17. November 2022 Otto König/Richard Detje: Opposition schmiedet Bündnis für Präsidentschaftswahlen in der Türkei 2023

Die Zeit für einen Wechsel ist reif

HDP-Proteste

In der Türkei hat der Wahlkampf für die Präsidentschafts- und Parlamentswahl Mitte Juni 2023 begonnen. Für die Erdoğan-Regierung, die seit mittlerweile 20 Jahren amtiert, wird es eng. Der Präsident verliert aufgrund der sich ausbreitenden Wirtschaftskrise und der Strategien der Oppositionsparteien an Boden.

In einer Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Yöneylem gaben 58% aller Befragten an, bei der Wahl »auf keinen Fall« für ihn stimmen zu wollen. Natürlich sind Umfragewerte Momentaufnahmen und können sich schnell wieder ändern. Doch die politischen und die wirtschaftlichen Umstände im Land sprechen dafür, dass 2023 tatsächlich das Jahr für einen Politikwechsel sein könnte.

Der autokratische Herrscher wird seine Macht nicht kampflos abgeben. Im Inneren versucht er, kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen und Konkurrenten über die Klinge springen zu lassen. Außenpolitisch setzt er ein weiteres Mal auf die Nationalismus-Karte. Auch eine neue Spirale von Terroranschlägen könnte der türkischen Bevölkerung das Gefühl geben, sich hinter ihren Präsidenten stellen zu müssen.

So nutzte die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) den jüngsten tödlichen Anschlag auf der belebten Einkaufsstraße Istiklal Caddesi in Istanbul sofort für ihre Politik gegen die kurdische Bewegung.[1] Nach dem Verhängen einer Nachrichtensperre machte Innenminister Süleyman Soylu umgehend die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) für das Attentat verantwortlich. Die Dementis der PKK und der YPG bzw. deren Erläuterungen, weshalb sie kein Interesse an solch einem Anschlag hätten, interessiert weder Erdoğan noch seine gleichgeschaltete Presse.

In der türkischen Öffentlichkeit wird seitdem darüber spekuliert, ob der Anschlag als Anlass für eine seit einiger Zeit angekündigte türkische Militäroperation in Nord-Syrien dienen könnte. Noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen seien, hätten türkische Beamte für eine neue Militäroperation in Nordsyrien plädiert, so Berkay Mandirici von der International Crisis Group. Präsident Erdoğan hatte vor einigen Monaten wiederholt gesagt, dass die Türkei »eines Nachts plötzlich kommen« könnte. Er hat auch betont, dass seine Regierung die Sicherheitsbedenken seines Landes »mit neuen Operationen beheben« wolle, wohl mit dem Hintergedanken: Attentate, bewaffnete Konflikte, Kriege und die damit verbundene Unsicherheit rufen in der Bevölkerung oft den Wunsch nach Stabilität hervor und stärken damit die Position des Machthabers.

Zudem spielt Erdoğan weiterhin hartnäckig die Karte, die NATO-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands zu blockieren, sollten diese Länder – und andere Mitgliedstaaten – den »Auslieferungswünschen« der türkischen Regierung nicht nachkommen. So kann er außen- und innenpolitisch bei jeder Gelegenheit gegen den angeblichen Feind im Innern mobilisieren, egal, ob es sich um Kurden oder Anhänger der Gülen-Bewegung handelt.

Dabei sieht er sich durchaus in einer Position der Stärke, aus der heraus er wahlweise russisches Kriegsgerät kauft oder sich – wie jüngst in den Verhandlungen über Getreidelieferungen aus der Ukraine – als Vermittler preist. Mehr noch: Die USA im Zusammenhang des Anschlags in der Istiklal Caddesi aufs Tablett zu heben, geschieht mit dem Kalkül, der Biden-Administration noch einmal mit aller Deutlichkeit in Erinnerung zu rufen, dass die Türkei in Nordsyrien zu Schalten und Walten gedenkt, wie es ihr passt und der Rückzug der USA aus der Region beschleunigt zu erfolgen habe.

Das politische Spiel Erdoğans ist durchschaubar: mit außenpolitischen und militärischen Manövern inneren Druck zu kanalisieren und abzuwenden. Selbst an der galoppierenden Inflation trägt in dieser Groteske »das Ausland« Schuld. Die kalkulierte Leisetreterei der EU lässt ihm dabei großen Handlungsspielraum.

»Die AKP kam mit dem Versprechen an die Macht, dass sie das Land demokratisieren werde, «ass sie die Menschenrechte achten und die Türkei in die Europäische Union führen werde, dass sie friedliche Beziehungen zu allen Nachbarstaaten schaffen und die Probleme des Landes lösen werde«, so der Politikwissenschaftler Ilhan Uzgel.[2] Doch Schritt für Schritt veränderte die AKP in ihrer 20-jährigen Regierungszeit ihre Agenda und die Verhältnisse im Land.

