31. Januar 2024 Bernhard Sander: Premierminister Attal will »französischen Stolz zum Leuchten bringen«
Dorffest auf der Autobahn als Machtprobe
Die überkommenen Rituale der politischen Klasse geben auch dem neuen Premierminister Frankreichs, Gabriel Attal, Gelegenheit, Pläne zum Umgang mit der tiefen Krise der Institutionen (Parlament – Verfassung – Immigrationsgesetz) und der Ökonomie (Bauernproteste) vorzustellen.
Doch die Regierungserklärung bleibt in Bezug auf die ökologische Transformation nebulös, in den sozialpolitischen Maßnahmen weiter gegen die unteren Schichten gerichtet, und in der Agrarfrage eher hilflos.
Unter Hinweis auf die jüngsten Krisen, von der Covid-19-Epidemie bis zum Klimawandel, der zahlreiche Naturkatastrophen verursacht, sowie auf die Rückkehr des Krieges nach Europa mit dem Ausbruch des Konflikts in der Ukraine oder den Angriff der Hamas in Israel am 7. Oktober, der zum Bodenkonflikt im Gazastreifen führte, geht auch der neue französische Regierungschef von der verwickelten Lage einer Polykrise aus: »Die Energiekrise, die Inflation, die Bedrohung durch den Terrorismus – die Krisen überlagern sich, greifen ineinander und summieren sich. Sie bieten keine Wunderlösung, aber methodisch, gemeinsam mit den Franzosen, werden wir natürlich darauf reagieren.«
»Für viele Franzosen ist die Zukunft eher eine Angst als ein Versprechen. Und noch immer haben zu viele Franzosen das Gefühl, die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu verlieren. Mit dem Präsidenten der Republik und meiner Regierung kann ich mich damit nicht abfinden. Ich werde mich nie damit abfinden«, fuhr er fort. Er fügte hinzu: »Die eigentliche Identität dieser Mehrheit (die er im Parlament nur aufgrund der Gräben zwischen den Oppositionsfraktionen hat – BS), dieser Regierung besteht darin, unsere französische und europäische Souveränität zurückzuerobern.«
Die erste Regierungserklärung Attals fällt mitten in die aufgeheizte Stimmung der Bauernproteste, die fast das ganze Land für berechtigt hält. 15.000 Gendarmen hatte der Innenminister mobilisiert, um die Autobahnen rund um Paris, über die ein Großteil des automobilen Transits des Landes abgewickelt wird, freizuhalten. Zugleich hatte der Regierungschef zugesagt, das Mercosur-Freihandelsabkommen der EU mit Lateinamerika zu blockieren. 2,5% der Erwerbstätigen arbeiten im Agrarsektor, der der größte der EU ist.
95,5 Mrd. Euro erwirtschaftete die französische Landwirtschaft[1] und wurde zusätzlich mit 9,5 Mrd. Euro subventioniert. Hinzukommen 1,1 Mrd. Euro Wirtschaftsleistung aus der Fischerei. Die Subventionen wurden zwischen 2004 und 2008 von der produktbezogenen Bezuschussung (von 7,6 auf 2,6 Mrd. Euro) auf Zuwendungen an Betriebe (Anstieg von 1,4 auf 7,3 Mrd. Euro) umgestellt.
Dies hat das »Bauernlegen« erheblich beschleunigt. Zwischen 2010 und 2020 sank die Zahl der Betriebe von 490.000 auf 398.900. Der größte Teil der Betriebsaufgaben im Zuge dieser Produktivitätssteigerung entfiel auf Kleinbetriebe (-27,5%) und Mikrobetriebe/Nebenerwerb (-48,4%). Die Bruttowertschöpfung stieg in diesem Jahrzehnt um ca. 50%. Trotz der Konzentration bzw. Vergrößerung der Betriebsgrößen dominiert der Sozialtypus des Einzelbauern (57% der volljährlich Beschäftigten plus 21% mithelfender Familienangehörigen). Die Zahl der Saisonkräfte summiert sich auf 17% Volljahres-Äquivalente.
Die aktuellen Proteste und Blockade von Autobahnzufahrten werden daher stärker von lokalen Netzwerken (coordinations rurales) angetrieben als von den großen Agrarverbänden und sind in den kleiner parzellierten Regionen des Südwestens aggressiver als in den großflächig bewirtschafteten industriellen Monokulturen des Nordens und Ostens.
Es geht in diesem Konflikt um zahlreiche Details: Die Dieselpreiserhöhung hat Attal schon zurückgenommen. Die von der EU im Namen der Biodiversität vorgeschriebenen Randbrachen an den Feldern schränken die Produktion gerade kleinerer Bauern relativ stärker ein. Die wochenlange Überflutung im Norden ist existenzbedrohend selbst für Großagrarier, die Weinüberproduktion (ebenfalls eine Folge des Klimawandels) kann durch Destillierung allein nicht mehr aufgefangen werden. Die Bauernverbände haben 122 Forderungen aufgestellt.
