6. Februar 2023 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Zehn Jahre AfD

»Dieses Land wird von Idioten regiert!« (Alice Weidel)

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Die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich in den zehn Jahren seit ihrer Gründung zu einer rechtspopulistischen und völkisch-nationalistischen Partei entwickelt und sich zugleich im politischen Feld der Berliner Republik fest verankert.

Vor zehn Jahren gründeten Bernd Lucke und 17 Mitstreiter die AfD, Alexander Gauland, vormals CDU, war von Anfang an dabei – und ist einer von nur drei Gründern, die noch in der Partei sind. Die AfD habe sich seit 2013 »nicht nach rechts entwickelt«, behauptet der Partei-Ehrenvorsitzende. Gauland hatte der Formation lange bescheinigt, dass sie ein »gäriger Haufen« sei.

Jetzt erwartet er perspektivisch eine Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD: »Eine Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD wird kommen, und sie wird aus dem Osten kommen. Nur wann, kann ich nicht sagen.« Der CDU fehle »jede Möglichkeit zum Regieren«, wenn sie nicht mit den Grünen zusammenarbeiten wolle. Bei den Grünen werde sich aber »der Linkstrend durchsetzen. So wird die CDU gezwungen sein, sich uns anzunähern.«

Die AfD wurde am 6. Februar 2013 gegründet. Sie verkörpert in der Berliner Republik den europaweiten Aufstieg der extremen Rechten und sieht sich als Erfolgsprojekt. In Italien stellen die Brüder Fratelli mit Giorgia Melloni die Ministerpräsidentin. In den skandinavischen Ländern (Schweden, Norwegen) sind sie in einer tragenden Rolle für die politischen Führungen.

In Westeuropa haben rechtspopulistische Parteien immer mehr Zulauf. So erreichte bei den letzten Wahlen der Rassemblement National in Frankreich 17%–18%, die Schwedendemokraten 20,5% und die Fratelli d’Italia 25,9%. In Italien reichte dieses Ergebnis, dass eine Neofaschistin Ministerpräsidentin wurde. Die AfD-Führung rechnet daher damit, dass die berühmt berüchtigte Brandmauer zwischen den Konservativen und der völkisch-nationalistischen Formation auch in Deutschland demnächst fallen wird.


Eine marode Brandmauer?

Zehn Jahre nach ihrer Gründung will die AfD ihre Strategie nach eigener Aussage verstärkt auf eine erste Regierungsbeteiligung ausrichten. »Wir bereiten uns bereits jetzt auf die Superwahlen im Ostdeutschland 2024 vor«, sagte Ko-Chefin Alice Weidel. »Das ist natürlich strategisch relevant, weil wir da die erste Regierungsverantwortung in einem ostdeutschen Bundesland avisieren.« Im kommenden Jahr werden in Sachsen, Brandenburg und Thüringen neue Landtage gewählt.

Auf Nachfrage, ob dies auch angesichts der ablehnenden Haltung der CDU als möglicher Koalitionspartner realistisch sei, sagte sie: »Ich halte es absolut für realistisch.« In Sachsen repräsentierten AfD und CDU zusammen zwei Drittel der Wählerschaft. »Sich dem weiter zu verweigern, das kann man nicht ewig machen.«

Weidel nannte »Personalentwicklungsprogramme und interne Ausbildungsprogramme für gutes Personal« als Priorität, »um auch in Regierungsverantwortung gehen zu können. Das müssen wir wie in einem Konzern strukturiert aufbauen.« Ein CDU-Sprecher stellte auf Nachfrage allerdings klar: »Wir haben einen klaren Parteitagsbeschluss. Jede Zusammenarbeit mit der AfD ist ausgeschlossen. Unsere Brandmauer nach rechts muss stehen.«


Krise des (christlichen) Konservatismus

Der gemäßigte Konservatismus Europas steckt in einer tiefen Identitätskrise. Es ist ein Prozess, der sich in den vergangenen Jahren abgezeichnet hat und nun, in Zeiten des Kriegs, der Energieknappheit und Inflation, da die Rufe nach einem schützenden Staat lauter werden, darin gipfelt, dass die Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei (EVP) nur noch sechs der insgesamt 27 Staats- und Regierungschefs in der EU stellt. Selbst unter ihnen gibt es Wackelkandidaten wie Österreichs Kanzler Karl Nehammer, der gegen miserable Umfragewerte und eine Demontage in der eigenen Partei kämpft.

