12. September 2015 Hinrich Kuhls: Zur Neuwahl der Parteispitze der Labour Party

Ein sozialdemokratisches Großschiff leitet Wendemanöver ein

Jeremy Corbyn ist neuer Vorsitzender der britischen Labour-Partei. Bei einer Urwahl unter den knapp 600.000 Mitgliedern und Unterstützern der Labour-Party setzte sich der Parteilinke bereits in der ersten Runde mit der großen Mehrheit von 59,5% durch. Neuer Vizechef der Partei wird Tom Watson, der in der dritten Wahlrunde auf 50,7% kam. An der Wahl hatten sich 422.664 Menschen beteiligt, das sind 72,3% der Wahlberechtigten.

Im folgenden Beitrag, der bereits am 9.9. abgeschlossen wurde, wird das programmatische Profil des neuen Vorsitzenden vorgestellt und diskutiert. Bereits am 31.8. hatte Axel Troost die mit Corbyn verbundenen Hoffnungen auf einen linken Aufbruch in Großbritannien kommentiert.

Unmittelbar nach den Wahlen zum britischen Unterhaus Anfang Mai, bei denen die sozialdemokratische Labour Party trotz eines lange vermuteten Kopf-an-Kopf-Rennens mit der Konservativen Partei nicht die Mehrheit der Sitze erreichen konnte, war der Parteivorsitzende Ed Miliband, zugleich als Vorsitzender der Labour-Parlamentsgruppe auch Oppositionsführer und Spitzenkandidat, zurückgetreten. Damit war das Wahlverfahren für die Wahl der neuen Parteispitze (Vorsitz und Stellvertretung) eingeleitet, deren Ergebnis am 12. September bekannt gegeben wurde.


Labours desaströse Wahlniederlage

Bei der Wahl des britischen Parlaments hatten – wie schon fünf Jahre zuvor – knapp 37% der Wählerschaft die KandidatInnen der Konservativen Partei gewählt. Die Liberaldemokraten – eine Legislaturperiode lang Koalitionspartner der Tories – verloren fast die Hälfte ihres Stimmenanteils und erreichten nur noch 8% gegenüber zuvor 15%. Die rechtspopulistische UKIP, die schon ein Jahr zuvor mit einem antieuropäisch-nationalen Wahlkampf drittstärkste Partei geworden war, kam auf 12,6% – eine Vervierfachung gegenüber der letzten Unterhauswahl.

Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts führte diese Verschiebung im Block der liberalen, konservativen und rechtspopulistischen Parteien dazu, dass in den einzelnen Wahlkreisen mehr KandidatInnen der Tories das Rennen machten und somit eine deutliche absolute konservative Mehrheit im Parlament etablieren konnten. Premierminister Cameron verbuchte eine Bestätigung der neoliberalen Austeritätspolitik.[1]

Das Desaster der Labour Party hatte zwei Gründe. Zum einen hat sie fast alle Wahlkreise in Schottland an die Scottish National Party verloren, Folge ihrer Positionierung beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich im September letzten Jahres. [2]

Zum anderen konnte Labour trotz eines leichten Anstiegs des Gesamtstimmenanteils nur wenige Schlüsselwahlkreise gewinnen, in denen das Parlamentsmandat eng umkämpft war. Oppositionsarbeit und Wahlkampf der Labour Party unter Leitung von Ed Miliband und seinem Schattenkabinett hatten den zu Zeiten Tony Blairs und Gordon Browns gesteckten programmatischen Rahmen einer sozialdemokratisch geprägten Austeritätspolitik nicht verlassen. New Labour ist alt geworden, die Politik New Labours hatte gegenüber dem konservativ-neoliberalen Gesellschaftsmodell keine Strahlkraft zurückgewinnen und den von der national-rechtspopulistischen UKIP mobilisierten WählerInnen keine Alternative bieten können.

Während sich etwa 60% der WählerInnen für eine liberale, konservative und rechtspopulistische Partei entschieden, wählten insgesamt knapp zwei Fünftel die schottische Regionalpartei SNP (4,7%), die Grünen (3,8%) und die Labour Party (30,4%). Im Parlament sitzen auf der Regierungsseite 331 Abgeordnete, denen in den großen Oppositionsparteien 232 bei Labour und 56 bei der SNP gegenübersitzen.

