15. Juli 2020 Björn Radke: Zum Entwurf des Grundsatzprogramms der GRÜNEN

Eine bündnispolitische »Einladung« in einer verwundeten Welt

Annalena Baerbock

Ende Juni stellte die Grüne Parteispitze den Entwurf für ein neues Grundsatzprogramm der Öffentlichkeit vor, das im Herbst 2020 bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Karlsruhe beschlossen werden soll.

Es soll das aktuelle Grundsatzprogramm von 2002 ablösen und für eine neue Phase der Grünen stehen – aber auch für den Beginn einer neuen Politik: »Ein Programm für die Breite der Gesellschaft« soll es sein, so Parteichefin Annalena Baerbock, »das unseren Führungsanspruch für und mit dieser Gesellschaft untermauert«.

Die Grünen-Führung versteht den Entwurf als Beginn einer neuen Phase: »für die Politik einer neuen Epoche, in der unser Wirtschaften ins Gleichgewicht mit der Natur kommt. Eine Epoche der Kooperation, der Bündnisse und der Zusammenarbeit, der internationalen Solidarität«. Robert Habeck will »die Strukturen, die durch die Ökonomisierung und die Liberalisierung so anfällig geworden sind, im ökologischen wie im sozialen Bereich so härten, dass wieder Vertrauen in politische Handlungsfähigkeit entsteht«. Für den Geschäftsführer Michael Kellner ist der »Entwurf die Antwort auf das überholte Konzept der Volksparteien. Es definiert uns als moderne Bündnispartei mit dem Anspruch auf Mehrheitsfähigkeit für die gesamte Gesellschaft.«

Das Grundsatzprogramm sei damit als Einladung für neue Bündnisse zu verstehen, »die wir für die vor uns stehenden Veränderungen brauchen«. Insgesamt werden mit einem neuen Grundsatzprogramm große Projekte angestrebt: die Überwindung der Konzeptionen der obsolet gewordenen Volksparteien und somit eine neue Antwort auf die politischen Probleme der Gegenwart.

Die Grünen-Führung skizziert zunächst eine Vorstellung einer den heutigen Verhältnissen angemessenen Politik. Aus ihrer Sicht trifft die Corona-Pandemie auf eine »ohnehin verwundete Welt«. »Die vergangenen Jahrzehnte waren für viele Menschen geprägt von Fortschritt, wachsender Gesundheit, weniger Hunger und besserem Bildungszugang, von Emanzipation und der Ausweitung von Gleichheitsrechten. (...) Die Welt ist zusammengewachsen, neue Möglichkeiten für Verbindungen und weltweite Impulse sind entstanden. Aber die Welt hat sich rasanter entwickelt als die Ordnung, die sie zusammenhält. Denn dieser Fortschritt geht einher mit einer zerstörerischen Seite. Die Erde erhitzt sich, das Rad der Globalisierung läuft heiß, das allgemeine Wohlstandsversprechen fußt auf der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen und erweist sich so als nicht haltbar. Von diesem Fortschritt haben nicht alle profitiert, soziale Netze wurden abgebaut und zu viele Menschen abgehängt.«

Die Erzählung der Grünen beginnt mit dem Gemeinplatz »Krise als Chance«. »Wir sind daher entschlossen, das Jahr 2020 nicht nur als Krisenjahr zu sehen, sondern als Kraftzentrum für neue Perspektiven.« Sehr optimistisch malen sie eine kommende Epoche: »Sie kann eine Epoche werden, in der unser Wirtschaften ins Gleichgewicht mit der natürlichen Umwelt kommt. Eine Epoche der Kooperation, der Bündnisse und der Zusammenarbeit, der internationalen Solidarität.

Eine vernetzte Welt kann man demokratisch nur kooperativ ordnen und Gesellschaften gemeinsam widerstandsfähiger machen. Das gilt vor allem für Europa und beinhaltet die Erkenntnis, dass deutsche und europäische Interessen eins sind. Es kann eine Epoche des Gemeinwohls und des Gemeinsinns werden, der Gerechtigkeit und der gleichen Möglichkeiten an individueller Entwicklung. Es kann eine Epoche werden, in der die rasante technologische Entwicklung dem guten Leben und demokratischen Zusammenleben dient. 2020 kann der Wendepunkt sein: Von hier an anders.« Das klingt doch schon etwas nach Dr. Martin Luther King mit seiner berühmten Rede »I had a dream« in den 1960er Jahren der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Die dahinterstehende strategische Ausrichtung ist eindeutig: »Wir beschreiben unseren Kurs für eine gesellschaftliche Bündnisfähigkeit, getragen von dem Wunsch und im Bestreben, gesellschaftliche Mehrheiten herzustellen und in politische Handlungsfähigkeit zu übersetzen.«

Konsequent bleiben so auch die formulierten Vorstellungen eher unbestimmt und lassen Handlungsspielräume für die im nächsten Jahr anstehenden Bundestagswahlen. Die Trends zeigen deutlich: Eine schwarz-grüne Koalition hätte bei den Wähler*innen die größte Zustimmung. Wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, käme nach einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap die Union auf 37% – ein Punkt weniger als im Vormonat. Die Grünen verbessern sich um einen Punkt und erreichen 20%. Die SPD steigert sich um einen Punkt und kommt auf 16%. Auch die AfD verbessert sich um einen Punkt auf 10%. FDP und Linke büßen jeweils einen Punkt ein und landen bei 5 bzw. 7%. Ein Bündnis – Grün-Rot-Rot – ist also derzeit keine realistische Option. Wenn auch die Corona-Pandemie jede langfristige Prognose verbietet, ist doch zu erwarten, dass die kommende Regierung, die im nächsten Jahr übernehmen wird, ob im Zweier- oder Dreierbündnis, ohne die Grünen nicht zu machen sein wird.

