4. November 2018 Paola Giaculli: »Rebellion« der italienischen Regierung ist neoliberal

Ein »Haushalt des Volkes«?

Der Bruch mit der EU-Austeritätspolitik muss nicht unbedingt zu einer Abkehr von der neoliberalen Politik führen. Deshalb sollte die »Rebellion« der italienischen Regierung gegen den Zwang des Fiskalpaktes aus linker Sicht nicht als Befreiungsschlag oder als Sieg der Politik über die Märkte gefeiert werden.

Der Fiskalpakt muss im Namen einer konsequenten Investitions- und Beschäftigungspolitik bzw. sozial gerechten Steuerpolitik überwunden werden. Dazu braucht es außerdem eine andere Wirtschafts- und Industriepolitik. Davon fehlt jegliche Spur im aktuellen italienischen Haushaltsentwurf und in diesem Sinne unterscheidet sich die jetzige Regierung von den früheren kaum.

Die einzelnen Posten sind noch nicht bekannt, aber von den 36,7 Mrd. (ca. 22 Mrd. Neuverschuldung) sollen ca. 9 Mrd. für die Einführung eines sogenannten Bürgereinkommens bzw. eine Aufstockung von Mindestrenten bzw. Niedriglöhnen auf 780 Euro verwendet werden. Weitere 7 Mrd. werden eingestellt, um die Rentenreform (Regierung Monti 2012) nachzubessern. Angekündigt ist eine Frühverrentung mit 62 Jahren bei 38 Beitragsjahren. Ungefähr 150.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst könnten dies 2019 nutzen. Da fehlt aber ein Plan für eine rasche Einstellung von neuen Arbeitskräften, um einen Kollaps vor Ort zu verhindern.

Natürlich wäre, ebenfalls avisiert, die Einführung einer Flat-Tax, bzw. eines nicht progressiven Steuersystems, weder verfassungskonform noch aus linker Sicht akzeptabel. In den letzten 25 Jahren wurden die Steuersätze für Kapitalgesellschaften und höhere Einkommen systematisch reduziert, für niedrigere Einkommen aber zugunsten von Finanzrenditen und Reichen erhöht. Die aktuelle Regierung geht noch weiter in diese Richtung.

Zwar muss es den Klein- und Mittelunternehmen (KMU), die unter der Wirtschaftskrise besonders gelitten haben, geholfen werden (mitverantwortlich für ihr Leiden ist übrigens der Staat selbst, der insgesamt den KMU 57 Mrd. für ihre Aufträge schuldet). Aber es kann nicht sein, dass die umfangreiche Steuerhinterziehung von geschätzt 110 bis 130 Mrd. pro Jahr geduldet und aufgrund eines Steuererlasses Steuerhinterzieher geschont werden.

Im Haushaltentwurf werden nur 3,5 Mrd. für Investitionen eingestellt. Details über diesen Posten bleiben bis dato unbekannt. Trotz des Alarmzustandes im Lande angesichts maroder Infrastrukturen, einstürzender Schulen, Brücken und Straßen, der alarmierenden Bodenerosion, die eine wilde Bauspekulation im Laufe der letzten Jahrzehnte zum großen Teil zu verantworten hat, den Verwüstungen von Erdbeben und schließlich des Klimawandels, haben sich öffentliche Investitionen in den Jahren 2008 bis 2018 unglaublicherweise um 30% reduziert.

Auch diese Regierung sieht hier keinen Handlungsbedarf. Bildung und Kultur gehen (wieder) leer aus. Die Schüler*innen waren neulich auf den Straßen mit dem Motto »Wir wollen die acht Milliarden zurück, die uns Berlusconi vor zehn Jahren weggenommen hat!«.

Das »Bürgereinkommen« ist ein italianisiertes Hartz IV. Sozial- und Wirtschaftsminister Luigi Di Maio (5Sterne) war Anfang Oktober nicht zufällig zu Besuch bei den deutschen Kollegen Hubertus Heil und Peter Altmaier, die laut Di Maio Verständnis und Kooperationswillen gezeigt haben. Das »Bürgereinkommen« soll wie in Deutschland[1] ein institutionalisiertes Überwachungssystem werden, in dem die Leistungsbezieher*innen nicht frei über das erhaltene Geld verfügen können.