Unter der Regentschaft von Erdoğan wurde die Türkei autokratisch, ihre Institutionen ausgehöhlt und repressiv umkodiert. Die Justiz ist kollabiert, das Bildungssystem ein Trümmerhaufen. Kritische Journalisten, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen werden zu Terroristen, Oppositionelle und Gewerkschafter*innen zu Staatsfeinden erklärt.

Von Wohlstandsmehrung kann keine Rede mehr sein. Das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist von seinem Höchststand im Jahr 2013 von 958 Mrd. auf 815 Mrd. Dollar im Jahr 2021 gesunken, wodurch das BIP pro Kopf von 12.615 auf 9.587 Dollar fiel. Der allergrößte Teil der Türk*innen befindet sich im wirtschaftlichen Abstieg, und aus der »gläubigen Jugend« ist eine arbeitslose Jugend geworden, die nichts lieber will als auszuwandern: Die Folge ist ein »Braindrain« – die Abwanderung von Fachkräften ins Ausland.

Die Wirtschaftskrise hatte sich während der Pandemie voll entfaltet, der Wert der türkischen Lira halbierte sich gegenüber Dollar und Euro und die Preise für Lebensmittel sowie Benzin schossen in die Höhe. Darin spiegelt sich, dass die Türkei auf den Import vieler Produkte – darunter auch Technologie – angewiesen ist. Die offizielle Inflationsrate kletterte im September auf ein 24-Jahres-Hoch von 83%. Die Menschen im Land haben Probleme, sich mit Lebensmitteln zu versorgen – große Städte müssen mit öffentlichen Verteilaktionen gegensteuern. Nach den Befunden des Meinungsforschungsinstituts Optimar sagen 76,6% der Türk*innen, dass Inflation und Arbeitslosigkeit ihre größten Probleme sind.

Erdoğan ist angezählt. Ein Machtverlust könnte auch deshalb möglich sein, weil es der Opposition gelungen ist, ein Bündnis aus sechs Parteien zu schmieden, das trotz politischer Unterschiede ein großes Ziel eint: Erdoğan muss weg. Die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP), die IYI-Partei, die sich von der MHP abspaltete, die islamistische Felicity-Partei, die rechtsgerichtete Demokratische Partei (DP) und zwei Ableger der AKP, die Demokratie- und Fortschrittspartei und die Zukunftspartei legten ihre Differenzen beiseite und kooperieren.

Ziel sei es »eine demokratische Türkei aufzubauen, in der die Grundrechte und -freiheiten im Rahmen der Normen des Europarats und der Europäischen Union garantiert sind, in der sich jeder als gleichberechtigter und freier Bürger versteht, in der er seine Gedanken frei äußern und so leben kann, wie er glaubt«, heißt es in ihrer gemeinsamen Erklärung. Sie planen einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten zu nominieren und im Falle eines Wahlsiegs einen demokratischen Übergang zu gewährleisten, indem sie ein neues parlamentarisches System mit starken Kontrollmechanismen einführen. Es ist das erste Mal in der türkischen Geschichte, dass Oppositionsparteien, die unterschiedliche gesellschaftspolitische Interessen und Ideologien vertreten, eine kollektive Vision nach den Wahlen präsentieren.

Nicht dabei ist die linksgerichtete »Demokratische Partei der Völker« (HDP), die drittgrößte Oppositionspartei im türkischen Parlament. Der Co-Vorsitzende Mithat Sancar mahnt: »Jeder Ansatz, der die HDP ignoriert, hat keine Chance, eine echte und starke Demokratie, einen umfassenden und dauerhaften sozialen Frieden in der Türkei aufzubauen.« Mittlerweile hat die HDP mit der Partei für Soziale Freiheit (TÖP), der Partei der Arbeiterbewegung (EHP), der Föderation der Sozialistischen Räte (SMF), der Arbeiterpartei der Türkei (TİP) und der Partei der Arbeit (EMEP) das »Bündnis für Arbeit und Freiheit« gebildet.

Ein neues Wirtschaftssystem, das menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen gewährleistet, eine Demokratie, die auf der Souveränität des Volkes beruht, eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit für Frauen, Jugendliche, Behinderte und andere benachteiligte Gruppen sowie der Schutz der Natur und des kulturellen Erbes wurden in der Erklärung als vorrangige Bereiche genannt (ANF-news 2.10.2022).

