8. Juni 2022 Otto König/Richard Detje: Gustavo Petro gewinnt erste Runde der Präsidentenwahl in Kolumbien

Die »Uribe«-Ära geht zu Ende

Quelle: Gustavo Petro

Die Präsidentschaftswahl in Kolumbien hatte eine klare Botschaft: Die große Mehrheit der Kolumbianer*innen erteilte der alten Elite um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez eine deutliche Absage. Eine Ära ist zu Ende gegangen – die Ära des liberal-konservativen Establishments, das das Land mehr als 50 Jahre autoritär regiert hat.

Erstmals in der Geschichte des südamerikanischen Landes könnte mit Gustavo Petro ein Linkskandidat Präsident werden und in den Regierungspalast Casa de Nariño in Bogotá einziehen. Für die herrschende Elite und das Militär ist das ein Szenario des Schreckens.

Der Kandidat des Linksbündnisses Pacto Histórico, Gustavo Petro, von 2012 bis 2015 Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá, hat die erste Runde der Präsidentenwahl mit 40,32 % (8,5 Millionen) der Stimmen klar für sich entschieden. Vor allem in den vom bewaffneten Konflikt und sozialer Ungleichheit besonders betroffenen Departamentos wie Cauca, Putumayo, Chocó, Nariño oder La Guajira holten Petro und seine Vizekandidatin Francia Márquez deutlich über 50% der Stimmen. Dem Duo ist es gelungen, vor allem die junge Generation zu mobilisieren.

Der Populist und Immobilienmillionär Rodolfo Hernández, der im Wahlkampf auf das Image des »Antikorruptionskämpfers« setzte, belegt mit 28,16% (knapp sechs Millionen Wählerstimmen) den zweiten Platz. Der Rechte Fico Gutiérrez, Kandidat von Equipo por Colombia, die Partei der Uribe-Anhänger, der sich im Wahlkampf das »Venezuela-Szenario« als Mittel der Angstmacherei zunutze machte, kam mit 23,9% (etwas mehr als fünf Millionen Stimmen) auf Platz drei und ist damit aus dem Rennen um die Nachfolge des amtierenden Präsidenten Iván Duque ausgeschieden. Weit abgeschlagen, mit nur etwas über 4% der Stimmen, folgt Sergio Fajardo, Kandidat der Coalición Centro Esperanza.

Für Petro ist dieser erste Wahlgang ein klarer Erfolg. Sein Wahlergebnis ist ein Novum für die kolumbianische Linke, der es zuvor noch nie gelungen war, so viele Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen zu erzielen. Trotz eines Wahlkampfes, der geprägt war von Rassismus, Sexismus und Klassismus gegen Francia Marquez. Petro selbst wurde ständig seine Vergangenheit als Mitglied einer Guerillaorganisation vorgeworfen, obwohl er vor 30 Jahren ausgestiegen war. Von rechts gab es eine harte Obstruktionspolitik der Wirtschaftseliten. Vor allem die narco-paramilitärischen Gruppen, ein Instrument der herrschenden Klasse, begannen Wahlkampfveranstaltungen des Pacto Histórico zu sabotieren, nachdem sich abzeichnete, dass ihre Erwartungen an der Macht zu bleiben, nicht in Erfüllung gehen würden.

Die Wahl bescherte eine Niederlage des rechten »Uribismus«, dessen Regierungspolitik Kolumbien die letzten 20 Jahre entscheidend prägte. Der ehemalige Präsident Álvaro Uribe (2002 bis 2010) setzte auf die Militarisierung der Gesellschaft, um die linken Guerillas in Kolumbien förmlich auszulöschen. 220.000 Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. 2016 schloss die Regierung einen Friedensvertrag mit der linken Farc-Guerilla, die Hoffnung auf einen Aufschwung war groß.

Doch sowohl Álvaro Uribe als sein Ziehsohn, der amtierende Präsident Iván Duque, weigerten sich, das demokratisch legitimierte Friedensabkommen mit der Farc-Guerilla umzusetzen. Diese ablehnende Haltung gegenüber dem Friedensprozess forderte weitere unzählige Todesopfer. Allein in diesem Jahr wurden 69 Líderes sociales (Führungspersonen sozialer Bewegungen) ermordet, es wurden 44 Massaker verübt.

Der deutliche Wahlsieg von Petro und seiner Vizekandidatin Francia Márquez, eine afrokolumbianische Aktivistin aus ärmlichen Verhältnissen vom Land, ist auch eine Folge der sozialen Revolte des vergangenen Jahres. Hunderttausende, vor allem junge Menschen gingen über Monate hinweg auf die Straße, um gegen soziale Ungerechtigkeit und staatliche Gewalt zu demonstrieren. Die Proteste sind abgeklungen, doch die wirtschaftliche Situation vieler Menschen ist prekärer als jemals zuvor.