Dies kann kaum noch als sozialstaatliche Politik definiert werden und passt genauso wie die Überwachungsmechanismen der EU-Finanzpolitik (Leistung gegen Auflagen wie im Fall Griechenland) ins Gesamtkonzept des Neoliberalismus der aktuellen Phase.

Nur elektronische Bezahlungen sollen erlaubt und die Leistung muss monatlich aufgebraucht werden. Bis zu drei Arbeitsangeboten dürfen abgelehnt werden, Fortbildungskurse und acht Stunden »gesellschaftlich nützliche« Arbeit sind Pflicht. Auch nicht italienische Bürger*innen, die zumindest fünf Jahre in Italien angemeldet sind, dürfen immerhin die Leistung beziehen. Sozialbetrüger*innen sollen mit bis zu 6 Jahren Haft bestraft werden. »Unmoralisches Einkaufen wird nicht erlaubt« mahnt Di Maio. Noch unklar ist, was die Leistungsempfänger*innen nicht kaufen werden dürfen (abgesehen von Alkohol, Tabak, und Spielen) und wie sie überwacht werden sollen.

Für die Errichtung bzw. Umgestaltung von Arbeitsagenturen wird eine Milliarde Euro vorgesehen. Aktuell gibt es 552 solche Zentren mit knapp 8.000 Beschäftigten, die bisher nicht einmal 3% der eingetragenen Arbeitssuchenden einen Job vermitteln konnten. Die Hälfte davon verfügt nicht einmal über ein aktualisiertes Informationssystem. Die Zahl der möglichen Empfänger*innen wird um 5 Mio. geschätzt. Sie leben vor allem im Süden, wo die Arbeitsagenturen technologisch noch schlechter (72%) ausgestattet sind. Um die Sozialleistungen überweisen zu können, müssten sie aber in der Lage sein, Anspruchsvoraussetzungen zu überprüfen und deshalb sich mit Finanzamt, Banken, Zoll zu koordinieren. Wie das bis April 2019 geschehen soll, bleibt für viele Experten noch ein Rätsel.

Gleichzeitig werden Integrationsmittel gekürzt. Öffentliche Flüchtlingszentren vor Ort sollen dichtgemacht werden. Schon protestieren Kommunen dagegen, denn gerade diese Zentren sind gute Beispiele für gelungene Integration. Ohne sie hätten die Migrant*innen kaum eine andere Wahl, als sich als Dealer bzw. Prostituierte für kriminelle Organisationen oder als Sklav*innen in der Schattenwirtschaft zu verkaufen, zu Ungunsten der inneren Sicherheit.

Aber Innenminister Matteo Salvini (Lega) wollte mit seinem Kampf gegen den Integrationsbürgermeister von Riace ausgerechnet in der Region Kalabrien, Hochburg einer der mächtigsten kriminellen Organisationen der Welt, der N’drangheta, ein Exempel statuieren. Zoll und Polizei sollten eigentlich lieber bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und organisierter Kriminalität als für die Bespitzelung von möglichen »Sozialbetrüger*innen« oder gegen »illegale« Flüchtlinge eingesetzt werden.

Gegen die Abwanderung (geschätzt 250.000 bis 300.000 Menschen pro Jahr seit 2013) – anders als die Einwanderung ein alarmierendes Problem besonders in Süditalien – wird übrigens nichts unternommen. Zum Verteidigungsetat (aktuell 1,15% des BIP) sagte Verteidigungsministerin Elisabetta Trenta (5Sterne) der NATO-Forderung nach dem Anstieg auf 2% bis 2024 zu. Anders als von der 5Sterne-Bewegung versprochen, wird Italien die umstrittenen Jagdbomber F-35 von den USA für 10 Mrd. kaufen. Die im Haushaltsentwurf enthaltenen Kürzungen (60 Mio. für 2019 bzw. 531 Mio. für die Jahre 2019 bis 2031) stellen eher organisatorische Korrekturen als eine Wende in der Verteidigungspolitik dar.

