29. September 2018 Joachim Bischoff: Italienische Regierung einigt sich auf höhere Defizitziele

Ein Haushalt des Wandels?

Die Maio und Salvini (Foto: dpa)

Der seit Wochen anhaltende Streit in der italienischen Regierung über den Haushalt für das kommende Jahr ist beigelegt. Die Regierungsparteien und Wirtschafts- und Finanzminister Giovanni Tria verständigten sich am Donnerstagabend auf ein Defizitziel für 2019 in Höhe von 2,4% des Bruttoinlandsproduktes – so wie es die populistische 5-Sterne-Bewegung und die rechte Lega gefordert hatten.

Der parteilose Tria konnte sich hingegen nicht durchsetzen. Er hatte sich für ein Defizitziel von nur 1,6% des Bruttoinlandsprodukts stark gemacht, um die ohnehin schon nervösen Finanzmärkte nicht weiter zu verunsichern. Auch um den Preis eines höheren Defizits im öffentlichen Haushalt wollen die Regierungsparteien Lega und Fünf Sterne-Bewegung die Weichen für Wachstum stellen und ihre Wahlversprechen einhalten.

»Wir sind zufrieden, das ist der Haushalt des Wandels«, erklärten die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten Luigi Di Maio (5-Sterne-Bewegung) und Matteo Salvini (Lega). Mit mehr Schulden will die Regierung aus der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung und rechten Lega u.a. Steuersenkungen und ein Bürgereinkommen realisieren. Summiert man die Kosten der drei wichtigsten Wahlversprechen von Lega und Cinque Stelle, hätten mehr als 100 Mrd. Euro im Jahr aufgewandt werden müssen. Die beiden Koalitionspartner wollten daher für ihre Wähler*innen möglichst viel umsetzen.

»Wir werden das Bürgereinkommen und eine ernsthafte Steuerreform einführen«, kündigte Regierungschef Giuseppe Conte auf Facebook nach der Kabinettssitzung an. Auch werde das Rentengesetz Fornero überholt, mit dem das Rentenalter hochgesetzt worden war. Anstatt des von den Cinque Stelle angekündigten bedingungslosen Grundeinkommens für alle Arbeitslosen ist derzeit nur noch eine Erhöhung der Mindestrenten auf 780 Euro im Monat vorgesehen und eine ebenso hohe soziale Unterstützung für Personen, die unter der Armutsgrenze leben.

Zum einen sollen neue Arbeitsvermittlungszentren geschaffen werden. Zum anderen sollen rund 6,5 Mio. Bürger*innen, die unter der Armutsgrenze leben und aktiv Arbeit suchen, künftig ein Grundeinkommen von 780 Euro im Monat bekommen. Die Mindestrenten sollen ebenfalls auf diesen Betrag erhöht werden. Um die Kosten der Maßnahme zu reduzieren, sollen »goldene Renten« von über 4.500 Euro im Monat offenbar neu berechnet werden.

Das Thema, das die Italiener*innen laut Umfragen am meisten interessiert, ist die Rückgängigmachung der unpopulären Rentenreform von 2011. Beide Koalitionspartner haben im Wahlkampf eine Senkung des Rentenalters versprochen. Da diese den Staat jedoch sehr teuer zu stehen kommt, wird noch über die Details verhandelt. Offenbar soll eine Form der versprochenen Quote 100 (Alter plus Beitragsjahre) gelten. Das Mindestalter könnte auf 62 Jahre festgelegt werden.

Laut Lega-Chef Salvini werden im nächsten Jahr rund 400.000 Personen früher in Pension gehen können. Damit würden nicht nur Kosten generiert, sondern auch neue Stellen für die Jungen geschaffen, betonte er am Dienstagabend. In Stein gemeißelt ist noch keiner der Vorschläge. Die Gesamtkosten der Maßnahmen sind entsprechend schwer zu berechnen. Schätzungen gehen von 26 bis 30 Mrd. Euro aus. 2018 belief sich Italiens Budget auf 852 Mrd. Euro. Der Großteil davon wird für laufende Ausgaben wie Gehälter von Beamten, Renten oder Zinszahlungen eingesetzt. Nur 49 Mrd. Euro konnte die Regierung für ihre politischen Ziele einsetzen. Im kommenden Jahr ist der Manövrierraum wegen steigender Kosten und Zinsen jedoch viel kleiner.

