29. Mai 2023 Redaktion Sozialismus.de: Der Autokrat Erdoğan bleibt Präsident

Ein »türkischer Frühling« bleibt aus

Wie erwartet, hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die politische Klasse das Oppositionsbündnis mit seinem Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu auf Distanz gehalten. In der Stichwahl stimmten 52,1% der Wähler*innen für Erdoğan, 47,9% für Kılıçdaroğlu.

Die Wahlbeteiligung lag etwas niedriger als im ersten Wahlgang, als 87% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Für die liberalen Kräfte der türkischen Zivilgesellschaft ist das eine bedrückende Niederlage. Bereits in der ersten Wahlrunde hatte der bisherige und zukünftige Präsident vor dem Oppositionskandidaten gelegen, verpasste aber knapp die absolute Mehrheit.

In der zeitgleich mit dem ersten Wahlgang stattgefundenen Parlamentswahl war die AKP im Wahlbündnis »Volksallianz« zur Parlamentswahl angetreten, die insgesamt rund 49,47% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen konnte. Das oppositionelle Wahlbündnis »Bündnis der Nation« erzielte rund 45,02% der Stimmen. Im Vergleich zum Ergebnis der Parlamentswahl in der Türkei 2018 ist der Vorsprung der »Volksallianz« gegenüber dem »Bündnis der Nation« etwas gesunken. Dennoch reicht das Ergebnis für die »Volksallianz« aus, um die Mehrheit im Parlament zu verteidigen. Und jetzt hat diese Mehrheit sich auch in der Stichwahl um das Präsidentenamt durchgesetzt.

Im ersten Wahlgang zur Präsidentenwahl erhielt der Kandidat der vereinten Opposition Kılıçdaroğlu, der für ein Bündnis aus sechs Parteien unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung kandidierte, erhielt knapp 45% der Stimmen. Er ist unter anderem mit dem Versprechen angetreten, das Präsidialsystem wieder abzuschaffen, das Land zu demokratisieren und die massive Inflation von rund 44% zu senken.

Der parteilose Nationalist Sinan Oğan, der für das radikale Ata-Bündnis von vier Rechtsaußenparteien im ersten Wahlgang kandidierte und mit 5,17% der Stimmen die Erwartungen der meisten Beobachter*innen übertraf, hat zur Stichwahl seine Wähler*innen aufgefordert, für Erdoğan zu stimmen.

Zum zweiten Wahlgang hat der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu eine abrupte Kehrtwende vollzogen, und versuchte den deutlichen Rückstand durch verstärkte Angebote an die Wähler*innen des rechten Parteienspektrums aufzuholen. Bei einem Auftritt nach der ersten Abstimmung schlug der Chef der Republikanischen Volkspartei (CHP) ungewohnt populistische fremdenfeindliche Töne an. Bis dahin hatte er es vermieden, seinen Gegner beim Namen zu nennen, nun griff er Erdoğan nun frontal an. Vor allem aber ging er mit fremdenfeindlichen Slogans auf Stimmenfang bei den Nationalisten.

»Erdoğan, ich sage es in aller Klarheit, du hast die Grenzen und die Ehre deines Landes nicht geschützt«, rief Kılıçdaroğlu bei dem Auftritt. »Du hast bewusst 10 Millionen Flüchtlinge ins Land gebracht. Und damit nicht genug, hast du die Staatsbürgerschaft der türkischen Republik zum Verkauf gestellt, um importierte Stimmen zu gewinnen.«

Unter dem Autokraten würden »die Städte von Asylsuchenden, Mafiabanden und Drogenbaronen kontrolliert werden«. Die Lira werde weiter an Wert verlieren, der Preis für Brot werde steigen, die Flüchtlinge würden »zu Kriminalitätsmaschinen, und die Plünderungen werden beginnen«, sagte Kılıçdaroğlu. Die Mädchen würden sich nicht mehr auf die Straße trauen. Er dagegen werde alle Flüchtlinge nach Hause schicken, wenn er die Wahl gewinne, versprach der Oppositionsführer.

Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk sind heute 3,53 Mio. Syrer*innen im Land als Flüchtlinge registriert, hinzu kommen 344.000 Flüchtlinge anderer Nationalität. Expert*innen gehen davon aus, dass Hunderttausende weitere Afghan*innen, Iraker*innen und andere Migrant*innen in der Illegalität leben. Seit Februar 2022 wächst auch die Zahl der Ukrainer*innen und Russ*innen. 10 Mio. Flüchtlinge befinden sich aber sicher nicht in der Türkei.

Kılıçdaroğlu konnte mit der rechtspopulistischen Strategie gegen Flüchtlinge keinen Erfolg haben. Erstens ist es völlig unrealistisch, Millionen von ihnen außer Landes zu schaffen. Die meisten Syrer*innen werden nicht freiwillig zurückgehen, solange Asad an der Macht ist und die syrische Wirtschaft am Boden liegt. Zweitens wirkt nicht authentisch, wer sich solch rassistischer Erzählung bedient und sich zugleich vor dem Porträt von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk als türkischer Nationalist inszeniert.

Denn die fremdenfeindliche Rhetorik passt nicht zu der Programmatik der progressiven Opposition, die bisher auf eine integrative, versöhnliche Botschaft setzte. Viele Nationalisten dürften Kılıçdaroğlu auch weiter misstrauen, weil er der religiösen Minderheit der Aleviten angehört und aus der Region Dersim stammt, deren kurdische Bevölkerung erst 1937 gewaltsam vom türkischen Staat unterworfen wurde.

Vor allem aber riskierte Kılıçdaroğlu mit seinem aggressiven Werben um die Nationalisten, die liberalen und kurdischen Wähler*innen zu verlieren, auf deren Unterstützung er angewiesen war. Viele Kurd*innen wählten ohnehin nur widerwillig die CHP, da sie in ihren Augen ebenfalls für schlimme Repression des türkischen Staates steht.

Eine klare Mehrheit der türkischen Wahlbevölkerung hat sich für die Fortführung des nationalistisch-völkischen Regierungsprogramms unter Führung der AKP und seines autoritären Frontmannes ausgesprochen. Die autokratisch-repressive Regierungspraxis, die immer deutlicher zutage tretende Korruption in Verbindung mit der offenkundige repressiven Klientelwirtschaft, die Verschärfung sozialer Ungleichheit und vor allem die massive Inflation und der Wertverfall der türkischen Währung konnten dem verselbständigten Regime der AKP nichts anhaben. Selbst das eklatante Versagen der Politik im Zusammenhang mit dem Erdbeben, der schlagartig sichtbar gewordene staatlich tolerierte Pfusch am Bau und die späte staatliche Hilfe danach hat nicht gereicht, Erdoğan aus dem Amt zu entfernen.

Die Opposition hat sich – bis auf die Strategiewende vor dem 2. Wahlgang – bravourös geschlagen. Sechs Parteien aus fast dem gesamten politischen Spektrum hatten sich auf einen Kandidaten geeinigt, ein gemeinsames Wahlprogramm erarbeitet, um die Autokratie zu beenden und zu einem parlamentarischen System zurückzukehren. Zudem war der Wahlkampf extrem unfair. Wenn 90% der großen – vor allem elektronischen – Medien von Erdoğan und seiner Partei kontrolliert werden, ist es schwer, für einen politischen Wechsel zu argumentieren.

Auch wenn im Lager der Opposition zu Recht über Unregelmäßigkeiten vor allem im ersten Wahlgang geklagt wurde, und die gesamte Wahl – wie auch die Beobachter*innen des Europarates moniert haben – insgesamt nicht fair war, bleibt doch unter dem Strich, dass Erdoğan auch nach 22 Jahren an der Macht immer noch einen großen Teil der Bevölkerung hinter sich hat.

Wichtiger als die Instrumentalisierung der öffentlichen Medien für den Ausbau des autoritären Regimes ist die Ausrichtung des Justizapparates. Erdoğan und der AKP ist es gelungen, die Justiz und den Sicherheitsapparat weitgehend auf sich zuzuschneiden. Im Parlament, aber auch in den Kommunen werden erfolgreiche Oppositionelle drangsaliert, indem man ihre Immunität aufhebt, sie mit Verfahren überzieht und am Ende häufig ins Gefängnis steckt.

