25. Juli 2024 Bernhard Sander: Das Ringen um regierungsfähige Mehrheiten in Frankreich
Eine Rüge des Rechnungshofs und eine linke Kandidatin
Knapp drei Wochen nach der Parlamentswahl geht es in Frankreich auch um Personen, Posten und das Einüben von Regeln der Koalitionsbildung. Vor allem aber um die Staatsfinanzen, die Zukunft der macronitischen Reformprojekte und damit letztlich um Klassenfragen.
Die Besetzung des Ausschussvorsitzes für Finanzen und Budget bekommt dabei genauso Bedeutung zu wie die Vorschläge, die durch die Presseräume für das Amt des Ministerpräsidenten fliegen. Unmittelbar nach dem zweiten Wahlgang hat der Rechnungshof Zahlen veröffentlicht, die für den Staatspräsidenten wenig schmeichelhaft sind, aber immensen Druck auf die Verhandlungen ausüben werden.
In nur sieben Jahren hat der als Jupiter gestartete und als Ikarus gelandete Präsident Emmanuel Macron fast ein Drittel der aktuell 3,1 Bio. Euro großen Staatsschuld aufgehäuft, ohne dass sich der Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung, die Produktivität der gewerblichen Wirtschaft oder die Dekarbonisierung nennenswert positiv entwickelt hätten.
Der Rechnungshof notiert in seinem Jahresbericht (alle folgenden Zitate werden in überarbeiteter und gekürzter deepl-Übersetzung wiedergegeben): »Obwohl sich die Wirtschaftslage normalisiert hat und die Inflation zurückgegangen ist, befindet sich Frankreich heute in einer besorgniserregenden Situation. Die Staatsverschuldung, die durch die wiederholten Defizite und ihr Gewicht mitgerissen wird, weist immer höhere Kosten auf, die alle anderen Ausgaben einschränken, die Investitionsfähigkeit des Landes beeinträchtigen und es im Falle eines neuen makroökonomischen Schocks gefährlich exponieren.
Diese Situation ist umso besorgniserregender, als der Pfad zur Senkung des Staatsdefizits die unerlässlichen Investitionen, die zur Bewältigung des Klimawandels getätigt werden müssen, nicht einschließt. Frankreich muss nun schwierige Anstrengungen unternehmen, um die Kontrolle über seine öffentlichen Finanzen wiederzuerlangen und seine Verpflichtungen sowohl gegenüber den Mitgliedsländern der Eurozone als auch gegenüber künftigen Generationen im Rahmen einer glaubwürdigen Strategie, die Wachstum und sozialen Zusammenhalt bewahrt, zu erfüllen.«
Die Situation Frankreichs stehe »in starkem Kontrast zu der seiner wichtigsten europäischen Partner, denen es gelungen ist, ihr Defizit bis 2023 zu stabilisieren oder sogar deutlich zu senken. Die Verschärfung des französischen Defizits ist auf ein geringes Wachstum der Steuern, das nicht vollständig antizipiert wurde, und auf weitere Steuersenkungen zurückzuführen. […] Infolgedessen erreicht die Staatsverschuldung 3.100 Mrd. Euro und übersteigt das Vorkrisenniveau um mehr als 700 Mrd. Euro auf 110 BIP-Punkte.«
Das erste Risiko bestehe darin, »dass das Ziel der Ausgabenkontrolle nicht erreicht wird, das auf zusätzlichen Einsparungen in Höhe von 15 Mrd. Euro beruht, die seit Februar 2024 angekündigt wurden, um das schlechte Jahr 2023 auszugleichen. Dieses Ausgabenrisiko wird durch ein Einnahmenrisiko ergänzt, da die geplante Rentensteuer, die ab 2024 drei Mrd. Euro einbringen soll, noch auf ihre gesetzliche Umsetzung wartet. Der Rechnungshof hält es für zwingend erforderlich, die Ziele für 2024 rasch glaubwürdig zu machen, indem die Unklarheit über die damit verbundenen Einsparungen und Abgabenerhöhungen beseitigt wird.«
Am Vorabend der Parlamentswahlen hatte Frankreich noch das Ziel ausgegeben, das Defizit bis 2027 auf knapp unter 3% zu senken, wobei die Staatsverschuldung über dem Niveau von 2023 liegen und gerade erst zurückgehen sollte. »Dieser Pfad, der hinter dem der anderen großen europäischen Staaten zurückbleibt, ist unrealistisch.«
Dem Klimaschutznotstand widmet der Rechnungshof ein eigenes Kapitel. »Die zur Erfüllung unserer Klimaverpflichtungen erforderlichen Investitionen werden auf über 60 Mrd. Euro pro Jahr im Jahr 2030 geschätzt, während die Einnahmen aus der Kraftstoffbesteuerung rasch erodieren dürften und das Wachstum aufgrund der Kosten des Übergangs und der Erwärmung jedes Jahr strukturell zurückgehen könnte. Keiner dieser drei Faktoren ist derzeit in der Strategie für die öffentlichen Finanzen berücksichtigt, obwohl sie die Schuldenquote im Jahr 2030 um 7 BIP-Punkte erhöhen könnten.