Für 2019 hatte die sozialdemokratische Vorgängerregierung ursprünglich mit der EU einen Fehlbetrag von 0,8% vereinbart. In Brüssel wäre man offenbar bereit gewesen, eine doppelt so hohe Quote hinzunehmen: 1,6%. Jetzt ist mit der erhöhten Rate der Neuverschuldung ein politisches Problem markiert. EU-Kommissar Pierre Moscovici hat die Haushaltsbeschlüsse schnörkellos kritisiert. Die Schulden des Landes seien »explosiv«. Die EU-Kommission habe kein Interesse an einem Konflikt mit Italien. »Aber wir haben auch kein Interesse daran, dass Italien die Regeln nicht akzeptiert und seine Schulden nicht reduziert.«

Italien weist nach Griechenland die zweithöchste Schuldenquote in der Euro-Zone auf. Der Schuldenberg des Landes wird weiter wachsen, die Verschuldung liegt aktuell bei 132% des BIPs. Die Wirtschaft schwächelt seit längerem und hinkt dem Rest der Währungsunion seit deren Start vor fast zwei Jahrzehnten weitgehend hinterher. Die langjährige Austeritätspolitik hat tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Das zeigt sich sowohl in der öffentlichen Infrastruktur wie in der Zunahme der Armut. Die Zahl der in Armut lebenden Italiener*innen hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht. Mit einer expansiven Haushaltspolitik wollen die populistischen Kräfte, die die Parlamentswahlen im März gewonnen hatten, Italien wieder auf Wachstumskurs bringen.

Mit einem Defizit von 1,8% des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegt Italien derzeit zwar klar unter der von Brüssel festgelegten Schwelle von 3%. Da das Land aber sehr hoch verschuldet ist (2018: 2,28 Bio. Euro), muss es schärfere Kriterien erfüllen, um die Schuldenquote wie vorgeschrieben zu senken. Derzeit liegt die Verschuldung im Verhältnis zum BIP bei rund 132%. Würde das Wachstum stärker anziehen, könnte sich Rom etwas mehr Defizit leisten.

Doch die Aussichten bleiben düster. In den ersten zwei Quartalen ist Italiens Volkswirtschaft nur 0,2% gewachsen, das ist halb so viel wie der europäische Schnitt und der geringste Zuwachs seit knapp zwei Jahren. Die Euro-Zone hatte 0,4% geschafft, ihre größte Volkswirtschaft, Deutschland, 0,5%. Gebremst wurde die Wirtschaft in Italien vom Außenhandel, da die Exporte langsamer zulegten als die Importe. Zudem stagnierte der private Konsum. Dagegen investierten die Unternehmen mehr.

Für die seit Juni amtierende Regierung aus den eurokritischen Populisten der 5-Sterne-Bewegung und der rechten Lega ist die schwächere Konjunktur eine Belastung, da sich dies negativ auf die Steuereinnahmen auswirkt. Sie will die Wirtschaft mit Steuersenkungen und höheren Sozialausgaben anschieben. Dies schürt an den Finanzmärkten Sorgen vor einem Ansteigen des Staatschuldenbergs.

Wirtschaftsminister Giovanni Tria rechnet für 2018 mit einem BIP-Wachstum von 1,5%, während die EU-Kommission, der Wirtschaftsverband Confindustria und die heimische Notenbank lediglich von 1,3% ausgehen. Positiv entwickelte sich zuletzt die Arbeitslosigkeit, die im Juli auf den niedrigsten Stand seit mehr als sechs Jahren fiel. Die Quote beträgt 10,4%. Ein großes Problem bleibt die Jugendarbeitslosigkeit: Fast jede Dritte zwischen 15 und 25 Jahren ist erwerbslos.

Die EU und Euro-Zone drängen trotz der unübersehbaren sozialen Probleme auf einen Konsolidierungskurs im Rahmen des EU-Haushaltes. Es sind kaum Ressourcen zu mobilisieren – selbst wenn der politische Wille vorhanden wäre, mit denen Italien ein Herausarbeiten aus der chronischen Wachstumsschwäche erleichtert werden könnte.

Trotzdem geht die Ära der Austerität –wie schon nach der Ablösung der Gentiloni-Regierung (PD) und den vorgezogenen Parlamentswahlen am 4. März 2018 zu erwarten war – endgültig zu Ende. Italiens Haushaltsdefizit soll nach den Beschlüssen der Regierungsparteien nun in den Jahren 2019, 2020 und 2021 jeweils bei 2,4% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegen. Die Regierung will 2019 mit den Maßnahmen das Wachstum ankurbeln und so längerfristig den Haushalt wieder in die Balance bringen.