Bewerbungen für den Parteivorsitz

Vor dem Hintergrund einer gefestigten parlamentarischen Mehrheit für die Fortführung einer neoliberalen Austeritätspolitik sowie des Wahldesasters Labours war von der Neuwahl der Labour-Parteispitze zunächst keine Überraschung erwartet worden. Als kommissarische Parteivorsitzende war wie schon vor fünf Jahren nach dem Rücktritt Gordon Browns die bisherige stellvertretende Parteivorsitzende Harriet Harman gewählt worden, die fest im Gefüge von New Labour verankert ist. Eine programmatische Erneuerung oder ein Politikwechsel innerhalb der Opposition stand nicht auf der Tagesordnung – bis schließlich doch noch die notwendigen 35 Unterschriften von Mitgliedern der Parlamentsfraktion für die Nominierung Jeremy Corbyns zusammengekommen waren.

Als aussichtsreiche Bewerber galten zunächst ParlamentarierInnen, die wie Yvette Cooper als Innenministerin oder Andy Burham als Gesundheitsminister, schon in früheren New-Labour-Regierungen in Amt und Würden waren und dann dem Schattenkabinett angehörten und angehören, oder ,wie Liz Kendall als Vertreterin des rechten Parteiflügels, eine klare wirtschaftsliberale Politik vertreten.

Auch die fünf BewerberInnen für den stellvertretenden Vorsitz sind bisher nicht durch kritische Stellungnahmen zur Politik New Labours während der letzten 25 Jahre bekannt geworden. Laut Meinungsumfragen ist Tom Watson favorisiert, im Kabinett Blair war er Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, im Kabinett Brown Staatssekretär im Cabinet Office (vergleichbar dem Bundeskanzleramt).

Insofern war es dann schon eine Überraschung, dass der seit mehr als 30 Jahren die Hinterbank drückende, häufig durch von der Fraktion abweichendes Stimmverhalten aufgefallene, und sich »Old Labour« zurechnende Abgeordnete des Londoner Wahlkreises North Islington einen gewissen Hype auslöste.

Zur breiten Unterstützungswelle für Corbyn haben drei Besonderheiten des Wahlverfahrens beigetragen. Zunächst konnte den von Mitgliedern der Parlamentsfraktion aufgestellten BewerberInnen durch entsprechende Beschlüsse der örtlichen Parteiorganisationen und der angeschlossenen Gewerkschaften formell die Unterstützung ausgesprochen werden, was fortlaufend auf der Wahl-Website aktualisiert worden ist.

Dann sind nicht nur Vollmitglieder der Partei wahlberechtigt, sondern auch Mitglieder aller der Labour Party affiliierten Gewerkschaften, sofern sie sich zusätzlich als Individualmitglied haben registrieren lassen. Darüber hinaus können sich gegen Zahlung eines Mindestbeitrags von drei Pfund Sympathisanten als »registrierte Unterstützer« in die Wählerlisten eintragen lassen. Hiervon haben etwa 120.000 SympathisantInnen Gebrauch gemacht, sodass zusammen mit den Vollmitgliedern und registrierten Gewerkschaftsmitgliedern 600.000 WählerInnen stimmberechtigt sind.

Schließlich wird die Wahl als »Rangfolgewahl« durchgeführt, in der die WählerInnen den Kandidaten eine Rangfolge ihrer Präferenz zuordnen. Sollte ein/e Kandidat/in nicht von der Mehrheit der WählerInnen die beste Rangzahl erhalten, wird zunächst der Kandidat mit der geringsten Stimmenzahl gestrichen, die ihm zugeordneten Zweitstimmen den jeweiligen anderen Kandidaten zugeordnet, bis ein Kandidat die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt – ein Wahlverfahren, das dazu einlädt, die politischen Vorstellungen der WahlbewerberInnen explizit inhaltlich zu vergleichen.

Mit der Entscheidung darüber, welcher Bewerber von der jeweiligen Partei- oder Gewerkschaftsorganisation unterstützt werden soll, ist eine inhaltliche Diskussion über die politischen Wert- und Zielvorstellungen der KandidatInnen verbunden. Das hat wie auch das Werben für die Einschreibung in die Listen als »registrierter Unterstützer« zu einer starken Mobilisierung der Parteibasis und von Sympathisanten geführt, die durch das mediale Interesse noch verstärkt worden ist.