Die Kommunistische Partei, die in den 1950er-Jahren mit ihrer Agitation für kooperative Betriebsformen nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchosen Produktivitäts- und damit Einkommenssteigerungen erzielen konnte, was sich auch im steigenden Stimmenanteil niederschlug, propagiert heute, nach Gemeinsamkeiten zwischen pendelnden Arbeitnehmer*innen und Landwirt*innen suchend, die von steigenden Umweltabgaben und Treibstoffpreisen betroffen sind. Aber der Bauer bleibt in seinem Parzellendenken resistent.
Der Premierminister versprach in der Regierungserklärung, dass alle Beihilfen aus der Gemeinsamen Agrarpolitik bis Mitte März überwiesen werden sollen. Doch ansonsten bleibe die Materie komplex und schnelle Änderungen seien unmöglich. Er bekräftigte angesichts der starken sozialen Mobilisierung der Landwirte, die die Krise ihres Berufsstandes und ihres Sektors anprangern, dass seine Regierung »ein entschlossenes Vorgehen für die landwirtschaftliche Souveränität unseres Landes eingeleitet« habe.
»Unsere Landwirtschaft ist eine Stärke, nicht nur, weil sie uns im wahrsten Sinne des Wortes ernährt, sondern weil sie eines der Fundamente unserer Identität und unserer Traditionen darstellt. Weil unsere Landwirte grundlegende Werte verkörpern«, fuhr er fort. »Ich sage es hier feierlich: Es gibt eine französische Ausnahme in der Landwirtschaft und es muss sie auch geben«, erklärte Attal und fügte hinzu: »Angesichts der Entscheidungen, die von oben kommen und manchmal von irgendwoher fallen, zweifelt auch die Landwirtschaft und erwartet Antworten und Lösungen.« Was diese Drohgebärde gegenüber der EU bedeutet, ließ er jedoch offen (außer der Ablehnung des Mercosur-Abkommens).
Die Regierungserklärung Attals (nach den Worten des sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden »das junge Gesicht einer alten Welt«) bot eine Mischung aus Angeboten, den gewandelten Blick auf Gesellschaft und Lebensweisen abzusichern, und andererseits Ankündigungen, die materiellen Lebensbedingungen für die unteren Klassen zu verschlechtern.
So soll das Recht auf Abtreibung Verfassungsrang erhalten und bis zu den Sommerferien ein Gesetz zum selbstbestimmten Sterben und aktiver Sterbehilfe erlassen werden. »Franzose im Jahr 2024 zu sein bedeutet, in einem Land, das sich noch vor zehn Jahren über die Ehe für alle zerfleischt hat, Premierminister werden zu können, indem man offen zu seiner Homosexualität steht.« In all dem »sehe ich den Beweis dafür, dass sich unser Land bewegt. Den Beweis, dass sich die Mentalitäten ändern. Es ist ein Beweis dafür, dass wir keinen Grund haben, uns dem Schicksal zu ergeben«, lobte er. »Ich habe unseren Mitbürgern nur eines zu sagen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Adresse oder ihrem Glauben. Frankreich ist euer Land, und in Frankreich ist alles möglich. [...] Ja, wir sind stolz darauf, Franzosen zu sein, und gemeinsam mit euch möchte ich diesen französischen Stolz zum Leuchten bringen«, verkündete er weiter. Damit sind die wesentlichen roten Tücher für die Rechtsextremisten benannt und Wahlkampfmunition geliefert.
In der Lohnpolitik setzt Attal auf Veränderungen des Mindestlohns SMIC. Innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Personen, die nach dem Mindestlohn bezahlt werden, um fast 50% gestiegen. Fast jede fünfte Person (17,3%) im nichtlandwirtschaftlichen Privatsektor wird heute nach dem Mindestlohn bezahlt, Anfang 2021 waren es nur noch 12%. Innerhalb von zwei Jahren, zwischen dem 1. Januar 2021 und dem 1. Januar 2023 hat sich ihre Zahl um eine Mio. Personen erhöht. Von den fast 17,6 Mio. Beschäftigten verdienen somit 3,1 Mio. 1.398,69 Euro netto im Monat (der Durchschnittslohn liegt etwas über 2.600 Euro).