Die Versuche, durch ein so genanntes Dekret der Würde (August 2018), Arbeitsprekarisierung und Deindustrialisierung zu bekämpfen, sind zwar im Prinzip lobenswert, aber weit ungenügend. Unternehmen, die öffentliche finanzielle Unterstützung erhalten haben, dürfen fünf Jahre lang nicht verlagert werden. Befristete Arbeitsverträge ab zwölf Monaten dürfen nur mit Sachgrund bis auf 24 Monate verlängert werden. Alle anderen dürfen bis viermal (statt fünf) verlängert werden.

Diese Maßnahmen könnten freilich auch zu mehr Scheinselbstständigkeit führen. Anzeichen dafür gibt es: In den letzten Monaten ist die Zahl sowohl der unbefristeten als auch der befristeten Arbeitsverträge im Vergleich zur gleichen Periode 2017 gesunken, die der Selbständigen gleichzeitig gestiegen.

Ob all dies die Entwicklung in Italien positiv beeinflussen kann, scheint fraglich. Von einem sozialen Durchbruch gegen die neoliberale EU-Austeritätspolitik kann kaum die Rede sein. Denn diese Regierung verfolgt trotz differenzierter Akzente einen Kurs, der die soziale Spaltung und die Unsicherheit weiter vertieft.

Die 5Sterne-Bewegung hat sich von der Lega vereinnahmen lassen, einer fremdenfeindlichen Partei, die ihr Agieren auf Hetze gegen Süditalien und Südländer*innen fundiert und vor kurzem aus opportunistischen Gründen eine »nationale« Partei geworden ist. Staatspräsident Sergio Mattarella wollte keinen EU-skeptischen Finanzminister, aber hat erstaunlicherweise das verfassungswidrige Sicherheitspaket unterschrieben, wenn auch mit Bedenken.

Was Italien braucht ist, neben einem großen Investitionsplan, eine Wirtschafts- und Industriestrategie, um Beschäftigung zu schaffen und das enorme Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd zu überwinden. Neben dem, was auf nationale Ebene möglich ist, sollte eine EU-koordinierte Wirtschafts-, Steuer-, und Lohnpolitik durch die Einführung von Mindestsozialstandards dem Fiskalpakt und dem Wettbewerb innerhalb der EU ein Ende setzen.

Das würde die Verlagerung von Betrieben in Niedriglohnmitgliedsstaaten mit Niedrigsteuern eindämmen, die für den massiven Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich ist und dazu beitragen, Beschäftigung und Knowhow vor Ort zu behalten und zu differenzieren. Die linke Alternative zur aktuellen Europäische Union sollte der Aufbau eines Raums der sozialen Menschenrechte sein, der dezidiert gegen den lebensbedrohlichen Klimawandel kämpft, und der gleichzeitig enorme Chancen für die Beschäftigung eröffnen könnte.

Der Streit zwischen EU-Austerität und »Volkssouveränität« ist eine Zwickmühle, der sich linke Politik entziehen sollte. Die bestehenden EU-Regierungen, die sich auf diese Souveränität berufen, betreiben eine neoliberale Politik und beschneiden die Rechte aller, die als »volksfremd« angesehen werden. Die sozialen Rechte werden zu Zugeständnissen eines autoritären Staates, der die »Fremden« bzw. Anderslebenden und Armen stigmatisiert und noch größere Ungerechtigkeit schafft.

Ausgrenzung, Beschneidung von Bürgerrechten und Überwachungswahn stellen eine verschärfte Stufe des antisozialen Neoliberalismus der letzten 30 Jahre dar. Auch Italien mit seiner jetzigen Regierung scheint diesen Weg mit dem von Di Maio genannten »Haushaltsgesetz des Volkes« (manovra del popolo) einzuschlagen.

Paola Giaculli, Diplomdolmetscherin, ist seit 2007 Europakoordinatorin der Linksfraktion im Bundestag. Bis 1991 war sie Mitglied der KPI, von 1992 bis 2006 tätig im internationalen Bereich der Rifondazione comunista, von 1994 bis 2001 Mitarbeiterin der Linksfraktion im Europäischen Parlament.

[1] Hubert Heil soll in seinem Gespräch mit Di Maio gesagt haben: »Endlich habe ich verstanden, dass es nicht um eine Transferleistung handelt, sondern um eine Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik wie das deutsche Hartz IV.« Il Fatto quotidiano, 9. Oktober 2018.

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