3. Januar 2018 Otto König/Richard Detje: Uneinigkeit der Linken ebnet den Weg für rechten Präsidenten

Ein Risiko für Chile

Foto: Sebastián Piñera (Quelle: Government of Chile)

Zwei Jahre nach dem Sieg eines Unternehmers in Argentinien rückt auch das Nachbarland Chile nach rechts. Sebastián Piñera von der rechtskonservativen Koalition Chile Vamos (Chile vorwärts), der 2010 bis 2014 schon einmal Staatschef war, kam in der Stichwahl auf 54,6% der Stimmen und wird das Andenland erneut vier Jahre lang regieren.

Sein Herausforderer, der Journalist Alejandro Guillier, von der Mitte-links-Regierungskoalition Fuerza de la Mayoría (Kraft der Mehrheit) erreichte 45,4%. [1] Der neu gewählte Präsident tritt sein Amt am 11. März 2018 als erneuter Nachfolger der Sozialistin Michelle Bachelet an, die nicht wieder zur Wahl antreten konnte. Piñera’s erste Amtszeit war geprägt von massiven Demonstrationen gegen seine Bildungspolitik, auf denen die Studierenden den kostenlosen Zugang zu Schulen und Universitäten forderten. Gleichzeitig erstarkte die Umweltbewegung, die mit großen Demonstrationen auf sich aufmerksam machte. Seine Sympathiewerte fielen am Ende seiner Amtszeit rapide. Sein Comeback ist also nicht damit zu erklären, dass ihn die chilenische Bevölkerung vermisst habe.

Profitiert hat der Unternehmer und Verfechter eines neoliberalen Wirtschaftskurses von der geringen Wahlbeteiligung und von der Uneinigkeit der Linken. Nur 49% der 14,3 Millionen wahlberechtigten Chilenen, nur zwei Prozentpunkte mehr als im ersten Wahlgang, machten von ihrem Stimmrecht Gebrauch. »Es gibt fast eine verlorene Generation von jungen Chilenen, die entweder das System ablehnen oder so merkantilistisch auf das eigene Fortkommen programmiert groß geworden sind, dass ihnen egal ist, wer im Präsidentenpalast sitzt«, beurteilt Claudio Fuentes, Professor an der Universität Diego Portables, das Wahlverhalten.

Seit einer Generation leben die Chilenen in der Demokratie, nachdem sie die Pinochet-Diktatur mit einem Referendum beendet haben. Man verachte die Diktatur, so der Direktor von Radio Bio Bio, Tomás Mosciatti, habe aber viel von deren Erbe übernommen. Gemeint ist vor allem das liberale Wirtschaftsmodell, das in keinem anderen lateinamerikanischen Land derart ausgeprägt ist. An der tiefen sozialen Spaltung hat die vierjährige Amtszeit von Bachelet – entgegen den Versprechungen – zu wenig verändert. Die wachsende Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher und sozialer Stagnation fiel auf sie zurück. [2] Die Entstehung der Frente Amplio (Breite Bewegung) überwand nicht, sondern verfestigte die politische Fragmentierung aufseiten der Linken.

Demgegenüber konnte der Milliardär Sebastián Piñera auch deshalb die Wahl gewinnen, weil sich das rechte Lager bis weit in die Mitte hinter ihm vereint hat. Er hatte auch keine Skrupel, sich mit dem rechtsradikalen José Antonio Kast, der sich offen zum Erbe des Diktators Augusto Pinochet bekennt und im ersten Wahlgang acht Prozent der Wähler für sich gewinnen konnte, zu verbünden.

Die politischen Repräsentanten der Frente Amplio, die aus mehreren linken Parteien und Bürgerbewegungen besteht und ihren Ursprung in der chilenischen Studentenbewegung hat, leisteten sich im Unterschied zur Rechten bis zuletzt einen Streit darüber, ob sie den Kandidaten Alejandro Guiller des Mitte-links-Bündnisses Fuerza de la Mayoría unterstützen sollten. Sein Programm war größeren Teilen nicht »links« genug, sondern selbst noch dem neoliberalen Gesellschaftsmodell verhaftet. Beatriz Sánchez vom FA, die mit 20,3% Drittplatzierte im ersten Wahlgang, erklärte zwar, dass Piñera »ein Rückschritt und ein Risiko für Chile« sei, da er die Interessen der großen Konzerne und Unternehmenskonglomerate vertrete und beabsichtige, die wenigen Reformen der Bachelet-Regierung rückgängig zu machen. Doch mehr als zu einer persönlichen Wahlempfehlung für Guillier konnte sie sich – wie die meisten FA-SprecherInnen – nicht durchringen. Einen öffentlichen Aufruf für ihn unterließ sie mit dem Hinweis, sie könne ihre WählerInnen »nicht bevormunden«.

So verwunderte es nicht, dass in den sozialen Netzwerken die FA aufgrund ihrer zögerlichen Unterstützung für den Kandidaten der Fuerza de la Mayoría für den Sieg des Rechtskandidaten mit verantwortlich gemacht wird. Die KritikerInnen hätten fahrlässig die Warnung des ehemaligen Präsidenten von Uruguay und Mitbegründer der uruguayischen Frente Amplio, José »Pepe« Mujica, in den Wind geschlagen, dass »die Richtung und die Zukunft des Landes auf dem Spiel stehen« würde.

