daher eine Milliardenbuße gegen die staatlich kontrollierte türkische Halkbank wegen Umgehung der amerikanischen Iran-Sanktionen. Es gibt US-amerikanischen Widerstand gegen Kredite der Weltbank und des Weltwährungsfonds an Ankara. Schließlich zögern die USA bei der Lieferung von Militärgütern, wie z.B. von F35-Kampfflugzeugen.

Neben den politischen Konflikten ist die Türkei, wie andere Schwellenländer auch, in die Gefahrenzone der Aufwärtstendenz des US-Dollars geraten. Die in den USA schrittweise steigenden Zinsen und das ungebrochene Vertrauen in Amerikas Wirtschaftswachstum motivieren Investoren seit Monaten dazu, ihr Geld aus Schwellenländern wie der Türkei oder Argentinien abzuziehen und in den USA anzulegen. Durch das weltfremde Agieren der türkischen Regierung ist der Währungsverfall massiv befördert worden: Die Lira hat seit Jahresbeginn fast 50% ihres Wertes verloren.



Warum reagieren die Finanzmärkte so eindeutig negativ?

  • Die Türkei hat einen Großteil ihrer Wirtschaftskonjunktur – vor allem die massive Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur – über Kredite finanziert. Auch viele Unternehmen in der Türkei haben in den letzten Jahren auf diese Finanzierung zurückgegriffen.
  • Wachsende Schuldenberge und steigende Zinsen – das ist eine explosive Mischung. vor allem für viele Schwellenländer, deren Kapitalmärkte stark unter Druck geraten sind. Immer mehr Investoren stellen sich die Frage, ob die Zinsaufschläge für Emerging-Market-Bonds noch die schwächere Kreditwürdigkeit dieser Länder kompensieren. Seit einem Jahr gibt es einen Trend der Kapitalverlagerung aus den Schwellenländern.




  • Ein weiterer Faktor für die Kapitalflucht aus der Türkei: Über ein Drittel der türkischen Wertpapiere im Ausland liegen in den USA (auf Platz zwei liegt Luxemburg, weil dort viele europäische Anlagefonds ihren Sitz haben).




  • Zeitgleich zu dieser Trendwende in der Kapitalbewegung in die Schwellenländer steigt der Erdölpreis – auch durch die einseitige Aufkündigung des Iran-Abkommens und die erhöht das Gefährdungspotenzial für die Türkei. Das rohstoffarme Land ist zur Deckung seines rasant steigenden Energiebedarfs fast vollständig von Importen abhängig. Die ambitionierten Pläne zum Bau eigener Kernkraftwerke ändern daran wenig. Und die Energieimporte werden traditionell in harten US-Dollars abgerechnet, womit die Kosten gewissermaßen doppelt steigen.
  • Konsequenz: Folgen des Währungsverfalls der türkischen Lira für ausländische Banken, für andere Schwellenländer und Volkswirtschaften der Euro-Zone sind zu erkennen. Mit dem Verfall der Lira gerieten zunächst die Währungen und Vermögenswerte in anderen Schwellenländern unter Druck, während der US-Dollar an Wert gewann. Der russische Rubel fällt weiter, und der südafrikanische Rand erreichte das niedrigste Niveau seit Juni 2016. Auch die Währungen Mexikos, Indonesiens und Indiens notierten deutlich im Minus. Eine systemische Gefahr für den europäischen Bankensektor droht derzeit nicht, einzelne Kreditinstitute könnten in Schwierigkeiten geraten. Es verstärkt sich der Druck, die Türkei solle Hilfe vom Internationale Währungsfonds (IWF) erbitten. Die türkische Regierung weigert sich bislang. Es wäre eine politische Niederlage für die AKP und den Präsidenten Erdoğan.

 

Hausgemachte Krise?

Den Sturzflug der Währung sucht die türkische Regierung jetzt dadurch zu bekämpfen, dass sie mit Gold und Devisen in die Finanzmärkte eingreift. Die Zentralbank in Ankara gab an, sie würde Mittel von etwa 10 Mrd. Lira., sechs Mrd. US-Dollar und drei Mrd. US-Dollar an Goldreserven bereitstellen. Doch die türkische Währung erholt sich nur kurzzeitig. Außerdem sucht die Regierung ihre wirkungslosen Appelle zum Umtausch von Fremdwährungen in Lira durch Repression zu ergänzen. Die Staatsanwaltschaften in Istanbul und Ankara gab die Aufnahme von Ermittlungen gegen Personen an, die die »wirtschaftliche Sicherheit« und den »sozialen Frieden« im Land bedrohten. Rund 350 Konten in sozialen Medien werden nach Angaben des Innenministeriums bereits untersucht. Dabei geht es offensichtlich um missliebige Nachrichten und Kommentare zur Währungskrise.

Die Türkei hätte vor Monaten einen Stabilisierungskurs auflegen können. Zinserhöhungen und Kreditbeschränkungen hätten zweifellos die Wirtschaftskonjunktur abgebremst und möglicherweise die vorgezogenen Wahlen beeinflusst. Erdoğan wollte das politische Projekt des Umbaus des politischen Systems nicht gefährden und hat die Wahlen vorgezogen sowie jedwede Bekämpfung der Rückwirkungen von den internationalen Finanzmärkten auf die Binnenkonjunktur unterbunden.

Jetzt könnte nur ein politischer Kompromiss oder eine Unterwerfung gegenüber den Forderungen der Trump-Administration eine Trendwende auslösen. Ohne Arrangement mit den USA, einen Beistand (mit Auflagen) vom IWF und konzertierten Unterstützungsaktionen anderer Partner des »westlichen Bündnisses« wird es schwer, diesen Krisenprozess in der Türkei abzufangen. Ankara könnte schließlich, um die Flucht aus der Lira zu stoppen, Kapitalverkehrskontrollen einführen, also den Umtausch in andere Währungen begrenzen oder zeitweise ganz verbieten.

Solch ein Eingriff wäre ebenfalls schmerzhaft, weil er auch die Bürger*innen und Unternehmen des Landes hart treffen würde. Erdoğan hat die AKP in den letzten zwei Jahrzehnten gekapert, den Bürgerkrieg mit der kurdischen Minderheit wieder vorangetrieben und schließlich die Gesellschaft mit einer umfassenden Repressionswelle massiv geschädigt. Der politische Systemumbau basierte auf dem großen Versprechen, die Mehrheit der Türk*innen könnte in Wohlstand leben, solange sie nur fleißig sind und ihm das Regieren überlassen. Jetzt sind der »neue Sultan« und seine Clique an der Arroganz und Repression gescheitert. Erinnerungen an das Jahr 2001 werden wach, als die Türkei die schwerste Wirtschaftskrise seit ihrer Gründung durchlitt. Damals explodierte die Inflationsrate bis auf fast 70%. So weit ist es noch nicht. Aber die Krise 2001 hatte ebenfalls nicht nur wirtschaftliche Ursachen, sie enthüllte auch damals die Korruptheit des politischen Systems.

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