22. August 2018 Hilary Wainwright: Aufgabenstellung für eine erneuerte politische Linke

Die Überwindung der Austeritätspolitik in Europa

Foto: Suzanne Plunkett 2017 (under CC-Licence)

Lange bevor die Europäische Union sich auf den Weg zu ihrer aktuellen institutionellen Verfasstheit machte, gab es eine andere Vision eines geeinten Europa. 1941 war eine Gruppe sozialistischer und kommunistischer Antifaschisten auf der Insel Ventotene auf Befehl Mussolinis inhaftiert.

Unter der Leitung von Altiero Spinelli erarbeiteten sie das Manifest von Ventotene, eine Strategie für ein vereintes sozialistisches Europa als den einzigen Ausweg aus der »gemeinsamen Zwangslage« unter dem Hitlerregime.

Ein Ausweg aus der aktuellen »gemeinsamen Zwangslage« von Austerität und von durch Unternehmen beherrschten Märkten bedeutet heute, dass die sozialistische europäische Tradition in einer modernen, pluralistischen Form wiederbelebt werden muss. Sie ist notwendig, um dem Niedergang der sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa entgegenzuwirken, wo nur die portugiesischen Sozialisten unter António Costa und Jeremy Corbyns Labour Party dem allgemeinen Trend widerstanden haben.

Corbyn steht in Opposition zum Neoliberalismus der heutigen EU. Zugleich hat er sich verpflichtet, für ein »Europa ohne Austerität« zu arbeiten, zuletzt im Juli auf dem traditionellen Jahresfest der Bergarbeitergewerkschaft in Durham. Das war nicht nur eine rhetorische Floskel; es ist vielmehr ein Signal, dass Corbyn viel pro-europäischer ist, als die Presse vermittelt, wenn auch nicht auf konventionelle Weise. In seinen jüngsten Erklärungen zu Europa hat er deutlich herausgestellt, dass die Mitgliedschaft in der EU keineswegs öffentliche Interventionen in den Markt ausschließt, auch nicht in der verarbeitenden Industrie. Und er hat sein Engagement für sozialstaatliche Regulierungen auf europäischer Ebene unterstrichen.

Für diese sozialstaatlichen Regulierungen gibt es in Britannien eine große Unterstützung, die auch die Kluft zwischen den Brexit-Gegner*innen und Brexit-Befürworter*innen überbrückt. 73% der Bürger*innen befürworten die Arbeitszeitrichtlinie oder sind der Meinung, dass sie noch ausgebaut gehen sollte. Ebenfalls 73% sprechen sich für eine Bonusobergrenze für Bankvorstände aus und 82% lehnen eine Senkung der Verbraucherschutzrichtlinien bei Lebensmitteln ab. Auf dem Fest in Durham sagten mir Gewerkschafter, dass sie die Vorschriften für den Arbeitsschutz, die Lebensmittelsicherheit und für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz auf keinen Fall verlieren wollen.

Es gibt also eine populäre Alternative zu einem Brexit mit der Folge einer deregulierten Marktwirtschaft einerseits und dem Verbleib in einer neoliberalen EU andererseits. Die Alternative ist eine neue Beziehung zwischen einem Britannien der Anti-Austerität und einem Europa der Anti-Austerität. Als jemand, der Corbyns Politik nachhaltig unterstützt, möchte ich ihn auffordern, mit der portugiesischen und der spanischen Regierung sowie mit Gewerkschaftsbewegungen und linken Parteien auf dem ganzen Kontinent zusammenzuarbeiten, um eine gemeinsame Strategie für ein sozialistisches Europa auszuarbeiten, sowohl durch eine Mitgliedschaft in der EU als auch durch kräftige Unterstützung der Arbeiterbewegungen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen in ganz Europa.

Die britischen Regierungen waren immer an vorderster Front dabei, wenn es darum ging, die EU zu einem Instrument der Marktpolitik zu machen: von der Ablehnung wichtiger Elemente der europäischen Sozialcharta von Jacques Delors (von Margaret Thatcher als »Sozialismus durch die Hintertür« angegriffen) bis hin zu David Camerons Veto gegen die Finanztransaktionssteuer. Der Weg nach vorne besteht für die Linke nicht darin, den Brexit »zu stoppen«.