Es sind zwar auch Investitionen für Schulen, Straßen und Gemeinden vorgesehen. Doch größere Investitionen und Anreize für die schwer gebeutelte heimische Wirtschaft sind nicht zu erkennen. Nicht nur die Selbständigen, sondern auch viele der Klein- und Mittelbetriebe in Italien kämpfen derzeit ums Überleben. Ein umfassendes gesellschaftliches Aufbauprogramm wäre nur mit Unterstützung der EU oder der europäischen Mitgliedsstaaten möglich gewesen.

Auch wenn ein Austritt aus der Eurozone nicht mehr zu den expliziten Zielsetzungen der italienischen Regierung gehört, ist eine Konfrontation mit den europäischen Regularien implementiert. Das betrifft die Strategie der inneren Abwertung und die Handhabung der Flüchtlingsfrage.

Die Fiskalregeln der Euro-Zone sehen bei wachsenden Divergenzen nur einen einzigen Anpassungsmechanismus vor: die innere Abwertung, denn die Währung des Euro blockiert andere Regulierungen. Weist ein Land ein Zahlungsbilanzdefizit auf, so muss es dieses dadurch ausgleichen, dass es eine Deflation gegenüber anderen Mitgliedsländern herbeiführt.

Das ist nicht nur schmerzhaft, sondern auch unwirksam. Währungsunionen können aber nur funktionieren, wenn sie über Mechanismen verfügen, die gewährleisten, dass eine Anpassung bei allen, also symmetrisch, erfolgt. Das heißt: Die Überschussländer müssen ebenfalls ihren Teil der Anpassung übernehmen. Die Strategie der inneren Abwertung hat zum Glaubwürdigkeitsverlust der Politik und der europäischen Institutionen geführt.

Die EU-Kommission betont gegenüber dieser Kritik: Es werde für kein Land Ausnahmen vom Stabilitäts- und Wachstumspakt geben. Die Regeln müssten von allen EU-Ländern eingehalten werden. Die Kommission sei der Hüter der Verträge und sie gehe davon aus, dass Italien seine Verpflichtungen im Finanzbereich auch in der Zukunft erfüllt.

Mehr noch: EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger hat in bekannter Manier die italienische Regierung davor gewarnt, eine neue Euro-Krise auszulösen: »Der Rettungsmechanismus ESM könnte eine so große Volkswirtschaft wie Italien kaum stabilisieren. Daher hoffe ich sehr, dass die Regierungsparteien eine große Lernkurve machen.« Bei einer neuen Eurokrise wäre Italien nicht außen vor, sondern mittendrin. Unverhohlen droht der Schwabe mit der Reaktion der Finanzmärkte.

Im Oktober muss Italien den Entwurf für den Haushalt 2019 erst der EU-Kommission sowie den EU-Finanzministern und dann dem Parlament vorlegen. Die EU könnte ein Verfahren gegen das Land in die Wege leiten. Die Brüsseler Behörde hatte die Regierung in Rom mehrmals zu einer konservativen Ausgabenpolitik ermahnt. Die Befürchtung ist, dass Italien – immerhin die drittgrößte EU-Volkswirtschaft – eine neue Schuldenkrise in Europa auslöst. Angesichts der hohen Schulden, die bereits auf dem italienischen Staat lasten, könnte die nun geplante Neuverschuldung die Finanzmärkte und den Euro verunsichern.

Wirtschaftsminister Tria und seine engsten Mitarbeiter im Ministerium standen seit Wochen unter Beschuss der Cinque Stelle, weil sie die Vorstellungen der Regierungsparteien nicht einfach durchwinken mochten. »Was ist das nur für ein Minister, der das Geld für den Wandel nicht findet«, sagte Di Maio, der seinerseits unter dem Druck der Parteibasis steht, die gerne Resultate sähe. Tria erwiderte, er habe bei der Amtsübernahme geschworen, sich allein vom nationalen Interesse leiten zu lassen, und genau das tue er. Jede Milliarde Defizit, die man jetzt zusätzlich mache, verliere Italien wieder, wenn es höhere Schuldzinsen bezahlen müsse.

Italien wird angesichts seiner Probleme auf absehbare Zeit eine große Herausforderung für die Euro-Zone bleiben.

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