Dass sich in dieser Mobilisierungsphase Jeremy Corbyn dann als Favorit entpuppt hat, legt den Schluss nahe, dass die Diskrepanz von Wertvorstellungen der politischen Eliten des gesamten Parteienspektrums und tatsächlicher sozialer und ökonomischer Situation der Labour-AnhängerInnen so groß geworden ist, dass die Unterstützung Corbyns als eines langjährig integeren Repräsentanten keynesianisch-sozialistischer Zielvorstellungen als Selbstschutz der Gesellschaft gegen eine weitere Zuspitzung der sozialen Spaltung verstanden wird. Im Unterschied zur Zeit der Schröder-Fischer-Regierung, gegen deren Übergang zur harten Austeritätspolitik sich der gesellschaftliche Widerstand zunächst in der WASG als einer neuen politischen Formation sammelte, wird im britischen, vom Mehrheitswahlrecht geprägten politischen System die Labour Party als eine Organisation betrachtet, in der gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen die Austeritätspolitk politisch wirksam werden kann.

Finanzpolitik der neuen Tory-Regierung

Den finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Kurs der Tory-Regierung für das kommende Finanzjahr und die Legislaturperiode bis 2020 umriss Schatzkanzler Osborne bei der Einbringung des Haushaltsplans Anfang Juli. Die Kürzungen im Sozialbudget sind drastisch. So sollen u.a. Lohnzuschüsse, Kindergeld, Mietzuschüsse und Wohngeld gekürzt werden. 18-21jährige Jugendliche verlieren nach sechs Monaten jegliche Unterstützung, wenn sie keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz annehmen. Angekündigt wurde hingegen ein Mindestlohn, der bis 2020 auf neun Pfd. pro Stunde steigen soll. Labour hatte im Wahlkampf einen Mindeststundenlohn von acht Pfd. im Wahlprogramm, der Gewerkschaftsdachverband TUC – die meisten seiner Gewerkschaften gehören der Labour Party als Kollektivmitglieder an – tritt für einen Mindestlohn in Höhe von 10 Pfd. ein.

Die steuerpolitischen Maßnahmen des Schatzkanzlers sehen eine Senkung der Erbschaftssteuer um 4% und eine Kürzung des Unternehmenssteuersatzes von 20 auf 18% vor. Die Bankensteuer auf die weltweite Bilanzsumme, die Großbanken zum Anlass für die Verlegung ihres Sitzes aus Britannien nehmen wollten, soll durch einen achtprozentigen Aufschlag auf die Gewinnsteuer bei Banken ersetzt werden.

Um die geplanten sozialpolitischen Einschnitte hat es innerhalb der Labour Party erhebliche Auseinandersetzungen gegeben, weil deren kommissarische Vorsitzende, Harriet Harman, empfohlen hatte, nicht gegen dieses Budget zu stimmen. Die aktuellen Mitglieder des Labour-Schattenkabinetts mussten sich an diese Empfehlungen halten und damit auch Corbyns MitbewerberInnen um den Labour-Vorsitz, Andy Burnham und Yvette Cooper. [3]

Corbyns Skizze eines Politikwechsels

Die haushaltspolitische Rede des Schatzkanzlers hat Jeremy Corbyn zwei Wochen später zum Anlass genommen, um seinen Antritt für die Wahl zum Vorsitzenden erneut zu begründen und um seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu umreißen. [4] Schaffung und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bilden die Klammer seiner Ausführungen zum Zusammenhang von Wirtschafts- und Verteilungskompetenz.

Entgegen der konservativen Mythologie vom dynamischen und risikofreudigen Unternehmer oder Finanzmilliardär, die durch ihre Investitionen den Reichtum im Königreich schaffen würden, werde der Reichtum in einem kollektiven Prozess von Werktätigen, öffentlichen Investitionen und Dienstleistungen geschaffen, an dem oft auch innovative und kreative Einzelpersonen beteiligt seien.

Die Einsicht in diesen Zusammenhang helfe zu verstehen, welche Richtungsentscheidung bei der Wahl zum Parteivorsitz zu treffen sei, aber zugleich auch mit welcher Weichenstellung Großbritannien konfrontiert sei, nämlich »entweder die Austerität zu akzeptieren oder sich von dieser Zwangsjacke zu befreien und für eine moderne, neu gewichtete Ökonomie zu streiten, deren Basis Wachstum und hochwertige Arbeitsplätze sind«. Labour müsse eine ausgewogene Wirtschaft schaffen, die eine gerechte Beteiligung der Werktätigen und der öffentlichen Hand am Wertschöpfungsprozess ermögliche. Die neu ausbalancierte Wirtschaft ist auf neue Investitionen zu fokussieren. Sie »fördert und unterstützt Innovationen in allen Wirtschaftszweigen; sie investiert in Bildung und Infrastruktur, um eine nachhaltigere und gerechtere Ökonomie zu schaffen«.

