17. Februar 2021 Redaktion Sozialismus: Erdoğans neuestes Lieblingsprojekt

Eine türkische Mondmission?

Foto: dpa

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den einstigen Finanzminister Naci Ağbal Anfang November 2020 auf den Stuhl des Notenbankchefs gehievt – kurz nachdem die Landeswährung auf ein Rekordtief gefallen war. Nun verfolgt er zudem ein neues Lieblingsprojekt.

Verbunden war der Personalwechsel wie immer mit einer vom Präsidenten vollmundig erklärten Ankündigung nach einer »neuen Ära der Wirtschaft«. Es solle einen Neuanfang in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Demokratie geben – verbunden mit personellen Änderungen. Deshalb musste der bisherige Notenbankchef Murat Uysal, den Erdoğan im Juli 2019 ebenfalls persönlich ins Amt gebracht hatte, gehen und auch der türkische Finanzminister Berat Albayrak, der zugleich Erdogans Schwiegersohn ist, »trat zurück«.

Der abgelöste Zentralbankchef Uysal wurde für den Niedergang der Lira mitverantwortlich gemacht. Erdoğan verband den Personalwechsel mit dem Versprechen, ein investorenfreundliches Umfeld zu schaffen. Die Notenbank hat den Leitzins von 10,25% auf 17% erhöht, und so versucht, die ausufernde Inflation in Schach zu halten, die sich seit drei Jahren zumeist im zweistelligen Prozentbereich bewegt.

Der massive geldpolitische Kurswechsel wurde von den Finanzmärkten und den Investoren goutiert: Nachdem sie über Jahre eher einen Bogen um türkische Vermögenswerte machten, strömt nun wieder vermehrt ausländisches Kapital in das Schwellenland. Und auch die lange Zeit taumelnde Lira hat sich wieder stabilisiert.

Dennoch klagt ein Großteil der Bevölkerung über steigende Preise und eine beschleunigte Inflation. Mittlerweile liegt sie bei knapp 15%. Der Anstieg der Preise ist besonders bei Lebensmitteln zu spüren. Den dramatischen Preisanstieg dokumentieren nun auch Zahlen des Verbraucherpreisindex, der vom Türkischen Statistikamt (TÜIK) jährlich herausgegeben wird. Besonders die Preise für Gemüse, Obst, Eier, Öl und Milch sind enorm gestiegen. In der Corona-Krise bringt dies viele Haushalte in Bedrängnis.

Erdoğan reagiert auch darauf mit altbekannten Mustern: Er macht jetzt die Einzelhändler für den Preisanstieg verantwortlich. Expert*innen kritisieren hingegen, dass die islamisch-konservative AKP-Regierung in den vergangenen Jahren nahezu ausschließlich in den Bau- und Dienstleistungssektor investiert habe. Der wichtige Agrarsektor sei vernachlässigt worden. Hinzu kommt: Landwirtschaftliche Flächen wurden dem Bau geopfert, um große Immobilienprojekte zu realisieren.

Die einseitige Investitionspolitik der AKP-Regierung schlägt sich nun in einem neuesten Lieblingsprojekt des Potentaten am Bosporus nieder: der türkischen Mondmission. Während die Menschen in der Türkei zunehmend in ihren Alltagsorgen untergehen, träumt Erdoğan von der Erschließung von Erdgasfeldern im Mittelmeer und vom Mond. Das gigantomanische Raumfahrtprojekt wird Unsummen verschlingen – Geld, das in den Augen vieler beim Ausbau der Landwirtschaft und der Nahrungssicherheit der türkischen Bevölkerung besser investiert wäre.

