2. Mai 2019 Otto König/Richard Detje: 100 Tage Bolsonaro – Restauration des neoliberalen Wirtschaftsmodells in Brasilien

Diktatur-Verherrlicher

Seit dem 1. Januar regiert in Brasilien der Hauptmann der Reserve, Jair Bolsonaro. Die Bilanz des ultrarechten Staatschefs, dessen geistige Heimat die brasilianische Militärdiktatur ist, fällt nach 100 Tagen ernüchternd aus.

Bei den Wähler*innen ist die anfängliche Euphorie in tiefe Ernüchterung umgeschlagen, was sich in einem deutlichen Schwund seiner Popularität niederschlägt. Beim Amtsantritt im Januar hatten laut einer Umfrage des Instituts Ibope noch knapp 50% der Befragten eine positive Meinung vom neugewählten Präsidenten und seiner Regierung, heute stufen 30% seine Leistungen als »sehr schlecht« ein. Das ist der ungünstigste Wert seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985, den ein Präsident nach drei Monaten Amtszeit jemals hinnehmen musste.

Am beliebtesten ist er nach wie vor den bei Evangelikalen, die der »Tropen-Trump« mit seinen reaktionären, homophoben, demokratie-feindlichen, frauenverachtenden Tweets bedient. Der Umfrage zufolge erhält er die größte Zustimmung von Menschen mit höheren Einkommen; unpopulär sei er vor allem in großen Städten und in den armen Regionen im Nordosten.

Selbst Teile der ihn stützenden Wirtschaftseliten zweifeln inzwischen daran, dass Bolsonaro klare Vorstellungen davon habe, was es bedeute, die fünftgrößte Demokratie der Welt zu regieren. Die britische Wochenzeitung »The Economist« schreibt: »Das größte Problem ist die Frage, ob Bolsonaro Ahnung von seinem Job hat.« Doch das trifft den ehemaligen Fallschirmjäger wenig, trägt dieser doch seine fehlende Erfahrung und sein mangelndes Wissen wie eine Monstranz vor sich her. »Im Wahlkampf habe ich gesagt, dass ich im Januar entweder auf dem Präsidentenstuhl oder am Strand sitzen werde. Jetzt habe ich den Salat«, ist einer seiner Lieblingssätze.

In seiner Antrittsrede sagte Bolsonaro, dass Brasilien nunmehr vom Sozialismus befreit werde – der in diesem Land allerdings bisher nie existierte. Seitdem setzt Bolsonaro seinen Weg des »Kulturwandels« fort – er will keinen Frieden, er sucht den Konflikt. »Waffen für gute Brasilianer« lautete eines seiner Wahlversprechen. Nur 15 Tage nach seinem Amtsantritt unterzeichnete der Präsident, zur Freude von Brasiliens Waffenindustrie, ein Dekret, das den Erwerb von Schusswaffen in dem von Gewalt geplagten Land erheblich erleichtert. Bis zu vier Waffen dürfen Brasilianer*innen jetzt besitzen, wenn sie über 25 Jahre und nicht vorbestraft sind.

Immer wieder hat Bolsonaro Polizisten dazu angehalten, Kriminelle zu töten: »Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit.« Menschenrechtsaktivist*innen berichten von regelrechten Hinrichtungen in den Armensiedlungen Rio de Janeiros. Bei einer Polizeiaktion Anfang des Jahres in der Favela Fallet wurden 15 Männer getötet. Es war die blutigste Polizeioperation in Rio seit 2007.

Brasiliens neuer Justizminister, der ehemalige Untersuchungsrichter Sérgio Moro, der den Ex-Präsidenten Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) vor der Wahl wegen Korruption hinter Gitter brachte, flankiert diese »Hinrichtungspolitik« durch eine Justizreform, in der Polizisten Straffreiheit garantiert wird, wenn sie im Dienst töten, um das »Risiko einer Aggression« zu verhindern oder aus »entschuldbarer Angst, Überraschung oder überwältigenden Emotionen« handeln. Anwälte sehen darin einen Vorschlag »zum Abschlachten armer Jugendlicher«.

Bolsonaro, der sich als Klimaleugner geriert, hatte versprochen, den Regenwald stärker für die Wirtschaft zu »öffnen« und den Naturschutz zurückzufahren. Inzwischen wurden Zuständigkeiten geändert, die dem Schutz indigener Völker dienten. So wurde die Verantwortung für die indigenen Schutzgebiete im Regenwald dem Landwirtschaftsministerium übertragen, das von der bisherigen Agrarlobbyistin Tereza Cristina Corrêa da Costa Dias geleitet wird. Wie ihr Chef setzt sie auf eine intensive wirtschaftliche Nutzung und lehnt Forderungen indigener Stämme ab.