Es erscheint daher dringend geboten, die Energiewende besser mit der Planung der öffentlichen Finanzen zu verknüpfen. Die Schwierigkeiten bei der sozialen Akzeptanz haben jedoch die großen politischen Entscheidungen über die Verteilung der Anstrengungen gelähmt, mit dem Risiko, dass künftige Generationen sowohl die Klimaschulden als auch die finanziellen Schulden, die zur Bewältigung dieser Schulden eingegangen wurden, erben werden.«
In höflichem und bürokratischem Ton untergräbt der Rechnungshof die Glaubwürdigkeit des Staatspräsidenten, der nicht müde wird, vor dem Zusammenbruch der Staatsfinanzen im Falle einer Links-Regierung zu warnen. Andererseits machen die Ausführungen deutlich, vor welchen Aufgaben eine Linksregierung, die ihr Programm ernst nimmt, stehen würde.
Das Macron-Lager hält keine der Schlüsselpositionen zum Haushalt mehr. Zwar konnten die Unterstützer des Staatschefs sechs von acht Ausschussvorsitzen behalten, doch dafür verloren sie den strategischen Posten des Generalberichterstatters für den Haushalt, während der prestigeträchtige Finanzausschuss weiterhin von La France insoumise (LFI) gehalten wird.
Die Absprache über Schlüsselpositionen zwischen der ehemaligen Mehrheit und der Republikanischen Rechten (LR, die Fraktion von Les Républicains) hat sich ziemlich ausgezahlt, denn dadurch konnten sich die Macronisten an der Spitze von sechs der acht ständigen Ausschüsse halten, einer weniger als in der letzten Legislaturperiode. Dagegen scheiterte die LR-Fraktion daran, den Vorsitz des strategischen Finanzausschusses zu erhalten, der für sie vorgesehen war.
Den erhielt der bisherige Vorsitzende, Eric Coquerel (LFI), dem schließlich im dritten Wahlgang, in dem die relative Mehrheit gilt, 29 Stimmen reichten: die 25 Stimmen der Neuen Volksfront (NFP), drei der Fraktion Libertés, indépendants, outre-mer et territoires (LIOT), und es gab offensichtlich einen Überläufer aus der Gruppe der Macronisten. Er hat angekündigt, dass er dem parlamentarischen Usus folgen und im Falle eines Regierungsauftrages an die NFP von diesem Amt zurücktreten werde. Auf der Gegenseite erhielt die LR-Kandidatin nur 26 Stimmen. Jean-Philippe Tanguy (Rassemblement National, RN) erhielt die 18 Stimmen seiner Fraktion und der verbündeten Ciottisten.
Die größte Überraschung war die Niederlage des bisherigen Generalberichterstatters für den Haushalt, Jean-René Cazeneuve (Renaissance). Er unterlag Charles de Courson, einem gemäßigten Rechten, der als Verfechter einer rigiden Haushaltsdisziplin bekannt ist, und sich durch seine frontale Opposition gegen die Rentenreform im Frühjahr 2023 hervorgetan hatte.
Die Linkspopulisten von LFI haben in dieser Gemengelage schon mal ohne Absprache mit ihren Partnern in der Volksfront einen Gesetzentwurf eingebracht, die Rentenreformwieder abzuschaffen, um die monatelang in den Medien, im Parlament und auf den Straßen gekämpft wurde, und die der Staatspräsident dann mit dem Notstandsartikel der Verfassung durchgesetzt hatte. Mit dieser Initiative haben sie die Zwickmühle offengelegt, in der sich die Linke, aber auch das Macronlager befinden: Julien Odoul (RN) schrieb auf X: »Die Linke schlägt vor, aber der RN entscheidet; diese Aufhebung kann nicht ohne die RN-Abgeordneten verabschiedet werden.«
In der Volksfront wurde intensiv um einen Vorschlag für das Amt des Ministerpräsidenten gerungen. Der erste von Kommunisten, LFI und Grünen getragene Vorschlag sah die Regionalpräsidentin der Übersee-Departements von La Reunion, Huguette Bello, vor. Dieser ehemaligen Kommunistin widersetzten sich die Sozialdemokraten. Dem zweiten Vorschlag von PS, PCF und Grünen, Francois Hollandes Chefunterhändlerin des Pariser Klimaabkommens, Laurence Tubiana, zu benennen verweigerten sich die Unbeugsamen von LFI.