»Wir werden den Platz einer mächtigen und unabhängigen Türkei nicht nur auf der Erde, sondern auch im All sichern«, sagte Erdoğan bei der Vorstellung eines türkischen Raumfahrtprogramms. In zwei Jahren will seine Regierung die erste türkische Rakete zum Mond schicken, später soll ein türkischer Astronaut das All erkunden. In den kommenden zehn Jahren will die Türkei einen Weltraumbahnhof errichten und eine eigene Weltraumindustrie entwickeln. Details, insbesondere zu den Kosten, die eine mehrstellige Milliardenhöhe erreichen dürften, nannte der Präsident nicht.

Die Türkei befindet sich seit drei Jahren in einer Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie noch verschärft wird. Die Unzufriedenheit über den Wohlstandsverlust wird in der Bevölkerung immer grösser. Das »Weltraum-Märchen« hat nichts mit der Lebenswirklichkeit von Millionen Türk*innen zu tun, die unter hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leiden, kritisiert die türkische Opposition.

Zugleich monologisiert der Präsident über eine neue Verfassung, mit der er seine eigene Macht weiter festigen will. Die überraschende Ankündigung, weniger als vier Jahre nach dem Wechsel zum Präsidialsystem eine neuerliche Verfassungsänderung anzustreben, muss als Indiz für eine weitere Stabilisierung der Macht der AKP und der persönlichen Ambitionen Erdoğans ernst genommen werden. Die Zustimmung für seine Regierungskoalition liegt weit unter 50%. Die Unzufriedenheit über die seit drei Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Probleme wird immer grösser, worauf auch die Proteste an einigen Universitäten hindeuten.

»Es ist klar, dass die Quelle der Probleme der Türkei darin liegt, dass ihre Verfassungen immer von Putschisten geschrieben wurden«, sagte Erdoğan auf einer Pressekonferenz nach einer Kabinettssitzung. Nach der geltenden Verfassung könnte er im Falle einer Wiederwahl höchstens bis 2028 Präsident bleiben. »Es könnte Zeit für die Türkei sein, die Debatte über eine neue Verfassung wiederzueröffnen«, die er zusammen mit den Koalitionspartnern angehen wolle. Erdoğans AKP, die derzeit nicht die absolute Mehrheit im Parlament hat, regiert mithilfe der ultrarechten MHP.

Die bisherige Verfassung war 1982 nach einem Militärputsch eingeführt worden. Erdoğan hatte sie bereits 2017 ändern lassen und seine Befugnisse als Staatschefs stark ausgeweitet. Die Türkei als Nation sehe ihre Zukunft nach wie vor in der AKP, ließ der Präsident auf einem kürzlichen Parteikongress verlauten: »Wir schließen niemanden aus und wir verurteilen niemanden. Wir respektieren die Meinung eines jeden, solange er nicht in Terrorismus, Gewalt, oder Unmoral involviert ist.« Darüber hinaus wolle die AKP sich »Freunde machen« und sie werde »nicht verlieren«.

Der 66-jährige regiert seit 2002 als Präsident oder Ministerpräsident die Türkei. Er hat noch nie eine Wahl verloren, seine Zustimmungswerte sanken jedoch wegen seines harten Vorgehens gegen die Opposition nach einem gescheiterten Putschversuch 2016 sowie aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Land. der Türkei. Durch den Wertverlust der Lira haben seit 2018 viele Menschen ihre Ersparnisse verloren. Außenpolitisch versucht Erdoğan sich derzeit der Europäischen Union nach dem Erdgas-Streit mit Griechenland wieder anzunähern.

Aktuell protestieren Studierende gegen den verschärften Repressionskurs der Universitätsleitungen. Die Ankündigungen von einer neuen Reformära sind in den repressiven Aktionen des Staats- und Justizapparates untergegangen. Auch die Opposition bezieht gegenüber den politischen Manövern der AKP-Regierung deutlich Stellung. Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der größten Oppositionspartei CHP stellte sich wie Mansur Yavaş, Bürgermeister von Ankara, bei einem Treffen mit Studentenvertreter*innen hinter deren Forderungen zur Beseitigung der repressiven Leitungen der Universitäten.

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