6. März 2024 Bernhard Sander: Belgien steht im Juni auch vor Nationalwahlen

Ein gespaltenes politisches System und die extreme Rechten

Belgien wird parallel zu den Europawahlen in allen Landesteilen auch die Abgeordneten zum nationalen Parlament wählen. Dabei dominiert seit Anfang letzten Jahres die völkisch-identitäre Vlaams Belang (VB) im flandrischen nördlichen Landesteil mit steigender Tendenz, die zusammen mit der rechtsnationalistischen Neue Flämische Allianz (N-VA) fast die Hälfte der Stimmen in den Umfragen einsammelt.

Im südlichen Teil, der französisch-sprachigen Wallonie, führt in den Umfragen die Sozialdemokratie vor den Linkssozialisten von der Partei der Arbeit (PTB), der einzigen gesamtnationalen Partei, und den Liberalen. Rechtsextreme spielen hier keine Rolle. Die autonome Region um die Landeshauptstadt Brüssel kennt alle diese Parteien, hat dementsprechend eine breitgefächerte Listenvielfalt, knapp angeführt von den Linkssozialisten, nachdem die Liberalen und davor die Grünen die stärkste Partei waren. Sie liegen mit ihren wallonischen und flandrischen Listen jeweils an vierter Stelle.

Der Failed State Belgien sähe nach Stand der Dinge also 12 Listen im Parlament, das fix aus 150 Sitzen besteht. Eine rot-rot-grüne Mehrheit (PS/Voruit 29 – PTB 21 – Ecolo/Groen 17 Sitze) aus allen drei Landesteilen wäre rechnerisch nur möglich, wenn aus dem liberalen oder christdemokratischen Lager Kräfte hinzugewonnen werden könnten durch Duldung oder direkte Beteiligung. Umgekehrt gilt für die rassistische Rechte, dass sie – sollten sich beide Parteien überhaupt einigen – auch mit Unterstützung sowohl der liberalen als auch der christdemokratischen Landeslisten nicht auf eine Mehrheit im Parlament käme.

Beruhigende Aussichten für die Linke also? Mal abgesehen davon, dass die Umfragen bis zum Sommer noch manche Überraschung liefern können, ist keineswegs sicher, dass PTB sich an einer Regierung beteiligen wird, wenn für die Unterstützung durch liberale oder christdemokratische Kräfte Abstriche gemacht werden müssten. Einer der drei relevanten Gewerkschaftsbünde (FTB) fordert eine solche Koalition.

Die Sozialisten bildeten 16 Monate (!) nach der letzten Wahl 2019 und nach überstandenen Turbulenzen um eine mögliche Beteiligung an einer COVID-Koalition (unter Führung des N-VA-Vorsitzenden Bart de Wever) die sogenannte Vivaldi-Koalition mit den Christdemokraten, Grünen und Liberalen beider wesentlicher Landesteile, die immerhin die Legislaturperiode überstand. PTB und Rechtsextreme blieben außen vor.

Eine gesonderte Umfrage in Flandern ergab soeben einen Stimmenanteil von 28% für Vlaams Belang (Die Flämische Sache), die damit gegenüber den letzten Parlamentswahlen 10% zulegen würden. Dies geht vor allem auf Kosten der Nationaldemokraten von N-VA, die von 24% auf 19% absackt.

Auch für die flämischen Parteien der Mitte gibt es in dieser Wahlumfrage nicht viel zu lachen. Die Christdemokraten CD&V würden bei 11,3% (15,4% im Jahr 2019) zu stehen kommen und die liberale Open VLD bei 9% (13,1%). Zulegen könnten die Sozialdemokraten, verdoppeln würde sich die Arbeiterpartei (PTB/PvdA). Die Grünen würden ihr schlechtestes Ergebnis einfahren.

Die flämischen Sozialisten (Vooruit) würden 13,7% der Stimmen erhalten gegenüber 10,1% im Jahr 2019, die Grünen von Groen würden mit 8,2% (10,1%) ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt einfahren. Die linksradikale Arbeiterpartei PVDA würde mit 10,7% der Stimmen ihr Ergebnis von 2019 (5,3%) quasi verdoppeln.