Als NFP zwei Wochen nach der Wahl immer noch nicht in der Lage war, sich auf eine Kandidatur zu einigen, hatte den aus LFI ausgeschlossene, direkt gewählte Abgeordnete François Ruffin die Wut gepackt: »Die Parteien beginnen wieder mit dem, was sie früher taten, mit zynischen Berechnungen und kleinen Partikularinteressen.« Auch der CGT-Bundessekretär Denis Gravouil berichtete gegenüber Le Monde von »einer echten Verärgerung darüber, dass die NFP nicht in der Lage ist, sich auf einen Premierminister zu einigen«, während sie Emmanuel Macron »die Kirschen wieder ernten« lässt.
Noch drastischer drückte es Azzedine Aissiou, Generaldelegierter der CGT des Krankenhauses Pitié-Salpêtrière auf einer Demonstration aus, bei der die anwesenden LFI-Abgeordneten zur Rede gestellt wurden: »Wenn ihr nicht regieren wollt, gehen wir zu einem nach dem anderen von euch, damit ihr zurücktretet […] Wir brauchen Genossinnen und Genossen, Leute, die gewählt wurden, um ihr Programm umzusetzen. Sie sollen mit ihrer Diskussion und Spaltung aufhören und regieren.«
Macron hatte das Rücktrittsgesuch seines Premierministers Gabriel Attal abgelehnt und damit das Weiterregieren ermöglicht. Er kündigte jetzt an, dass er vor Ende der Olympiade in Paris keine neue Regierung vorschlagen werde. Attal hatte unmittelbar nach der Wahl das in Krafttreten der geplanten Reform der Arbeitslosenversicherung mit massiven Einschränkungen für die Beschäftigten bis Anfang September ausgesetzt. Nie zuvor in der 66-jährigen Geschichte der Arbeitslosenversicherung habe eine Reform arbeitslose Arbeitnehmer*innen so sehr verunsichert, und nie zuvor habe eine Regierung so oft mit dem Stock gedroht, wertet die Monatszeitschrift »Alternatives economiques«.
Auch der amtierende Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire blieb nicht untätig. »Meine Verantwortung ist es, die Kontinuität des Staates zu gewährleisten und die öffentlichen Finanzen zu sichern.« (FAZ 12.7.24) Er hatte bereits vor der EU-Wahl den verabschiedeten Haushalt für das laufende Jahr um 10 Mrd. EU gekürzt und hat nun mit Verweis auf den »Blauen Brief« aus Brüssel weitere fünf Mrd. Euro gestrichen. Zugleich polemisiert der Minister gegen die Linken und nennen das Programm der NFP totalen Wahnwitz, unrealistisch, räuberisch, was auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch hinauslaufe.
Für das kommende Jahr plant er 25 Mrd. Euro Haushaltseinsparungen durch Lockerung der Strompreisbremse, die Erhöhung der Selbstbeteiligungen im Gesundheitsbereich, Besteuerung von Übergewinnen in der Energiebranche sowie weitere Kürzungsvorgaben an Ministerien und die Gebietskörperschaften, die aber allesamt noch kein Gesetz sind.
Es wird also höchste Zeit für eine Regierung der Mehrheit. Die Neue Volksfront hat zwar die meisten Stimmen und die relativ meisten Abgeordneten, aber nicht die absolute Mehrheit im Parlament. Gleichwohl hat sich das Linksbündnis inzwischen doch auf eine Kandidatin als Regierungschefin geeinigt.
NFP schlägt dem Staatspräsidenten die parteilose Lucie Castets vor. Ausgebildet an der staatlichen Kaderschmiede ENA und internationalen Business-Schools, mit Berufserfahrungen in wichtigen staatlichen Planungsabteilungen und als Beigeordnete für Finanzen in der Landeshauptstadt Paris, hat sich die Ökonomin, die für den Erhalt und die Stärkung der öffentlichen Dienste eintritt, auch in NGOs einen Namen gemacht.
In einer ersten Reaktion sagte die 37-jährige, sie nehme die Kandidatur »mit Bescheidenheit, aber auch mit Überzeugung« an. Zu ihren Prioritäten zähle die Abschaffung von Macrons Rentenreform sowie eine »große Steuerreform, damit alle, Einzelpersonen und multinationale Unternehmen, ihren gerechten Anteil zahlen«, die Verbesserung der Kaufkraft durch Erhöhung der Löhne und Gehälter sowie der sozialen Mindesteinkommen.
Macron hingegen glaubt, er könne einen olympischen Frieden diktieren und sich bis zum Ende des Sportereignisses in Missachtung der Abstimmungsergebnisse üben. Er lehnt Lucie Castets schlichtweg ab: »Es geht nicht um Namen, es geht darum, welche Mehrheit sich in der Nationalversammlung bildet.« Und da will er mitgestalten, auch wenn er »in einer Parallelwelt lebt«, wie der sozialdemokratische Parteivorsitzende Oliver Faure sagt.