Das nach Brasilien zweitbevölkerungsreichste Land in Südamerika leidet unter den Folgen der Corona-Pandemie, Inflation und sozialer Ungerechtigkeit. 2021 lebten 39,3% der Kolumbianer*innen in Armut. Das ist im Vergleich zu 2020, als die Armutsquote bei 42,5% lag, zwar eine Verbesserung, doch die Armutsquote ist heute dennoch höher als vor der Pandemie (35,7%). Die Inflationsrate hat inzwischen fast 9% erreicht und die Lebensmittelpreise sind als Auswirkung der russischen Invasion in der Ukraine und der westlichen Sanktionspolitik extrem gestiegen.

Gustavo Petro, Wahlsieger der ersten Runde, trifft nun in der Stichwahl am 19. Juni auf den rechtsgerichteten Kandidaten Rodolfo Hernández, den »kolumbianischen Donald Trump«. Sollte Petro die Stichwahl gewinnen, wäre dies das erste Mal, dass eine alternative politische Kraft in Kolumbien regiert. Der Linkssozialdemokrat Petro steht für sozialpolitischen Wandel: Er will das marktliberale Wirtschaftsmodell verändern, die Steuern für Unternehmen erhöhen und die Ausbeutung der Bodenschätze zurückfahren. Er präferiert ein staatliches Rentensystem statt privater Pensionsfonds. Das weitgehend privatisierte Gesundheitswesen soll künftig wieder in staatlichen Händen liegen.

Sein Konkurrent, der ehemalige Bürgermeister der Stadt Bucaramanga, Rodolfo Hernández, hat es geschafft, sich als Außenseiter zu inszenieren, als »Antikorruptionskämpfer«, obwohl er selbst wegen Korruption angeklagt ist, und als »Mann des Volkes«, obwohl der Multimillionär wiederholt seine Verachtung für Arme ausgedrückt hat. Auch sexistische und rassistische Äußerungen bis hin zur Aussage, er verehre Adolf Hitler, taten dem Erfolg des Populisten, der sich selbst als der »Alte von TikTok« bezeichnet, keinen Abbruch.

Anders als Gustavo Petro legte er kein dezidiertes Wahlprogramm vor, stattdessen warb er für autoritäre Reformen. Nach eigenen Angaben würde er bei einem Wahlsieg den Ausnahmezustand verhängen, um einen grundlegenden Umbau des Staates zu ermöglichen. Außerdem plane er eine Freihandelszone zwischen Riohacha und Santa Martha, in indigenen Gebieten der Karibikküste, einzurichten, um dort einen Sporthafen und Hotels aufzubauen. Fakt ist: Hernández ist nicht der Neuanfang, den sich ein Teil seiner Wähler*innen erhofft, sondern die alte Elite in »Social-Media-tauglichem Schafpelz«.

Ein Sieg Petros in der Stichwahl ist keineswegs ausgemacht. Noch am Wahlabend kündigte Fico Gutiérrez an, er werde Hernández und seine Liga de Gobernantes Anticorrupción unterstützen. Auch andere prominente Politiker aus dem Lager des ultrarechten Expräsidenten Álvaro Uribe machten deutlich, dass sie den Selfmade-Millionär unterstützen werden. Sollte sich das konservative Lager komplett auf die Seite von Hernández stellen, besteht die Gefahr, dass Gustavo Petro wie 2018 auf der Zielgeraden abgefangen wird.

Petro und Márquez muss es mit Unterstützung ihrer Mitstreiter*innen gelingen, in den kommenden Wochen bis zur Stichwahl eine breite Allianz gegen Hernández zu bilden. Es gilt vor allem Nichtwähler*innen zu aktivieren. Die Wahlbeteiligung am 29. Mai hatte lediglich bei 54% gelegen. »Es gibt noch eine Million Stimmen hinzuzugewinnen«, erinnerte Petro seine Anhänger*innen daran, dass das Ergebnis der Stichwahl vermutlich sehr knapp ausfallen werde, und bat sie, ihre Anstrengungen für die zweite Runde zu steigern.

Würde Gustavo Petro tatsächlich der nächste Präsident von Kolumbien, wäre dies der sechste linke Wahlsieg in Lateinamerika im Lauf der letzten vier Jahre. Den Beginn machte Andrés Manuel López Obrador 2018 in Mexiko. Ihm folgte ein Jahr später der Linksperonist Alberto Fernández in Argentinien. 2020 gewann Luis Arce von der Bewegung zum Sozialismus die Präsidentschaftswahl in Bolivien, im April 2021 Pedro Castillo in Peru, im gleichen Jahr Xiomara Castro in Honduras und Gabriel Boric in Chile.

Sollte im kommenden Oktober in Brasilien, alle Umfragen legen das nahe, noch einmal Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT zum Präsidenten gewählt werden, würden zum ersten Mal die fünf wichtigsten Volkswirtschaften Lateinamerikas – Mexiko, Kolumbien, Brasilien, Argentinien und Chile – von linksgerichteten Präsidenten regiert. Nach den sozialistischen Jahren zu Beginn des Jahrtausends rollt eine zweite linke Welle über die südliche Hälfte Amerikas.

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