Der Anstieg des SMIC und des Anteils an allen Lohnabhängigen hat einen einfachen Grund: Der Mindestlohn wird automatisch an die Inflation angepasst, was bei anderen Löhnen und Gehältern nicht der Fall ist. Aufgrund des starken Preisanstiegs in den letzten beiden Jahren ist sein Anstieg also deutlich schneller als der aller Löhne. Unerwähnt ließ der Premier, dass die Arbeitsmarktreformen und die Verlagerung der Lohnverhandlungen von der Branche- auf die Unternehmensebene die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften erheblich eingeschränkt haben.
Diese Entwicklung wird von den Gewerkschaften angeprangert, die Lohnerhöhungen und sogar die Anpassung aller Gehälter an die Inflationsrate fordern. Die Exekutive ist sich der Herausforderung bewusst, da das rote Tuch der Smicardisierung immer mehr zu einem politischen Slogan wird. »Wir müssen in Frankreich wieder eine Lohndynamik schaffen, um wieder Hoffnung durch Arbeit zu schaffen«, erklärte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Anfang Januar.
»Wir müssen auf die Sorgen der Mittelschicht eingehen«, meinte Premierminister Attal nun in seiner Regierungserklärung und argumentierte, dass »diejenigen, die arbeiten gehen, in Würde von ihrer Arbeit leben können und immer noch mehr verdienen als diejenigen, die nicht arbeiten. [...] Wir haben einen Mindestlohn, einen SMIC, der deutlich über dem unserer Nachbarn liegt, und darauf sind wir stolz. Aber wir haben einen Anteil unserer Arbeitnehmer, der nahe am SMIC liegt, viel höher als unsere Nachbarn. Das ist ein Problem.«
Das Lohnabstandsgebot, wie Attal und Macron es definieren, soll durch Steuererleichterungen in einem Volumen von zwei Mrd. Euro wieder hergestellt werden so wie durch eine Ausweitung der 15 Stunden Arbeitspflicht für Grundsicherungsbezieher*innen auf die gesamte Republik (galt bisher versuchsweise nur in 15 Départements). Beides macht gerade die unteren Einkommensschichten nicht reicher, entspricht aber dem allgemeinen Vorurteil von der sozialen Hängematte. Vorschläge zur weiteren Radikalisierung der Arbeitspflicht werden Le Pen und ihrer Bewegung schon einfallen, wenn sich das gewünschte Resultat nicht einstellt.
Attal kündigte an, dass seine Regierung »bei der Reform der Arbeitslosenversicherung weitergehen« und »alle Inaktivitätsfallen bekämpfen« wolle. Der Premierminister kündigte die Abschaffung der spezifischen Solidaritätsbeihilfe (ASS) für ausgesteuerte Arbeitslose an und wird eine Überprüfung der Regeln der Arbeitslosenversicherung fordern, wenn deren finanzieller Pfad »abweicht«.
Die ASS »ermöglicht es, ohne zu arbeiten, Quartale zu validieren (als Ersatzzeiten in der Rentenberechnung)«, während »wir der Ansicht sind, dass die Rente das Ergebnis von Arbeit sein muss … Wir werden also vorschlagen, die spezifische Solidaritätsbeihilfe auf die RSA (Grundsicherung) umzustellen und diese Beihilfe abzuschaffen«, fuhr der Premierminister fort.
Die Jugendkrawalle des letzten Jahres sind wahrscheinlich der Anlass für drei Maßnahmen, die den Arbeitsdienst für Jugendliche ausweiten: Es sollen 50.000 Stellen in einem freiwilligen Umwelt-Einsatz geschaffen werden, der allgemeine Zivildienst soll aus dem Experiment in einen allgemeinen Einsatz überführt werden und der Arbeitsdient für straffällig gewordene Kinder unter 16 Jahren wieder eingeführt werden. Lange Passagen seiner Rede widmete Attal dem Bildungssektor. Noch immer glauben große Teile der Mittelklassen, dass die persönliche Anstrengung und gute Schulen die soziale Spaltung der Gesellschaft überwinden.
Die Abgeordneten des linken Bündnisses NUPES haben unmittelbar einen Misstrauensantrag eingebracht, der sich zum wiederholten Mal als stumpfes Schwert des Parlaments erweisen wird, da Attal wie seine Vorgängerin zwar keine eigene Mehrheit hat, die Rechte jedoch niemals einem solchen Antrag zustimmen wird (wie umgekehrt die Linken niemals einem solchen Antrag von Le Pen zustimmen kann, weil hier immer die »Nationale Präferenz« eingebaut wird). Die Wahl zum Europaparlament wird die aktuellen Kräfteverhältnisse indizieren.
Anmerkung
[1] Die folgenden Zahlen stammen von der nationalen Statistik-Behörde https://www.insee.fr/fr/outil-interactif/5367857/tableau/70_SAC/71_AGR.