Der Indigenen-Behörde Fundacão nacional do indio (Funai), die aus dem Justizministerium herausgelöst wurde, wurde das Recht auf Territorial-Grenzziehung aberkannt. Die Stiftung untersteht jetzt der Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte, Damares Alves, eine ultrakonservative Juristin und evangelikale Pastorin, die vor allem als scharfe Abtreibungsgegnerin und Feminismus-Kritikerin bekannt ist.

Die Ministerien für Arbeit, Kultur, Städte, Sport und Rassenintegration wurden ersatzlos abgeschafft. Gewerkschaften sollen in die Bedeutungslosigkeit getrieben werden. Der vom Parlament genehmigte Mindestlohn wurde gekürzt. Der Nationale Rat für Ernährung und Ernährungssicherheit (Consea), der den Kampf gegen Hunger und für den Familienbonus koordiniert, verliert ab sofort seine Leitungsfunktion.

Bereits in den ersten Tagen ihrer Amtszeit haben die Minister für Infrastruktur sowie für Bergbau und Energie einen umfassenden Ausverkauf staatlichen Eigentums angekündigt. In einem ersten Schritt geht es um zwölf Flughäfen, ferner um Autobahnen, Eisenbahnstrecken und Hafenanlagen; man werde »alles, was geht«, an private Interessenten verkaufen, kündigt der neue Infrastrukturminister an.

Die Vergangenheit beschäftigt Jair Bolsonaro, wie alle Reaktionäre, viel stärker als die Zukunft. Infolge dessen preist er die Militärdiktatur (1964 bis 1985) als beste Zeit Brasiliens an, denn der »demokratische Umsturz« habe dem Land »21 Jahre Ordnung und Fortschritt« gebracht und dazu gedient, Brasilien vor dem »drohenden Kommunismus« zu schützen. Dennoch sorgte seine Anordnung, den 55. Jahrestages des Militärputsches gebührend zu feiern, für Aufsehen.[1] Die Verlesung des Tagesbefehls des Verteidigungsministeriums, in dem diese revisionistische Sicht der Geschichte dargelegt wurde, ohne die Verbrechen der Diktatur zu erwähnen, hat erstmals nach seinem Amtsantritt zu Demonstrationen im ganzen Land geführt.

Am 31. März 1964[2] putschte das brasilianische Militär gegen den verfassungsmäßigen Präsidenten João Goulart, dem es Kommunismus vorwarf, unter anderem, weil er eine Bodenreform anstrebte. Die wirtschaftliche Elite, die großen Medienhäuser, die katholische Kirche unterstützten den Putsch. Es folgten 21 Jahre Militärdiktatur, währenddessen nach offiziellen Zählungen 434 Menschen aus politischen Gründen getötet sowie tausende Regierungsgegner*innen inhaftiert und gefoltert wurden, so die brasilianische Wahrheitskommission in ihrem Abschlussbericht im Jahr 2014. Tausende Menschen wurden ins Exil getrieben.

1979 wurde ein noch heute geltendes Amnestiegesetz erlassen, das den Tätern Straffreiheit garantiert, ohne dass sie ihre Verbrechen anerkennen mussten.[3] Menschenrechtsverletzungen wurden nicht bestraft, Politiker behielten ihre Posten und konnten ungestört weiterarbeiten. Die faschistischen Verbrechen schafften es nie ins kollektive Gedächtnis der Brasilianer*innen, sodass es diejenigen vergleichsweise leicht haben, die wie Bolsonaro die Gräueltaten des Militärregimes verharmlosen. Dieser Geschichtsrevisionismus, der Versuch, die Militärdiktatur zu enttabuisieren und die Geschichte umzuschreiben, dient der Legitimierung einer Politik, die rücksichtslos ihre Projekte durchsetzt und die sozialpolitischen Fortschritte der PT-Regierung außer Kraft setzt.