In Deutschland wiederum müssen sich die von der Macht ausgebrannten Unionsparteien als Opposition neu erfinden, in Frankreich hat der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen die Vorherrschaft rechts der Mitte übernommen. Lediglich in Teilen Osteuropas sind die Konservativen noch stark. Es gibt keine pauschale Erklärung für diese Entwicklung – und doch mehrere zusammenhängende Faktoren, die den Fall der traditionellen Parteien begünstigt haben.

Europas große konservative, christdemokratisch geprägte Parteien wie der Partido Popular (PP) in Spanien, die CDU/CSU in Deutschland oder die Républicains in Frankreich sind heute angesichts der großen Umbrüche in den bürgerlichen Gesellschaften von krisenhaften Widersprüchen durchzogen. »Es fehlt der Gestaltungsdrang«, analysiert Thomas Biebricher, Politikwissenschaftler an der Copenhagen Business School. »Die Parteien haben keine Identität mehr.«

Das liegt einerseits an internen Hemmnissen, betrachtet man etwa den blassen, profillosen PP-Chef Alberto Núñez Feijóo. CDU-Mann Friedrich Merz wiederum ist gerade dabei, eine orientierungslose, erschöpfte Partei hinter sich zu einen. In Deutschland wie Österreich hat die jahrzehntelange Regierungsbeteiligung zu einer regelrechten Abnützung der Macht bei den Unionsparteien sowie bei der ÖVP geführt.

Hinzu kommt, dass viele Kernthemen längst nicht mehr dem Zeitgeist entsprechen: Junge Menschen halten wenig von traditionell geprägten Wertvorstellungen, wie sie in den Leitlinien der Mitte-Rechts-Parteien verankert sind. Doch vor allem das Zukunftsthema Klimakrise wird für die Konservativen zu einem wachsenden Problem: Deren tendenziell wirtschaftsliberale Einstellung konterkariert den allgemeinen Wunsch nach einer progressiv gesteuerten Klimapolitik.


AfD und Höcke rechtsextrem? Gauland bestreitet dies

In diesen gesellschaftlichen Umbruchprozess und die wachsende programmatisch-politische Schwäche stoßen die rechten Parteien hinein. Bereits 2014 zog die AfD ins Europäische Parlament ein, 2017 erstmals in den Bundestag. Gegenwärtig ist sie in 15 von 16 Landesparlamenten vertreten und erreicht in Umfragen bundesweit 15%. Die AfD ist in den Institutionen angekommen, ohne dort von den anderen Kräften akzeptiert worden zu sein.

Häutungen, Abbrüche und Zuspitzungen sind die Konstanten einer Partei, die sich von einer EU-kritischen Bewegung zu einer rechten Protestpartei entwickelte. Ihr Verschleiß an Führungs- und Repräsentationspersonal war beträchtlich. Im aktuellen Deutschlandtrend finden drei von zehn wahlberechtigten Deutschen (32%) richtig, dass sie auch im Bundestag vertreten ist, in ihrem Gründungjahr waren es 20%. Damit stieg die Zustimmung dazu innerhalb von zehn Jahren um zwölf Prozentpunkte. In Ostdeutschland beträgt dieser Wert aktuell 44% an, in den westlichen Bundesländern 29%.

Immer wieder wurde darüber diskutiert, wie sich die anderen Parteien im Bundestag gegenüber der AfD verhalten soll. Aktuell findet ein Drittel der Deutschen (36%), dass die anderen Parteien die Zusammenarbeit mit der AfD nicht ausschließen sollten. Eine Mehrheit von 58% will nicht, dass die anderen Parteien im Bundestag mit der AfD zusammenarbeitet.

