25. Mai 2024 Hinrich Kuhls: Vor den Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich
Düstere Bilanz der britischen Konservativen Partei
Premierminister Rishi Sunak hat Parteifreunde und politische Gegner mit der kurzfristigen Ansetzung der Unterhauswahlen überrascht. Bei ihrer Wahlentscheidung können die Wähler*innen die Bilanz einer 14-jährigen Regierungstätigkeit der Konservativen mit einbeziehen.
Die Wähler*innen werden Anfang Juli vor dem Hintergrund anhaltend hoher Hypothekenzinsen, rekordverdächtig steigender Mieten, eines sich abschwächenden Arbeitsmarkts und einer Wirtschaftsleistung, gemessen am Pro-Kopf-BIP, die immer noch unter dem Niveau vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie liegt, an die Urnen gehen. Die Inflation ist mit 2,3% auf dem niedrigsten Stand seit fast drei Jahren und nähert sich wieder dem »Inflationsziel« der Bank of England (BoE), nachdem sie 2022 die 11%-Marke überschritten hatte. Es wird jedoch nicht erwartet, dass die BoE auf ihrer Sitzung im Juni den derzeitigen Zinssatz von 5,25% senken wird.[1]
Der Anstieg der Lebenshaltungskosten und die Entwicklung der Hypothekenzinsen, die für die Wählerschaft der Tories von besonderer Bedeutung sind, haben sich in den Umfragen zur Parteienkompetenz und zu den Wahlabsichten anhaltend negativ für die Konservative Partei und ihre Regierungsmitglieder ausgewirkt. Die wichtigsten Wirtschaftsindikatoren deuten jedoch inzwischen auf eine leichte Erholung hin.
Sunak und die Tories insgesamt versuchen zu Beginn des Wahlkampfs, mit Verweis auf den Rückgang der Inflation und eine minimale Verbesserung anderer ökonomischer Kennziffern, einen Stimmungsumschwung bei den Wähler*innen einzuleiten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs in den ersten drei Monaten dieses Jahres um 0,6% und übertraf damit das Wachstum in den USA (0,4%). Im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie ist das Wachstum in den USA mit 8,9% jedoch deutlich höher ausgefallen als in Großbritannien (1,7%).
Das stärkste Wachstum seit zwei Jahren hat den Internationalen Währungsfonds dazu veranlasst, seine Prognose für das BIP-Wachstum in diesem Jahr auf 0,7% anzuheben. Zugleich warnt er davor, dass dem Vereinigten Königreich im Staatshaushalt eine Finanzierungslücke von 30 Mrd. Pfund droht. Auch das Verbrauchervertrauen verholte sich im Mai und stieg laut dem jüngsten GfK-Index um zwei Punkte auf minus 17, liegt damit aber immer noch deutlich unter dem Durchschnitt von minus 5,3 in den Jahren 2014 bis 2019.
Eine YouGov-Umfrage vom 18. bis 20. Mai ergab, dass jetzt wieder 25% der Brit*innen die Wirtschaftspolitik der Tory-Regierung positiv beurteilen – das ist der höchste Wert seit März 2022 –, aber 69% sind nicht mit ihr einverstanden. Die Tories »spielen derzeit vor einem sehr, sehr feindseligen Publikum und ich glaube nicht, dass sie viel tun können, um das zu ändern«, sagte Jack Bailey, ein Politikwissenschaftler an der Universität von Manchester.