In diesem Rahmen einer grundsätzlichen Kritik der Austeritätspolitik britischer Regierungen, gleich ob von den Konservativen oder New Labour geführt, setzt sich Corbyn mit der mittelfristigen Finanzplanung des wieder gewählten Schatzkanzlers auseinander.

Im Mittelpunkt seiner Kritik steht die weitere Umverteilung des Vermögensreichtums. Mit der Senkung der Erbschaftssteuer und der Unternehmenssteuer – mit 20% schon jetzt die niedrigste Unternehmessteuer aller G7-Staaten und fünf Prozentpunkte niedriger als in China – verzichte der Staat in dieser Legislaturperiode bis 2020 auf fünf Mrd. Pfund und damit auf eine größere Summe zugunsten der Reichen, als im Sozialhaushalt mit Verweis auf die Haushaltskonsolidierung eingespart werden soll. »Defizitausgleich und Austerität ist nur ein neuer Umschlag für die alte konservative Politik: öffentliche Dienstleistungen runterfahren, den Wohlfahrtsstaat zerstören, öffentliche Vermögenswerte ausverkaufen und Steuern senken für die Reichsten.«

Und in Absetzung zu seinen Konkurrenten um den Parteivorsitz fügt Corbyn hinzu: Gerade weil »Labour nicht die Erzählung akzeptieren sollte, Austerität sei etwas anderes als nur eine neue Fassade für die alte Tory-Politik«, sei er als Kandidat für den Parteivorsitz ins Rennen gegangen.

Das Haushaltsdefizit werde jedenfalls nicht durch Sozialkürzungen beseitigt, erforderlich seien dazu vielmehr eine ausgewogene und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und ein höheres Steueraufkommen der Reichen.

Britanniens Wirtschaft im Jahre 2020

Die jetzige Legislaturperiode endet spätestens 2020. Die Konservativen gehen davon aus, dass bis dann der Staatshaushalt ausgeglichen sein wird. Corbyn bezweifelt diese Voraussage und geht davon aus, dass eine zukünftige Labour-Regierung dieses Ziel nur erreichen kann auf Basis eines nicht privat, sondern von öffentlichen Impulsen geleiteten Aus- und Umbaus der Wirtschaft. »Dieses Szenario müssen wir in den Mittelpunkt rücken als Alternative zum aktuellen Modell mit der Austerität für Arme, der Deregulierung, der Privatisierung und den nie endenden Steuererleichterungen, die das Dasein der Superreichen und der großen Unternehmen versüßen.«

Nur so könne es in der Gesellschaft zu einem Perspektivenwechsel kommen angesichts der aufgelaufenen erdrückenden Probleme. Denn nach wie vor ist der Aufschwung in den privaten Haushalten nicht angekommen, der Lebensstandard zu Beginn der Großen Krise 2008 ist noch nicht wieder erreicht. »Wir stecken in der längsten Periode sinkender Reallöhne seit dem 19. Jahrhundert; Investitionen und Produktivität verzeichnen einen desaströsen Minusrekord; das Zahlungsbilanzdefizit weitet sich aus; ein Heer von prekär Beschäftigten mit Niedriglöhnen, geringen Qualifikationen, unsicheren Arbeitsverhältnissen und von Scheinselbstständigen ist geschaffen worden.«

In allen Labour-Programmen hätten immer die Verbesserung des Lebensstandards und Gute Arbeit im Fokus gestanden. Um das aber auch umzusetzen, müsse Labour endlich die Strategie auf ein höheres und nachhaltiges Wirtschaftswachstum ausrichten und mit den erforderlichen politischen Maßnahmen inklusive einer Wende in der Steuerpolitik die gerechtere Teilhabe am Wachstum des gesellschaftlichen Reichtums sicher stellen.