Gleichzeitig dienen die ideologischen Vorstöße Bolsonaros auch dazu, beispielsweise vom drohenden Scheitern der unpopulären, neoliberalen Rentenreform abzulenken. Es ist eines der drängendsten Projekte des vormaligen Investmentbankers und jetzigen Superministers für Wirtschaft, Paulo Guedes. Mit der Rentenreform, den Privatisierungen und starken Einschnitten in den Ausgaben für Soziales soll das Haushaltsdefizit reduziert und bei der Wirtschaftselite und ausländischen Investoren Vertrauen geschaffen werden. Mit dem Gesetzentwurf, der im Februar ins Parlament eingebracht wurde, will die Regierung über zehn Jahre umgerechnet 310 Milliarden Dollar sparen. »Für die ausländische Investoren ist die erfolgreiche Reform des Pensionssystems so etwas wie der fehlende Beweis, dass diese Regierung funktioniert«, erklärte Fabio Ramos, Chefökonom des Schweizer Bankinstituts UBS in Brasilien.[4]

Der ins Parlament eingebrachte Vorschlag zur Verfassungsänderung sieht vor, die staatliche Rentenvorsorge zu kapitalisieren. Das Renteneintrittsalter soll angehoben und der volle Rentenbezug erst nach 40 Beitragsjahren möglich werden, zudem soll die Rente nicht mehr an die Inflation angepasst werden, was vor allem Geringverdienende benachteiligen würde. Darüber hinaus zielt ein weiterer Gesetzentwurf auf eine Reform des Arbeitsrechts.

Bereits unter der Vorgängerregierung von Michel Temer wurden die Rechte der Beschäftigten geschwächt. Nun sollen unter anderem die Arbeitszeit von acht auf zehn Stunden pro Tag erhöht und die Fristen, innerhalb derer Arbeitgeber verklagt und Lohn eingefordert werden können, verkürzt werden. Gegen diesen Sozialabbau mobilisieren Gewerkschaften gemeinsam mit den Bündnissen Frente Brasil Popular und Povo Sem Medo sowie linke Parteien und soziale Organisationen.

Statt Reiche und Unternehmen stärker zu besteuern, kürzt die rechtsgerichtete Regierung die Ausgaben für Arme und Beschäftigte, um den Haushalt zu sanieren. Das Haushaltsdefizit beträgt mehr als 8% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Das ist eines der größten Budgetdefizite weltweit. Die Staatsschulden belaufen sich zwar auf knapp 80% des BIP, was für einen Industriestaat kein schlechter Wert wäre. Für ein Schwellenland ist es aber zu viel. Verschärfend kommt hinzu, dass die Staatsverschuldung rasant wächst. Obwohl die Regierung mittlerweile die Privatisierung staatlicher Betriebe eingeleitet hat, prognostiziert die Bank Itaú der brasilianischen Volkswirtschaft für 2019 ein Wachstum von lediglich 1,3%.

27 Millionen Brasilianer*innen sind weiterhin ohne Job. Die Arbeitslosigkeit ist im Jahr 2019 auf 12,4% gestiegen und damit auf Rekordniveau, wie das Brasilianische Institut für Geografie und Statistik (IBGE) mitteilte. Dabei hatte Bolsonaro der Bevölkerung im Wahlkampf lauthals versprochen, dass unter seiner Regierung alles besser werde.

Die Restauration des neoliberalen Wirtschaftsmodells auf dem Kontinent schreitet voran. So ist Bolsonaro wie der US-Präsident Donald Trump davon geradezu besessen, Kuba, Nicaragua und Venezuela mit der Art von »Demokratie« zu beglücken, die in Brasilien hunderttausende Bürger*innen und Arbeitnehmer*innen in Angst und Schrecken versetzt. Eine Autokratie, die zum Ziel hat, mit der Planierraupe über Jahre hinweg erkämpfte Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung, Transparenz, Rechtsstaat und zivilgesellschaftlicher Organisation und Mitwirkung abzuräumen.

[1] Die Richterin Ivani Silva da Luz hatte noch versucht, dies mit dem Verweis auf die demokratische Verfassung und die Wahrung der Menschenrechte zu verbieten, doch ein Berufungsgericht hob dieses Verbot wieder auf, schließlich herrsche im demokratischen Rechtsstaat ein »Debatten- und Ideenpluralismus«.
[2] Ex-Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT), als Studentin selbst politische Gefangene und Folteropfer, hatte unter ihrer Regierung 2012 alle Feiern zum 31. März aus dem offiziellen Kalender der brasilianischen Armee streichen lassen.
[3] Vgl. Otto König/Richard Detje: Die Zeit der Angst ist vorbei. Die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktaturen in Lateinamerika, Zeitschrift Sozialismus 6/2015.
[4] Das Bundeswirtschaftsministerium wirbt bei deutschen Investoren mit dem Hinweis, Bolsonaros Regierung werde wohl »erleichterte Investitions- und Handelsbedingungen für ausländische Unternehmen« schaffen; man solle daher »jetzt auf Brasilien setzen«, heißt es in einem Schreiben des Ministeriums (German Foreign Policy, 10.1.2019).

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