Vor diesem Hintergrund dürfte die Behauptung des Premierministers, die Inflation habe sich »normalisiert«, auf wenig Gegenliebe stoßen. »Die Wirtschaft kehrt zur ›Normalität‹ zurück. Aber diese ›Normalität‹ führt dazu, dass immer mehr Menschen mit Hunger und großer Not konfrontiert sind«, sagte Helen Barnard, Leiterin der Abteilung Politik bei der Wohltätigkeitsorganisation Trussell Trust, die eine wachsende Zahl von Bedürftigen und eine steigende Nachfrage nach ihren Lebensmittelpaketen verzeichnet. »Das ist kein kurzfristiges Problem, das sich von selbst löst, wenn die Inflation sinkt und das Wachstum wieder anzieht. Es ist ein langfristiges Problem, für dessen Lösung eine Partei einen guten Plan vorlegen muss.«
Wahlkampfthemen
Die Tories werden in ihrer Wahlkampfrhetorik darauf verweisen, dass der Rückgang der Inflation zeige, dass ihr Plan zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach den Schocks der Covid-19-Pandemie und den steigenden Energiepreisen erste Früchte trage. Sie werden auch argumentieren, dass sie die einzige Partei sind, die einen Plan hat, um die Zahl der Überfahrten mit kleinen Booten zu reduzieren und die Nettoeinwanderung nach Großbritannien zu verringern. Die Labour Party wird dem entgegenhalten, dass es den Brit*innen heute schlechter gehe als 2010 und dass nur die Partei von Sir Keir Starmer für »wirtschaftliche Stabilität« stehe.[2]
In der seit vielen Jahren vom Meinungsforschungsinstituts YouGov kontinuierlich durchgeführten Umfrage, welche »die wichtigsten Themen für das Land« sind, nennen die britischen Wähler*innen in der Befragung vom 20. Mai vier Themen in dieser Reihenfolge: die Wirtschaft (von 49% benannt), den staatlichen Gesundheitsdienst NHS (44%), die Migration (43%) und den Wohnungsbau (24%).
»Geht es mir heute besser?«
In Umfragen zu den wichtigsten Themen der britischen Öffentlichkeit vor Wahlen steht »die Wirtschaft« stets an erster Stelle, genauer: Die Entwicklung der Kaufkraft bei steigenden Lebenshaltungskosten. Der Wert des »Pfundes in der Tasche« ist das zentrale Kriterium, anhand dessen die Menschen beurteilen, ob sich ihre eigene Situation verbessert hat.
Allerdings liegen die Reallöhne kaum über dem Niveau von 2010, auch wenn das britische Statistikamt vor einer Woche bekannt gab, dass das jährliche Wachstum der Wochenlöhne im ersten Quartal 2024 mit 5,7% stabil geblieben ist – entgegen den Prognosen von Analysten, die ein geringeres Wachstum von 5,5% erwartet hatten. Ausbleibendes Produktivitätswachstum, eine Inflation, die vor zwei Jahren mit 11% den höchsten Stand seit den 1980er-Jahren erreichte, und eine dauerhafte austeritätsgetriebene Einkommenspolitik im öffentlichen Sektor führten zu einer anhaltenden Stagnation der Realeinkommen seit 2010.
Die Tories hoffen, dass die jüngsten Daten, die für April eine Inflationsrate von 2,3% im UK ausweisen, das Vertrauen der Wähler stärken und die zentrale Botschaft von Sunak, »am Plan festzuhalten«, unterstützen werden. Allerdings ist die Inflation nicht so stark zurückgegangen wie von der Bank of England und einigen Ökonomen erwartet. Dies dämpft die Hoffnungen auf eine Zinssenkung im nächsten Monat – und damit die Chancen auf einen wirtschaftlichen Befreiungsschlag, der die Tories bei den Wahlen stärken könnte.
»Bekomme ich einen Arzttermin?«
Der Zustand des Gesundheitswesens ist seit der Gründung des National Health System vor 75 Jahren immer wieder ein wichtiges Wahlkampfthema gewesen. Obwohl die Mittel für den NHS aufgestockt wurden, sind die verschiedenen Wartelisten – der am einfachsten messbare Indikator für den Zustand des Gesundheitswesens – weiter angestiegen. Die Wartelisten für Routinebehandlungen in Krankenhäusern und Hausarztpraxen sind ab 2010 deutlich und ab 2020, als die Pandemie die Gesundheitsversorgung stark beeinträchtigte, sprunghaft angestiegen.
Die Tory-Regierung hat immer wieder versucht, die durch die Pandemie verursachte Überlastung und die durch den Arbeitskampf im letzten Jahr ausgefallenen Termine für den Anstieg der Wartezeiten verantwortlich zu machen. Dabei hatte der Premierminister die Verkürzung der Wartelisten schon im vergangenen Jahr zu einem seiner wichtigsten politischen Ziele erklärt. Seitdem ist die Zahl der Menschen, die auf einen Termin oder eine Behandlung warten, von 7,21 Mio. auf 7,54 Mio. gestiegen.