Auch der Umgang der AfD mit rechtsextremen Positionen oder Äußerungen einzelner AfD-Mitglieder wurde in der Vergangenheit immer wieder kritisiert. Dass sich die AfD nicht genug von rechtsextremen Positionen distanziert, finden aktuell drei Viertel der Deutschen (75%, 2% weniger im Vergleich zum September 2021), knapp zwei von zehn (17%) finden das nicht.

Der frühere CDU-Politiker Gauland leugnet, dass die AfD nach zehn Jahren zu einer rechtsextremen Partei wurde: »Die AfD hat sich nicht nach rechts entwickelt, das ist Unsinn […] Wir sind keine rechtsextreme Partei, das ist eine Kriegslist des Verfassungsschutzes.« Angesprochen auf eigene Fehler räumte Gauland ein: »Auch ich habe Fehler gemacht, das Vogelschiss-Zitat war einer davon. Die Unterstützung von Björn Höcke gehört aber nicht dazu. Höcke ist eine wichtige Stütze dieser Partei.« 2018 hatte Gauland in einer Rede gesagt, Hitler und die Nationalsozialisten seien »nur ein Vogelschiss« in »1000 Jahren deutscher Geschichte«.

Dass Höcke demnächst alleine die Partei führen könne, sieht Gauland nicht: »Die AfD ist noch nicht reif für eine Einzelspitze«, sagte er dem RND. »Sie bräuchte eine Persönlichkeit, die Liberale und Konservative, Ost und West, Basis und Eliten zusammenbringt. Ich wüsste zurzeit niemanden, der das alles zusammenbringt.« Es geht sowohl um die politisch-programmatische Weiterentwicklung, aber auch um den organisatorischen Zusammenhalt.

Die AfD kommt nach vorläufigen Angaben für den Stichtag 31.12.2022 auf 29.409 Mitglieder, rund 600 weniger als im Vorjahr. Insgesamt konnte sie ihre Mitgliederzahl nach Gründung aber nahezu verdoppeln. 2013 startete sie mit 16.134 Mitgliedern, nach dem Rekordwert des Jahres 2019 (34.923), verloren die Rechtspopulisten bis zu 2.600 Mitglieder jährlich. Den größten Zugewinn gab es von 2015 zu 2016, dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als es von 17.703 auf 25.015 ging.

Die großen Krisen – Pandemie, Ukrainekrieg und Transformation der kapitalistischen Betriebsweise (Dekarbonisierung, Digitalisierung und Energiewende) – befördern die wachsende Unruhe und Unzufriedenheit in größeren Teilen der Bevölkerung. Die AfD-Führung verhöhnt die Leistungen der Koalitionsregierung: Die Parteivorsitzende Weidel äzt: »Das Jahr ›Fortschritts‹-Koalition war ein Jahr beispiellosen Niedergangs. Deutschland wird transformiert und abgewickelt. Wir befinden uns in der größten Wirtschafts- und Energiekrise seit Bestehen der Bundesrepublik. Millionen Existenzen stehen auf dem Spiel. Deutschland droht die Deindustrialisierung, zahllosen Bürgern die Verarmung und dem Mittelstand eine beispiellose Insolvenzwelle.