Einen wesentlichen Beitrag leisteten auch die Medien, die in Chile fast alle im Besitz reicher Unternehmerkonglomerate sind, indem sie in einem wahren Trommelfeuer ein Katastrophenszenario heraufbeschworen: »Wir stehen vor der Wahl zwischen linksextremem Hass, Arbeitslosigkeit und Kriminalität«. Es gelte zu verhindern, dass das Land in ein »sozialistisches Chaos« wie in Venezuela abgleite.

Nach seinem Wahlsieg versprach Sebastián Piñera, dass er ein »Präsident der Mitte«, ein »Mann des Dialogs« und der »Einheit aller Chilenen« sein wolle. Seine politischen Gegner glauben ihm kein Wort. Für die chilenische Wahlforscherin Marta Lagos steht Piñera, der sich gerne als gemäßigter Konservativer inszeniert, »ultrarechts«, der ähnlich wie Donald Trump in den USA als Geschäftsmann auftrete und verspreche, den Staat wie eines seiner erfolgreichen Unternehmen zu führen und das Land gemäß dem Motto »Chile First« von seinen Nachbarn abzuschotten.

Mit dem Sieg Piñera’s kommen die sozialen Reformen nach Ansicht von Marta Lagos vorerst zum Stillstand, während die Unternehmer mit Steuersenkungen rechnen können. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, hat der »Self-made-Milliardär«, wie er sich gern bezeichnet, für die Unternehmen umfangreiche Steuersenkungen angekündigt. Dabei führen die Reichen in Chile schon heute laut der UN-Wirtschaftskommission Cepal nur sieben Prozent ihrer Einnahmen an den Staat ab. Nach Angaben der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) stammen 41% des Steueraufkommens aus der regressiven Mehrwertsteuer, während Einkommenssteuern nur 9,8% ausmachen. Laut Gini-Index, der die Abweichung der Verteilung des Einkommens in einer Volkswirtschaft misst, zählt Chile zu den 20 ungleichsten Ländern der Welt.

Für sein Wahlversprechen, einige der von Bachelet angestoßenen Reformen wie die teilweise Legalisierung der Abtreibung, die Anhebung des Mindestlohns bzw. die rudimentären Änderungen beim Arbeitsrecht rückgängig zu machen, dürfte ihm jedoch der Spielraum in der Abgeordnetenkammer fehlen. Seine Koalition Chile Vamos hat zwar bei den Parlamentswahlen 72 der 155 Sitze errungen, doch über eine eigne parlamentarische Mehrheit verfügt der künftige Staatspräsident im Kongress nicht.

Das Mitte-links Regierungsbündnis Fuerza de la Mayoría stellt künftig 43 Abgeordnete, während die Frente Amplio auf Anhieb mit 20 Abgeordneten ins Parlament einziehen konnte. Von den übrigen 20 Mandaten entfallen 14 auf die Christdemokraten. Ein ausgeglichenes Bild bietet der zukünftige Senat: Chile Vamos stellt 29 Senatoren, Fuerza de la Mayoría 28, Christdemokraten 13 und die Frente Amplio einen. Der »Linksruck« bei den Parlamentswahlen ist vermutlich auch eine Folge der »Wahlrechtsreform« unter Bachelet, die das binomiale Mehrheitswahlrecht abschaffte, das die beiden großen Wahlblöcke bisher bevorzugte.

Denn seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 standen sich in Chile zwei politische Allianzen gegenüber: Auf der einen Seite die Mitte-links-Koalition Concertación aus der Christlich-Demokratischen Partei (PDC), der Sozialdemokratischen Partei (PPD), der Sozialistischen Partei (PS) und der Kommunistischen Partei (PCCh), aus der nach Ausscheiden der PDC die erweiterte Fuerza de la Mayoría hervorging, und auf der anderen die Rechtsallianz Chile Vamos aus den beiden nationalistischen Parteien »Nationale Erneuerungspartei« (RN) und »Unabhängige Demokratische Union« (UDI), von der sich der Rechtsradikale José Antonio Kast abspaltete.

Der Wahlerfolg des rechtskonservativen Piñera sollte Ansporn für eine rasche programmatische und personelle Erneuerung der Parteien des Mitte-links-Bündnisses sein. Alejandro Guillier rief nach der Wahl dazu auf, die Führungsebene zu erneuern und sprach sich für erweiterte Formen der politischen Aktion aus. Es komme darauf an, sich für die sozialen Bewegungen und die Bürgerschaft zu öffnen, »die Paläste zu verlassen und zu den Versammlungen in den Stadtteilen zu gehen«. Dies wäre ein Signal dafür, dass sich in Kernfragen der Zivilgesellschaft eine parlamentarische und außerparlamentarische Zusammenarbeit mit der Frente Amplio entwickeln könnte.


[1] Vgl. Bendikt Behrens: Chile – Wachablösung durch die Rechte, in: Sozialismus 1/2018.
[2] Vgl. Otto König/Richard: Tiefe Gräben – Präsidentschaftswahlen in Chile. »Frente Amplio« mischt den Wahlkampf auf, SozialismusAktuell.de, 8.11.2017; http://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/frente-amplio-mischt-den-wahlkampf-auf/.

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