Ob die Opposition eine Chance hat, wird vor allem davon abhängen, wen sie als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten nominiert und wie sich das Mitte-Rechts Oppositionsbündnis gegenüber der HDP verhält. Die HDP wäre bereit, erläuterte Mithat Sancar in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgeneinen Zeitung (26.9.2022), wie bei den Kommunalwahlen 2019 in Istanbul einen gemeinsamen Kandidaten der Opposition zu unterstützen, sofern die Verhandlungen offen geführt würden und man sich auf Prinzipien des künftigen Regierungssystems sowie des Übergangs verständigt.

Zusammen käme eine vereinte Opposition nach Umfragen auf mehr als 60%. Doch das mag unrealistisch hoch sein. Nach jetzigem Stand läuft es allen Meinungsforschungsinstituten in der Türkei zufolge auf eine Stichwahl zwischen Erdoğan und vermutlich dem Kandidaten der Oppositionspartei hinaus. Die jüngste Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Yöneylem Sosyal Araştırmalar Merkezi ergab, dass – würde morgen gewählt – die AKP landesweit 29,5% der Stimmen erhalten würde und damit zum ersten Mal hinter der größten Oppositionspartei CHP läge, die sehr knapp mit 29,7% in Führung liegt.

Erdoğans politischer Verbündeter, die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), erhielte lediglich 6,4% der Stimmen, womit sich die Unterstützung für das Regierungsbündnis auf 35,9% erhöhen würde. Der Hauptverbündete der CHP, die Partei der Guten (IYI), erhielte 13,5%, womit die Oppositionspartei auf 43,2% käme (Mena-watch 7.11.2022).

Grund genug, dass sich die Opposition darauf einstellt, dass Erdoğan alles daransetzen wird, um die kommenden Wahlen mit allen Schmutzigkeiten erneut zu gewinnen – sei es mit Wahlfälschungen, Drohungen und juristischen Attacken. Gegen die HDP läuft vor dem Verfassungsgericht ein Parteiverbotsverfahren und gegen den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wurde ein absurdes Verfahren wegen angeblicher Beleidigung der staatlichen Wahlkommission angestrengt.

Ende November könnte Imamoglu verurteilt werden und wäre damit für die Wahl aus dem Rennen, und auch das Verfahren gegen die HDP könnte noch in diesem Jahr mit einem Verbot enden. Für diesen Fall bereitet die HDP als Ersatz bereits eine Parteineugründung »Grüne Linke« vor (taz, 13.10.2022). Mit einem neuen Zensurgesetz will Erdoğan zudem auch die letzte Kritik, die noch in den sozialen Medien möglich ist, unterdrücken.

Die Zeit für einen Wechsel ist reif. In der türkischen Gesellschaft rumort es. Zwischen Hyperinflation, Wirtschaftskrise und nicht enden wollender politischer Repression sehnen sich viele Türk*innen nach einem Hoffnungsschimmer. So wurde auf YouTube das neue Musikvideo »Geççek« (»Es geht vorbei«) des deutsch-türkischen Popmusikers Tarkan über 18 Millionen Mal angeklickt: »Alles geht vorbei, auch diese Tortour wird enden, dann werden wir vor Freude tanzen«, singt Tarkan und »Du hast den Bogen überspannt, wir haben’s wirklich satt«.

Der Song kann als Antwort auf die Corona-Pandemie verstanden werden, aber Millionen von Fans lesen daraus eine Botschaft für die Wahlen im kommenden Jahr. Der HDP-Co-Vorsitzende Sancar gibt sich optimistisch. Auch nach zwei Jahrzehnten AKP-Herrschaft seien in der türkischen Gesellschaft »das kollektive Gewissen und das Gefühl für Gerechtigkeit noch nicht im Kern zerstört«.

Anmerkungen

[1] Der Bombenanschlag erinnert an vergangene Anschläge in 2015 und 2016. Damals kamen innerhalb von 146 Tagen in der Zeit von zwei Parlamentswahlen und einem Militärputschversuch durch mehrere Bombenanschläge insgesamt 862 Menschen ums Leben – die regierende AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Situation damals für sich nutzen – und eine kurz zuvor verlorene Mehrheit wiedererringen. Die Tatsache, dass es jetzt – rund sieben Monate vor der nächsten Wahl – erneut einen Bombenanschlag gegeben hat, nährt Spekulationen.
[2] Ilhan Uzgel lehrte an der Universität Ankara, bis er vor fünf Jahren auf Befehl von Staatspräsident Erdoğan entlassen und mit einer Ausreisesperre belegt  wurde, weil er einen regierungskritischen Friedensaufruf in der Kurdenfrage unterzeichnet hat.

 

 

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