Vorschläge für einen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel

Der Anteil der Industrie an der gesamten Bruttowertschöpfung liegt in Britannien unter 10%. Das Land rangiert damit am Ende der großen entwickelten kapitalistischen Länder. [5] Eine Neu-Ausbalancierung der Wirtschaft bedeute vor allem eine Verlagerung der Wertschöpfung weg vom Finanzsektor zu »nachhaltigen und zukunftsfähigen Wirtschaftsektoren mit hohen Wachstumsraten«.

Damit im privaten Sektor – Industrie und Dienstleistungen – überhaupt wieder im Rahmen einer Wertschöpfungskette die Nachfrage angekurbelt werden könne, sei eine andere Industriepolitik vorausgesetzt. Angesichts der veralteten Infrastruktur im Bereich Energie, Wohnungen, Verkehr und digitale Ausstattungen – selbst hier seien im Haushaltsplan der Regierung Cameron Kürzungen auszumachen – müsse der Impuls von der öffentlichen Hand ausgehen. Mit hohen Investitionen in eine erneuerte öffentliche Infrastruktur, mit der wieder der Anschluss an andere hochentwickelte Länder erreicht werden soll, solle die Ökonomie reorganisiert werden. »Ein strategisch agierender Staat kann die Infrastruktur nicht deregulierten und privatisierten Märkten überlassen.«

Zur Finanzierung schlägt Corbyn ein »Quantitative Easing für das Volk und nicht für Banken« vor. Die Zentralbank solle wie bei der Bankenrettung mittels einer »monetären Lockerung« die Geldbasis ausweiten, um Anleihen zu kaufen – gleich ob Privat- oder Staatsanleihen. Hier stützt sich Corbyn auf einen Vorschlag des Ökonomen und Stuerexperten Richard Murphy.[6]

Weitere Finanzierungsmittel könnten durch die Rücknahme von Steuererleichterungen und Subventionen für große Unternehmen generiert werden, und zwar in Höhe von zusätzlichen jährlichen Einnahmen von etwa 93 Mrd. Pfund.

Diese Mittel sollten in eine neue »National Investment Bank« eingebracht werden. Die Aufgabe dieser öffentlichen Entwicklungsbank sei es, »die Investitionen für die neu benötigte Infrastruktur sowie für die High-Tech- und Zukunftsbranchen zur Verfügung zu stellen«.

Vorschläge für die Rekonstruktion von Steuergerechtigkeit

»Steuer zu zahlen ist keine Last. Es ist der Beitrag, um in einer zivilisierten Gesellschaft leben.« Daher sei es nicht in erster Linie die Frage, wie hoch die Steuersätze sind, sondern es gehe vorrangig darum, dass Superreiche und die Großunternehmen überhaupt erst einmal einen fairen Beitrag leisten. »In der letzten Generation hat sich unser Steuersystem von der Besteuerung von Einkommen und Vermögen zu Verbrauchssteuern verschoben und von der Besteuerung von Kapitalgesellschaften zur Besteuerung von Einzelpersonen. Diese Veränderungen haben dazu beigetragen, unsere Gesellschaft ungleicher und unser Steuersystem regressiver zu machen. Deswegen versichere ich: Labour muss das Steuersystem progressiver machen und gewährleisten, dass die Vermögendsten am meisten zahlen, nicht nur nominell, sondern auch proportional.«

Bei den einzelnen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Steuergerechtigkeit stützt sich Corbyn wieder auf Analysen und Vorschläge von Richard Murphy.

Die Regierung verzichte jährlich auf etwa 120 Mrd. Pfund, und zwar auf zusätzliche Einnahmen in Höhe von 20 Mrd. Pfund aus nicht eingetriebenen Steuerschulden, 20 Mrd. Pfund aus »Steuervermeidung« und 80 Mrd. Pfund aus Steuerflucht.

Corbyn hebt folgende Maßnahmen für eine gerechtere Steuerpolitik hervor:

  • wirksame gesetzliche Maßnahmen zur Unterbindung von »Steuervermeidung« im UK-Steuerrecht;
  • Besteuerung der Leistungen multinationaler Konzerne in jeweiligem Land;
  • Reform der Besteuerung kleiner Unternehmen mit dem Ziel der Unterbindung von Steuervermeidung und der Bekämpfung der Steuerhinterziehung;
  • angemessene gesetzliche Regelungen für Unternehmen im Vereinigten Königreich, um sicherzustellen, dass sie ihre Bilanzen und Steuererklärungen abgeben und die geschuldeten Steuern auch zahlen;
  • schließlich und vor allem die Beendigung des Personalabbaus bei den Steuerbehörden und stattdessen deren Ausstattung mit mehr Personal, um sicherzustellen, dass sie die dringend benötigten Steuern auch eintreiben können.