Stattdessen geht es darum, mit Verbündeten in ganz Europa zusammenzuarbeiten. So könnte der neue sozialdemokratische deutsche Finanzminister Olaf Scholz darin unterstützt werden, die Finanztransaktionssteuer wieder auf den Tisch zu bringen. Und es könnten Maßnahmen zur Beendigung der Unterbietung von Löhnen und Arbeitsrechten unterstützt werden, indem Unternehmen verpflichtet werden, bei der Beschäftigung von Arbeitsmigrant*innen die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträge des Gastlandes einzuhalten. So wie New Labour einst die europäische Sozialdemokratie nach rechts verlagert hat, so könnte Corbyns Labour Party sie nach links rücken.

Die Labour Party hat beeindruckende Zielvorstellungen für eine am allgemeinen öffentlichen Interesse ausgerichtete Wirtschaftspolitik in Britannien entwickelt, mit der die regionalen Ungleichheiten, die zur Unterstützung des Brexits in Nordengland geführt hatten, beseitigt würden. Was spricht dagegen, diese Grundsätze einer durch öffentliche Impulse geförderten Produktivitätsentwicklung auf die europäische Ebene auszuweiten?

Bei einer Rücküberführung der privaten Eisenbahnen in öffentliches Eigentum – um ein Beispiel aufzugreifen - hätte Corbyn ein starkes Argument, sich für ein integriertes, kostengünstiges und öffentliches europäisches Eisenbahnsystem einzusetzen, das eine Alternative zum Ausbau des Luftverkehrs darstellt und die Voraussetzung schafft, um den Güterverkehr von der Straße zu holen. Andere Forderungen aus dem Wahlprogramm von 2017, die von Labour auf Europa übertragen werden könnten, sind die Kooperation dezentraler städtischer öffentlicher Unternehmen für erneuerbare Energien und der Ausbau des Genossenschaftssektors. Für beides gibt es in ganz Europa bereits große Unterstützung.

Die politische Zielvorstellung einer Anti-Austeritätspolitik kann den Rahmen für eine neue Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa bilden. Selbstverständlich muss im Rahmen der neuen Beziehung auch die Neuregulierung der Handelsbeziehungen gelöst werden. Aber die Frage ist, was die Handelspolitik bestimmt und antreibt: der Wettbewerb auf unregulierten Märkten oder die Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse, wobei die Marktbeziehungen einem Rahmen öffentlichen und kooperativen Eigentums untergeordnet sind.

Die heftige Auseinandersetzung um die EU-Mitgliedschaft hat bisher zu keiner konstruktiven Debatte geführt. Beide Seiten haben einfach aneinander vorbei geschrien. Stattdessen sollten wir eine Debatte anstreben, die ein Engagement für gesamteuropäische Themen hervorbringt, das in Großbritannien lange Zeit fehlte. Die Labour Party ist heute einzigartig positioniert, um dies zu erreichen, da seine Mitglieder- und Wählerbasis Menschen von beiden Seiten der Brexit-Debatte zusammenbringt.

Dieser Schwung einer kreativen Debatte zeigt sich bereits in den Bottom-up-Prozessen, die in die neue Wirtschaftspolitik von Labour einfließen. Die erste Phase der Entwicklung einer neuen Beziehung zu Europa, wenn denn der Schutt der zerborstenen Brexit-Träume einer Theresa May beseitigt worden sind, müssen gemeinsamer argumentativer Streit und gemeinsame Debatten umfassen – jeweils in der Labour Party und Momentum und mit den Bündnispartnern in der europäischen Linken.

Eine neue Politik, die die außerordentlichen Fähigkeiten und das Erfahrungswissen der Bevölkerung nicht außer Acht lässt, erfordert den Bruch mit der Annahme, dass die Wahlbevölkerung nur »Ja« oder »Nein« zu den Vorschlägen der politischen Klasse sagen kann. Die künftigen Beziehungen Großbritanniens zu Europa sollten in Stadtteilmeetings und in Versammlungen auf Stadtebene in ganz Großbritannien erörtert werden. Um ein Europa für die Vielen aufzubauen, das der Vision von Ventotene gerecht wird, müssen die Vielen aktiv an seiner Entstehung beteiligt werden.

Hilary Wainwright ist Mitherausgeberin der Zeitschrift »Red Pepper« und Fellow am Transnational Institute (TNI) in Amsterdam. Letzte Buchveröffentlichung: A New Politics from the Left. Cambridge & Medford, MA 2018: Polity Press. Der hier dokumentierte Beitrag erschien am 20.8.2018 auf der Kommentarseite des »Guardian« unter dem Titel »Only Jeremy Corbyn’s Labour can reimagine an EU that works for everyone«. Übertragung aus Englischen von Hinrich Kuhls.

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