Das Wahlversprechen der Tories aus dem Wahlprogramm 2019, 40 neue Krankenhäuser zu bauen, hat sich schon früh in Schall und Rauch aufgelöst. Der Personalmangel im Gesundheits- und Pflegebereich, der durch die Abwanderung von Fachkräften aus der EU noch verschärft wurde, konnte trotz einer Zunahme von Arbeitsvisa für diesen Bereich nicht gemildert werden. Eine Reform der Pflegedienste wurde von den verschiedenen konservativen Kabinetten immer wieder angekündigt, aber nie in Angriff genommen. Die im europäischen Vergleich hohe Übersterblichkeit während der ersten Phase der Covid-19-Pandemie ist vor allem auf den schlechten Zustand der Pflegedienste zurückzuführen.
»Kommen weniger Ausländer ins Land?«
Eines der emotionalsten Themen ist die Migration – die bei den Wähler*innen immer unter den ersten drei rangierte –, oder im von den Tories salonfähig gemachten Sprachduktus der Rechtspopulisten: »die Zahl« der Menschen, die nach Großbritannien kommen. Die konservative Regierung hat zwei wichtige Versprechen zur Migration gemacht, die beide nicht eingehalten wurden.
Das erste Versprechen des ehemaligen Premierministers David Cameron war, die Nettozuwanderung nach Großbritannien auf «»einige Zehntausend« zu begrenzen. Seit dem Brexit und aufgrund von Engpässen in wichtigen Bereichen der Erwerbsbevölkerung ist die Nettozuwanderung nach Großbritannien tatsächlich stark angestiegen. Sie erreichte im Jahr 2022 einen Rekordwert von 745.000 und blieb im vergangenen Jahr mit über 670.000 auf einem historisch beispiellosen Höchststand.
Das zweite Versprechen, das nicht eingehalten wurde, ist die Anfang letzten Jahres von Sunak gegebene Zusage, die Boote mit Asylsuchenden, die den Ärmelkanal in Richtung Großbritannien überqueren, zu stoppen. Nachdem im vergangenen Jahr ein Drittel weniger Menschen auf diesem Weg ankamen, sind die Zahlen nun wieder deutlich angestiegen. Seit Anfang Januar wurden bereits 10.000 Ankünfte registriert, 35% mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.[3]
»Kann ich mir ein Eigenheim leisten?«
Der Traum vom Eigenheim bleibt für viele Menschen ein Traum. Obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass der Wohnraum in England seit 2021 erschwinglicher geworden ist, bleibt ein eigenes Haus für viele unerreichbar. Die wachsende Kluft zwischen Hauspreisen und Löhnen hat dazu geführt, dass Millionen von Menschen, die gerne Wohneigentum erwerben würden, sich mit Mietwohnungen begnügen müssen, ohne Aussicht darauf, in absehbarer Zeit genügend Mittel für eine Hypothek aufbringen zu können. Das Verhältnis zwischen dem Median der Hauspreise und dem Bruttojahresverdienst ist seit 2010 stark angestiegen, von unter sieben auf einen Spitzenwert von über neun im Jahr 2021.
Der Anteil der 18- bis 34-Jährigen, die in den eigenen vier Wänden leben, ist seit 2010 von rund 30% auf knapp 20% im Jahr 2023 gesunken.
Der Anstieg der Hypothekenzinsen war der größte Schlag gegen den Anspruch der Konservativen auf Wirtschaftskompetenz. Viele Wähler*innen lasten dies nach wie vor der ehemaligen Premierministerin Liz Truss an. Ihre Haushaltspolitik führte im Herbst 2022 zu erheblichen Turbulenzen an den Märkten und erzwang ihren schnellen Rücktritt.
Rund fünf Millionen Haushalte waren bis Ende letzten Jahres von steigenden Hypothekenzinsen betroffen, und die BoE erklärte im Dezember, dass weitere fünf Millionen Haushalte bis 2026 zu höheren Zinsen refinanzieren müssten. Die monatlichen Rückzahlungen würden um rund 240 Pfund oder 40% steigen, so die BoE. Auch die Mieten sind explodiert. Der jährliche Anstieg erreichte im April den Rekordwert von 9,2%. Insgesamt haben nach Angaben des britischen Statistikamtes rund zwei Fünftel der Bevölkerung Probleme, ihre Wohnkosten zu bezahlen.