Umverteilung, Markteingriffe und Schuldenmacherei der Ampel lösen Probleme nicht, sondern verschieben sie in die Zukunft und verschärfen sie. Der Euphemismus ›ökologisch soziale Marktwirtschaft‹ aus dem Koalitionsvertrag bedeutet faktisch den Umbau Deutschlands zu einer ökosozialistischen Plan- und Mangelwirtschaft. Unter dem Vorwand, Deutschland in ein ›modernes Einwanderungsland‹ zu transformieren, fördert die Koalition die massive Ausweitung der Einwanderung in unsere Sozialsysteme. Wenn das Ampel-Narrenschiff die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung mit offenen Grenzen weiter ignoriert, drohen Deutschland schwere soziale Verwerfungen und Verteilungskämpfe. Grüne Ideologie bestimmt den Marschtritt dieser Koalition.«

Die AfD schlitterte in den zurückliegenden Jahren vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Umbrüchen allerdings selbst von Krise zu Krise. Der beschönigende Hinweis auf einen »gärigen Haufen« trifft die Verwerfungen nicht. In den Jahren 2020 und 2021, als zehn Wahlen hintereinander mit Stimmenverlusten endeten, war die Rechtspartei immer nahe am Absturz.

Allerdings bewahrheitete sich die Prophezeiung der als Vorstandkandidatin gescheiterten Joana Cotars, die davon ausging, dass mit dem neuen Vorsitzenden Tino Chrupalla »die Erfolgsgeschichte der AfD« ende, weil der aus Görlitz stammende selbständige Malermeister in jeder Hinsicht überfordert sei. Das Team Weidel und Chrupalla hat im Gegenteil die Partei trotz massiver Verluste an Führungskräften durch die parteiinternen Krisen laviert.


Das drohende Parteiverbot

Seit vergangenem Jahr wird die gesamte AfD vom deutschen Verfassungsschutz als »Verdachtsfall« behandelt, wodurch sie mit geheimdienstlichen Mitteln beobachtet werden darf. Auf die Umfrage- und Wahlergebnisse hat sich die Beobachtung bisher nicht ausgewirkt. Die Politisierung des Verfassungsschutzes ist eher Ausdruck einer Schwäche der etablierten Parteien, sich mit dem Aufstieg der völkisch-nationalistischen Parteien in Europa inhaltlich und überzeugend auseinanderzusetzen.

Der thüringische Landesverband gilt als »gesichert extremistisch«. Dennoch liegt die Partei bei Umfragen auf dem ersten Platz. Der Landesvorsitzende Höcke verbindet unter der Überschrift eines »solidarischen Patriotismus« das Bekenntnis zum starken, ethnisch wie kulturell homogenen Staat innerhalb fester, wehrhaft verteidigter Grenzen mit einem Antiamerikanismus und einer aggressiven Elitenkritik. Auf dieser Grundlage gedeiht eine politische Affinität zu Russland.


Entscheidungsjahr 2024

Gegenwärtig geriert sich die AfD als »Friedenspartei«, keine Waffen aus deutschen Beständen soll die Ukraine erhalten, denn »es ist nicht unser Krieg« (Chrupalla). Die verstreuten Transatlantiker in den westdeutschen Landesverbänden verschaffen sich kaum Gehör. Die ehemaligen Vorstandsfrau Cotar notierte in ihrer Austrittserklärung melancholisch: »Ich bin Patriot und verstehe es, wenn Patrioten um ihr Land kämpfen.«

Schon vor fünfeinhalb Jahren hatte Alice Weidel eine Regierungsfähigkeit der AfD bis 2021 in Aussicht gestellt. Diese Perspektive soll nun bei den Landtagswahlen, die 2023 in Berlin, Bremen, Bayern und Hessen anstehen, eingelöst werden. Dies dürfte allerdings nur eintreffen, wenn die Erneuerung des christlich geprägten Konservatismus unter Friedrich März noch tiefer in Widersprüchen versinkt.

Spannend wird es zweifellos im darauffolgenden Jahr 2024, wenn in den AfD-Hochburgen Sachsen, Brandenburg und Thüringen gewählt wird. Sollten nur Allparteienkoalitionen die AfD von der Macht fernhalten können, wüchse sie weiter in der Gunst ihrer Unterstützer*innen. Denn der Fall Melloni in Italien zeigt: Es ist durchaus möglich, dass ein gäriger völkisch-nationalistischer Haufen nicht nur ein Fieberthermometer der Krisen entwickelter bürgerlicher Gesellschaften ist.

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