Das neue grüne Grundsatzprogramm soll ein »Programm für die Breite der Gesellschaft« sein, sagt Baerbock, – »und zwar in allen Bereichen«. Es geht den Grünen nicht primär um innere Sicherheit und einen wehrhaften Staat, sondern um den Schutz der Gemeinschaft vor dem Auseinanderdriften. Neue Antworten wollen die Grünen auch zu den Fragen von Sicherheit und Verteidigung geben. Hier ist aber heftiger Streit innerhalb der Partei und mit möglichen linken Bündnispartnern zu erwarten. Im Entwurf findet sich ein klares Bekenntnis zur NATO, allerdings fordern die Grünen zugleich eine »strategische Neuausrichtung«. Der Einsatz von militärischer Gewalt sei immer »nur äußerstes Mittel«. Bei Eingriffen in die Souveränität eines Staates fordern die sie ein Mandat der Vereinten Nationen. Sie benennen das Problem, dass das Vetorecht im Sicherheitsrat missbraucht werden kann, um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu decken, ohne eine klare Antwort zu geben. Die Weltgemeinschaft stehe dann vor einem Dilemma, »weil Nichthandeln genauso Menschenrechte und Völkerrecht schädigt wie Handeln«. Für Baerbock ist klar: Man muss solche Ambivalenzen und Widersprüche diskutieren und aushalten.

Die Partei will für eine »Gemeinsamkeit in der Gesellschaft« (Habeck) arbeiten, gegen Armut und Diskriminierung vorgehen, Gesundheit und Pflege als »zentrale Pfeiler der Daseinsvorsorge« stärken, sich gegen eine »Kommerzialisierung« des Gesundheitssystems stemmen. Ökologie und Klimaschutz stehen weiterhin im Zentrum ihrer Programmatik. Auch dabei geben ihnen Umfragen recht: Im jüngsten Deutschlandtrend gibt die Hälfte der Befragten an, Deutschland solle den Klimaschutz als Toppriorität für die EU-Ratspräsidentschaft setzen, noch vor der Corona-Bewältigung.

Zeitgleich zur Vorstellung des Grundsatzprogramms haben die Vorsitzenden Baerbock und Habeck der langjährigen Hegemonialpartei CDU in einem viel beachteten Gastbeitrag der FAZ zum 75. Geburtstag gratuliert. In lockerem Stil wurde eine Grußbotschaft formuliert, die man schon als Avance an die CDU verstehen kann. Allerdings bleibt die Reaktion des Geburtstagskindes offen: Wird diese »Einladung« angenommen? Die FAZ warnt: »Auch wenn die Grünen provozierende Festlegungen auf höhere Steuer- und Abgabensätze neuerdings meiden: Sie arbeiten am Ausbau des Staates zu Lasten privater unternehmerischer Spielräume.« Das sei die falsche Richtung für ein Land, das nach der Pandemie um seinen Wohlstand ringen müsse. Diese Warnung hat den Hintergrund: Die Grünen lassen die Verteilungsfrage im Ungefähren.

Auch der BDI, der mächtige Interessenverband der Industrie, mäkelt an der Einladung herum. Zwar sei es gut, dass sich die Grünen grundsätzlich zum Industriestandort Deutschland bekennen würden. Aber: »Unbeantwortet bleibt die Frage, wie die wirtschaftliche Stärke Deutschlands und Europas angesichts zahlreicher Herausforderungen wie der coronabedingten Rezession, der steigenden Renationalisierung, von Protektionismus, Digitalisierung und Klimaschutz künftig gewährleistet werden soll.« Es würden lauter Stichworte genannt, jedoch keine konkreten Wege der Umsetzung, geschweige denn der Finanzierung. Viele der grünen Positionen hält der Verband der Industrieunternehmen schlicht für realitätsfremd.

Bleibt es bei dieser Positionierung, kann es schon wieder vorbei sein mit dem »Traum« der Grünen in einen ökologisch und sozialpolitisch erneuerten Kapitalismus. Das wäre sicher keine positive Entwicklung. Ohne eine Öffnung seitens der zentralen Machtfaktoren der zurückliegenden Epoche wird sich kein Übergang in ein neues Zeitalter realisieren lassen. Allein die Betonung der bündnispolitischen Offenheit ist noch keine konkrete Utopie: Die Grünen müssen die großen Umbauprojekte untersetzen. Solange keine Konkretion existiert, werden die möglichen Bündnispartner weiterhin zögerlich bleiben.

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