Während der zwanzigjährigen Herrschaft der AKP entwickelte sich die Türkei von einer defekten Demokratie zu einer Autokratie. Die herrschende Elite setzte zunehmend auf einen nationalistischen, konservativen und mehrheitsfähigen Diskurs. Die nationalistischen Tendenzen wurden nach den Wahlen im Juni 2018, bei denen die AKP ein Wahlbündnis mit der ultranationalistischen MHP einging, noch ausgeprägter. Das an der Mehrheit ausgerichtete Regierungsverständnis der herrschenden Elite verschärfte ethnische, religiöse und politische Konflikte und führte zu politischer und sozialer Polarisierung.

Seit dem gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 sind die im Rahmen des Ausnahmezustands erlassenen repressiven Maßnahmen zu einem festen Bestandteil türkischer Innenpolitik geworden, und haben in kürzester Zeit ein autoritäres Land geformt.

Spätestens seit 2013, als ausgehend von den Protesten im Istanbuler Gezi-Park landesweit vor allem junge Menschen gegen Erdoğans zunehmend autoritärer werdende Identitätspolitik demonstrierten, wird jeder außerparlamentarische Protest in Zivilgesellschaft und Politik durch Polizei und Justiz blockiert. Politiker*innen innerhalb der regierenden AKP, die eher auf eine Verständigung mit dem anderen Teil der Gesellschaft drängten, sind längst aussortiert worden. Stattdessen hat sich die AKP unter Erdoğans Alleinherrschaft immer weiter radikalisiert. Und auch nach dem jetzigen Sieg der rechtsnationalistischen »Volksallianz« wird die Autokratie weiter ausgebaut werden.

Die türkische Gesellschaft ist stark polarisiert, so dass die AKP auch weiterhin versuchen wird, ihre Zukunftskonzeption auch mit repressiven Methoden durchzusetzen. Erdoğans Vision einer »neuen Türkei« beschränkt sich nicht auf das Herrschaftssystem und die Stellung der Religion. Er strebt eine Türkei an, die an vergangene Größe anknüpft und wieder als eigenständiger Machtpol in der Region über die Landesgrenzen hinaus auftritt.

Obwohl die Türkei in den vergangenen Jahrzehnten eine bemerkenswerte Modernisierung in Richtung eines entwickelten Landes durchgemacht hat, gilt derzeit, was für die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer zutrifft: Das Potenzial ist groß, doch das Fehlen demokratischer Strukturen und ausreichender Effizienz von Institutionen und Politik verhindert, dass es auch mobilisiert werden kann.

Aktuell hat die Türkei vor allem mit den Folgen des verheerenden Erdbebens zu kämpfen. Nach Schätzungen der Europäischen Investitionsbank werden für den Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und der Infrastruktur mindestens hundert Mrd. Euro benötigt – Kapital, das Ankara ohne fremde Hilfe kaum aufbringen kann. Das Land hat mehr als 50.000 Tote verloren und muss laut Angaben der türkischen Regierung bislang 3,3 Mio. Menschen eine neue Perspektive geben, die das Erdbebengebiet verlassen.

Schon vor dem Beben befand sich die Türkei in einer wirtschaftlichen Krisenkonstellation. Der wesentliche Grund dafür ist die massive Inflation, die das Leben immer weiter verteuert und die Vermögensbestände angreift. Nach einem Höchststand der Inflationsrate bei nahezu 80% im vergangenen November, lag sie laut Angaben der staatlichen Statistikbehörde TÜIK im April immer noch bei 43,7%.

Insofern steht das Machtsystem Erdoğans auf tönernen Säulen, seine Ära geht trotz der Wahlerfolge ihrem Ende zu. Er hat fast alle Großstädte verloren, und der ganz überwiegende Teil der jüngeren Wähler*innen lehnt sein autoritäres System ab. Hinzu kommt, dass es für Erdoğan aus den Reihen der AKP keine überzeugende Nachfolgeregelung gibt. Das gesamte von ihm errichtete System hängt an seiner Person. Ohne den Autokraten wird es zwar auch künftig noch eine Art Erdoğanismus geben – doch machtpolitisch wäre seine Partei ohne Nachfolgeregelung bald am Ende.

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