Die Einwanderung ist für die Wähler*innen im belgischen Bundesland Flandern 100 Tage vor den Parlaments-, Regional- und Europawahlen das wichtigste Thema.[1] Man konnte in der hier zitierten Umfrage nur ein Thema aus der vorgelegten Liste nennen. Doch auch die Kaufkraft beschäftigt viele Bürger*innen. Dabei fällt auf, dass die wichtigsten Punkte aus vergangenen ähnlichen Umfragen, die unabhängig voneinander durchgeführt wurden, in den Hintergrund rücken: Pflege und Gesundheit (während Corona), Energie (während der Energiekrise durch den Ukraine-Krieg) und internationale Sicherheit (durch den Ukraine-Krieg).

Viele Menschen (20%) machen sich Sorgen darüber, dass alles teurer wird, auch wenn die Inflation nach einigen Höhepunkten in der jüngeren Vergangenheit wieder gesunken ist: Im Befragungszeitraum lag sie bei 1,75% und aktuell liegt sie bei 3,2%. Vor einem Jahr lag sie jedoch noch bei 8%. Viele Wähler*innen sind zudem der Ansicht, dass es der Wirtschaft in Belgien bzw. in Flandern heute schlechter geht. Belgien hat ein System der Lohn-Indizierung, das die abhängig Beschäftigten vor den schlimmsten Auswirkungen der Inflation schützt. Die Angst vor persönlicher Verarmung treibt also eher Landwirte, Selbständige und prekär Beschäftigte um.

Wie in vielen europäischen Ländern herrscht auch in Belgien Verachtung für die politische Elite. Allein sechs Mal musste die amtierende Regierung in der vergangenen Legislatur umgebildet werden, weil Minister in Skandale verstrickt waren. Die Doppelstrukturen in den teilautonomen Bundesländern sichern Pfründe und sorgen für Intransparenz und komplizierte Entscheidungswege.

14% der Wahlberechtigten fühlen sich von der Politik und den Parteien nicht vertreten und haben nur wenig Vertrauen in sie und ihre Einrichtungen. Daran hat sich seit den letzten Wahlen kaum etwas geändert. Politiker*innen, Parteien, die Regierungen und die Parlamente – alles bekommt von den Flamen ein »Ungenügend«. Gesellschaftliche Entwicklungen auf sozialer und kultureller Ebene sind für 7% der Wahlberechtigten in Flandern das wichtigste politische Thema, Kriminalität und Justiz für 5% sowie allgemeine Politik und Behörden für 4%. Auch dies sind Punkte, die eher von der Rechten markiert werden. Würde die Wahlpflicht in Belgien abgeschafft, würde übrigens jeder fünfte Flame nicht mehr wählen gehen.

In diesem Umfeld wird die Einwanderungsfrage zum bestimmenden Thema der anstehenden Wahlen, wie es auch schon 2019 der Fall war. Selbst wenn in letzter Instanz die Ökonomie bestimmend sein mag, nennen nur relativ kleine Wählergruppen Armut (5%), Haushalt und Staatsschuld (5%) sowie Steuern (4%) als das wichtigste Thema. Und nur 1% der wahlberechtigten Flamen gibt an, dass sie die internationalen Themen, wie die kriegerischen Konflikte in der Ukraine und in Gaza, bei den anstehenden Wahlen beeinflussen würden.

Anmerkung

[1] Die Abstimmung resultiert aus einer Online-Befragung unter 2.029 wahlberechtigten Einwohnern der Flämischen Region. Sie fand zwischen dem 8. und dem 22. Januar 2024 statt. Die Befragung wurde von der Universität Antwerpen (UAntwerpen) im Auftrag von VRT NWS, der Nachrichtenredaktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von Flandern VRT, und der flämischen Tageszeitung De Standaard durchgeführt. https://www.vrt.be/vrtnws/de/2024/02/29/wahlen-_24-migration-und-kaufkraft-sind-die-themen-die-die-fla/

 

 

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