Sozioökonomischer Wandel oder nationale Identität als Wahlkampfschwerpunkt?
Das vage Versprechen der Konservativen, dass die Dinge morgen etwas besser sein könnten, ist ein bemerkenswert dünnes Angebot für eine Partei, die seit 14 Jahren an der Macht ist. Angesichts ihrer dürftigen Bilanz werden es die Konservativen schwer haben, die Wähler*innen davon zu überzeugen, dass sie Antworten auf die wichtigsten innen- und außenpolitischen Herausforderungen haben, vor denen das Land in der Post-Brexit-Zeit steht.
Der Wahlausgang wird davon abhängen, inwieweit es den Parteien in der kurzen Zeit von sechs Wochen gelingt, den Eindruck zu erwecken, sie hätten nicht nur für eines der vielen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Probleme eine Lösung, sondern insgesamt ein programmatisches Angebot, das »Stabilität« und »Wandel« miteinander verbindet. Auch wenn der Brexit und seine Folgen als Wahlkampfthema zum Tabu erklärt wurden, werden Fragen der »nationalen Identität« aufgrund des im letzten Jahrzehnt hochgehaltenen Brexit-Nationalismus[4] nicht aus dem Wahlkampf ausgeklammert werden können, nachdem die Migrationsfrage immer wieder in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt wurde.
Die geopolitische und geoökonomische Positionierung des Vereinigten Königreichs wird heute von den Wähler*innen, die vor acht Jahren für den Brexit gestimmt und vor fünf Jahren die rechtspopulistische Tory-Partei und ihren verlogenen Premierminister Boris Johnson mit dem harten Schnitt mit der Europäischen Union beauftragt haben, weniger euphorisch gesehen. Aber die Illusion von »Global Britain« ist nicht verschwunden, vor allem nicht im größten Landesteil England. Ein Abgleiten in einen Wahlkampf mit nationalistischen Ober- und Untertönen ist nicht auszuschließen.
Ob der Wahlkampf angesichts der mageren Bilanz der Konservativen und ihrer unklaren Zukunftsperspektiven in diese Richtung verschärft wird oder nicht, wird sich bald zeigen. In der Not nicht steigender Zustimmungswerte werden die Tories auf ihre Wahlkampftaktik bei den letzten Parlamentswahlen zurückgreifen wollen. Eine ähnlich schlagkräftige Parole wie damals »Get Brexit done« haben die Konservativen aber noch nicht gefunden: »Stop the boats« allein wird in den nächsten sechs Wochen nicht ausreichen, um das Blatt zu wenden.
Anmerkungen
[1] Für die Kennziffern in diesem Beitrag wurden die beiden folgenden Berichte ausgewertet: »Economic feel-bad factor casts shadow over campaign« (FT, 24.5.2024, S. 2) und „Four key issues uppermost in voters’ minds“ (FT, 23.5.2024, S. 2).
[2] Kurz vor der Festlegung des Wahltermins stellte der Labour-Vorsitzende Keir Starmer ein Sofortprogramm einer künftigen Labour-Regierung vor. Vgl. dazu: John McDonnell: »Regierungswechsel in Großbritannien in Sicht. Das Sofortprogramm der Labour Party ist zu eng gefasst«, Sozialismus.de, 21.5.2024.
[3] Zum »Schlüsselproblem Migration« und der Rechtsverschiebung der Konservativen Partei im Rahmen der Erstarkung von Nationalismus und Rechtspopulismus in Europa siehe auch Hinrich Kuhls: »Ruanda oder die letzte Ausflucht. Deportation von Asylsuchenden als Wahlkampfthema der britischen Konservativen« in der aktuellen Printausgabe von Sozialismus.de (51. Jg., Heft 6, Juni 2024).
[4] Vgl. hierzu ausführlich: John Chowcat: »Gegen die Fehlinterpretation des Brexit-Nationalismus. Die Labour Party kann die Tories im Kulturkampf nicht ausstechen«. In: Sozialismus.de 490, (51. Jg., Heft 1, Januar 2024), S. 35–41.