Corbyns Resümee zur »Wirtschaft im Jahre 2020« lautet: Wir leben jetzt »in einer zutiefst unausgewogen Gesellschaft und in einer zutiefst unausgewogen Wirtschaft. Wir brauchen eine Strategie für eine hoch qualifizierte, produktive Wirtschaft, die für viele und nicht einige wenige funktioniert. Dem Staat kommt dabei eine wichtige strategische Koordinierungsrolle zu. Ohne diese Rolle bleibt es bei der Kasinowirtschaft und dem Chaos der Unterinvestition, den Schuldenblasen, der grotesken Ungleichheit von Arm und Reich und einer Ausweitung der regionalen Ungleichheit.«

Die Zielvorstellung einer neu ausbalancierten Ökonomie »bedeutet, dass wir unsere Wirtschaft nicht an der Zahl der Milliardäre, sondern am Fehlen von Armut messen; nicht daran, ob das BIP steigt, sondern daran, ob die Ungleichheit fällt. Labour muss die Partei der wirtschaftlichen Glaubwürdigkeit und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit werden. Eine gerechtere und entwicklungsfähigere Gesellschaft ist nur mit einer Labour-Regierung nach der Wahl im Jahr 2020 möglich.«

Politische Weichenstellungen in Britannien und Europa

Bei der Konkretisierung seiner gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Visionen wird Corbyn – unterstellt, dass er zum Vorsitzenden gewählt wird – als neuer Oppositionsführer mit einer Reihe wichtiger politischer Entwicklungen konfrontiert werden, die für konkretere Ausarbeitungen und eine breite Werbung für seine Position keine Zeit bis 2020 lassen.

Das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU – ein Wahlversprechen Camerons – soll spätestens 2017, voraussichtlich aber schon im nächsten Jahr stattfinden. Soll Labours Option für einen Verbleib in der EU die Mehrheit der WählerInnen gewinnen, kann sie sich nicht auf einen Pro-Europa-Wahlkampf der Tories verlassen. Labour wird ihre wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen mit einer erneuerten, ebenfalls glaubwürdigen europapolitischen Programmatik vervollständigen müssen.

Die Aufarbeitung des Zusammenbruchs der Sozialdemokratie in Schottland – eines ihrer bisherigen Stammlande – ist dringlich. Das Verhältnis zur zweitstärksten Oppositionspartei, der Scottish National Party, muss geklärt und auf eine neue Basis gestellt werden. Ohne eine Form der Kooperation mit der SNP wird selbst bei einer breiten Massenmobilisierung die fortschrittlichste Programmatik von keiner Labour-Regierung im Jahre 2020 umgesetzt werden können.

Sollten sich zudem die BritInnen im EU-Referendum für einen Austritt aus der Union entscheiden, wird nicht nur der Verbleib Schottlands im Königreich wieder virulent, sondern die Frage der Dezentralisierung und Regionalisierung Englands, Wales und Nordirlands. In einer Situation überkomplexer Entscheidungslagen für eine Antiausteritätspolitik aus der Opposition heraus zu werben und zu versuchen, dafür eine Massenbasis zu gewinnen, könnte sich nicht nur als Herkulesaufgabe, sondern auch als Sisyphusarbeit herausstellen.

Durchsetzung des Politikwechsels

Gleich wie die Wahlen zum Parteivorsitz ausgehen, Labour kommt in raueres Fahrwasser. Abrupte Wendemanöver von Großschiffen sind heute gefährlicher geworden. Tanker, beladen oder ausreichend mit Ballast versehen, brauchen viel Zeit für das Manöver, können aber aufgrund der Trägheit der Ladung kaum kentern. Moderne ULCS-Containerschiffe sind hingegen bei Sturm und Wetter bei Wendemanövern neuen Gefahren ausgesetzt: Es kann viel Ladung über Bord gehen.

Corbyn würde zunächst vor dem Problem stehen, seine Parlamentsfraktion, deren Mitglieder uneinig sind, ob sie ihn unterstützen werden, weitgehend hinter sich zu bringen. Ob das mit einem gut austarierten Schattenkabinett gelingen kann, bleibt abzuwarten. Ist aber der Käpten allein auf der Brücke, wird das Wendemanöver nur schwer gelingen. Hier würde es darauf ankommen, wie weit die Mobilisierung bei Mitgliedern, registrierten und nicht-registrierten SympathisantInnen und vor allem in der Gewerkschaftsbewegung trägt und dem Großschiff den notwendigen Schwung geben kann.

Es kann aber auch sein, dass ein Teil der Mannschaft von Bord geht. Das hatte Anfang der 1980er Jahre der damalige Parteivorsitzende Michael Foot mit ansehen müssen, als er als Nachfolger Callaghans nach dem ersten Wahlsieg Thatchers (1979) vorsichtig versuchte, Labours Kurs nach links zu verschieben. Etliche Parlamentarier verließen die Partei und schlossen sich zur Sozialdemokratischen Partei (SDP) zusammen. Die anhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Foot sowie der Linken um Tony Benn auf der einen Seite und Foots Stellvertreter Dennis Healey auf der anderen Seite führte dazu, dass Thatcher mit ihrem Erdrutschsieg 1983 die konservative Konterrevolution besiegeln und der britischen Gewerkschaftsbewegung mit der Antigewerkschaftsgesetzgebung die lang anhaltende Niederlage zufügen konnte.

Andererseits koordinierte im selben Jahr ein damaliger Hinterbankler, Stuart Holland, das erste europäische Projekt alternativer Wirtschaftspolitik. Auf Initiative der Sozialistischen Partei Frankreichs und von Ökonomen aus der Labour Party publizierte das »Forum for International Political and Social Economy (IPSE)« die Programmschrift »Out of Crisis. A Project for European Recovery«. Zentrale Forderungen präsentierte der damalige Präsident Mitterand auf einem G7-Gipfel nicht nur im Namen der sozialistisch-kommunistischen französischen Koalitionsregierung, sondern auch im Namen der damaligen sozialdemokratisch geführten Regierungen Spaniens, Schwedens, Finnlands, Österreichs und Griechenlands. Warum das Projekt jäh gescheitert war, müsste an anderer Stelle dargestellt werden.

Wenn Jeremy Corbin und seine wenigen Weggefährten jetzt den Auftrag bekommen, in einem langwierigen Prozess eine alternative Wirtschaftspolitik für Britannien zu konkretisieren und dafür eine breite Unterstützung zu organisieren, dann sollte das bei der politischen und gesellschaftlichen Linken hierzulande und in Europa nicht nur Mut machen und auf ein Umdenken in weiten Teilen der europäischen Sozialdemokratie hoffen lassen. Es sollte auch Anlass sein, diesseits des konservativ-rechtspopulistischen Lagers die gemeinsame programmatische Zusammenarbeit über die Parteigrenzen progressiver, auf eine Überwindung der Austeritätskonstellation verpflichteten Parteien hinweg auf europäischer Ebene zu verstärken und in die Gesellschaft hinein zu verbreitern.

 

Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und ist Mitglied der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) e.V.

[1] Ulrich Bochum: »This was a terrible night for Labour«. Großbritannien wählt die Austerität (Sozialismus Aktuell, 11.5.2015).
[2] Ulrich Bochum: Schottland wählte No. Das Ergebnis des Unabhängigkeits-Referendums (Sozialismus Aktuell, 22.9.2014) sowie: Schottische Unabhängigkeit – nervöse Unionisten (Sozialismus Aktuell, 04.9.2014).
[3] Ulrich Bochum: Freudloses Wachstum, soziale Einschnitte und Jeremy Corbyn. Hintergründe einer Linksverschiebung der Labour Party (Sozialismus Aktuell, 21.8.2015).
[4] Jeremy Corbyn: The Economy in 2020 Rede am 22. Juli 2015. Alle Zitate im Text entstammen dieser Rede. [pdf-Fassung]
[5] Zur Industrieentwicklung global und in der EU vgl. Joachim Bischoff, Björn Radke, Axel Troost: Industrie der Zukunft? Wertschöpfung zwischen De-Industrialisierung und vierter industrieller Revolution. Hamburg: VSA-Verlag (Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 2015, 6).
[6] vgl. hierzu Axel Troost: »Corbynomics« statt Austeritätspolitik. Debattenbeitrag vom 30.8.2015 auf neues-deutschland.de

Zurück