13. Oktober 2018 Otto König/Richard Detje: Stichwahlen um Brasiliens Präsidentschaft

»Ele Não!« (Der nicht!)

In Brasilien steht die Demokratie auf dem Spiel! Nach 33 Jahren sind die Brasilianer*innen dabei, einen glühenden Verteidiger der Militärdiktatur per Stimmzettel ins Präsidentenamt zu hieven.

Der Ex-Militär und Rechtsaußen Jair Bolsonaro konnte im ersten Wahlgang 46,1% der Stimmen auf sich vereinen. Nur knapp verfehlte der Kandidat der Partido Social Liberal (PSL) sein erklärtes Ziel, bereits im ersten Durchgang zu gewinnen. Seine Tiraden gegen Indigene, Frauen, Homosexuelle und »all den linken Müll« haben ihm nicht geschadet. Er werde kein anderes Ergebnis als seinen Wahlsieg akzeptieren, sagte er nach der Wahl. So offen hat schon lange kein brasilianischer Politiker mehr mit einem Staatsstreich gedroht.

Auf Platz zwei folgt mit 29,2% der Kandidat der Partido dos Trabalhadores (PT), Fernando Haddad. Bolsonaro und Haddad werden am 28. Oktober in einer Stichwahl gegeneinander antreten. Für den ehemaligen Bildungsminister unter Präsident Lula und Ex-Bürgermeister von São Paulo, Fernando Haddad, und seine Kandidatin als Vizepräsidentin, Manuela D`Avila, von der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) bedeutet dies nur drei Wochen Zeit, um das Profil des relativ unbekannten Spitzenkandidaten zu schärfen.[1] Der Mitte-Links-Kandidat Ciro Gomes von der Partido Democrático Trabalhista (PDT) wurde mit 12,5% Drittplatzierter.

Für die traditionellen konservativen Parteien war der Wahlausgang eine herbe Niederlage. Michel Temer, der 2016 durch die Amtsenthebung Dilma Rousseffs ins höchste Staatsamt »geputscht« wurde, trat selbst nicht an. Kein Kandidat der Parteien, die seine Regierung unterstützten, erreichte die Fünf-Prozent-Marke. Der neoliberale Geraldo Alckmin von der Partido de la Social Democracia Brasileña (PSDB) kam auf 4,8% und für Henrique Meirelles (MDP), den Wunschkandidaten von Temer, votierten gerade mal 1,21% der Wähler*innen

In das Vakuum, das diskreditierte Politiker aus allen politischen Lagern hinterlassen haben, ist von ganz rechts Jair Bolsonaro gestoßen. Der Auftritt des früheren Hauptmanns des Militärs steht unter dem Motto »Brasilien über alles und Gott über alle«. Er ist eng mit evangelikalen Kirchenkreisen, mit der Parlamentsfraktion der Agrarbarone, zahlreichen Unternehmervertretern und hohen Militärs verbandelt. Es waren anscheinend vor allem Wähler aus dem gemäßigten bürgerlichen Lager, die im letzten Moment zu Bolsonaro schwenkten und ihm damit fast zum Sieg im ersten Wahlgang verholfen hätten. Eine »Folge eines politischen Diskurses, der auf Angst und Manipulation beruht«, so Maria Luísa Mendonça, Direktorin des brasilianischen Netzwerks für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte.

Mehr als 145 Millionen Bürger waren aufgerufen, den Staatspräsidenten, die 531 Mitglieder des Abgeordnetenhauses in Brasília und 54 der 81 Senatoren, zwei Drittel des Oberhauses, neu zu bestimmen. Zur Wahl standen ebenso die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und des Hauptstadtdistrikts sowie deren Parlamente. Auch für das zukünftige Parlament sowie den Senat zeichnet sich ein stärkerer Einfluss des rechten Lagers ab. Die PSL wird künftig im Unterhaus des Kongresses statt mit bisher einem mit 52 Sitzen vertreten sein. Nur die Arbeiterpartei PT verfügt dann – trotz Verlusten – mit 56 Abgeordneten über eine noch größere Fraktion. Einen Absturz bei den Kongresswahlen erlebten die traditionellen Mitte-Rechts-Parteien: Die Movimentio do Brasileiro (MDB) von Präsident Michel Temer hält noch 34 Sitze, bisher 66. Die PSDB ist mit 29 Mandaten abgeschlagen.

Bolsonaros Erfolg im 1. Wahlgang ist das jüngste Kapitel eines Putsches gegen das parlamentarisch-demokratische System. Der »sanfte Staatsstreich« hat mit der Amtsenthebung der letzten demokratisch gewählten Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 begonnen.[2] Damals konnte mit Unterstützung der politischen Rechten Rousseffs Vize Michel Temer die Macht ergreifen. Es war die Revanche des Großbürgertums für die Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren.

Von Anfang an ging es um einen massiven Angriff auf die Linke mit dem Ziel, ihre Organisationen auf Dauer zu marginalisieren. Dazu hatte man sich auch der Judikative bedient. Anders kann man Lulas politische Haft und seinen Ausschluss von der Wahl nicht werten.[3] Lula da Silva werde in Haft isoliert, so der US-amerikanische Aktivist Noam Chomsky, damit der »sanfte Staatsstreich« nach der Absetzung von Dilma Rousseff weiter vorangetrieben werden konnte.

Die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas steckt in einer tiefen Krise. 13 Millionen Brasilianer sind arbeitslos. Viele haben sich verschuldet und können die Raten ihrer Kredite nicht mehr bezahlen. Die Sorge vor dem Abstieg ist ein fruchtbarer Nährboden für Populismus – da macht Brasilien keine Ausnahme. Und so fordert Jair Bolsonaro, nach dem Vorbild von Donald Trump, die Grenze dicht zu machen, stempelt die nach Brasilien geflüchteten Venezolaner zu Sündenböcken. Obwohl Brasilien, ein Land mit fast 210 Millionen Einwohnern, mit 50.000 Flüchtlingen auf keinen Fall überfordert sein dürfte.

Der Hauptmann der Reserve vertritt nicht nur konservative Werte und eine neoliberale Wirtschaftspolitik, sondern verklärt auch die Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 als Phase, in Brasilien alles stabil und »alles in Ordnung« war. Seine Hauptthemen im Wahlkampf waren der Kampf gegen Korruption und Kriminalität. Den Bürgern sollen mehr und dem Staat weniger Rechte zustehen, entsprechend plädiert er dafür, die Bevölkerung zu bewaffnen und die Polizei bei der Verbrechensbekämpfung von rechtsstaatlichen Pflichten zu entbinden. Mit »harter Hand« wolle er das Land säubern. Soziale Bewegungen werde er verbieten und die Mehrheit seines Kabinetts solle aus Militärs bestehen, drohte der EX-Militär.

Die Unterstützung der Unternehmerschaft für seine Kandidatur sicherte sich Bolsonaro u.a. damit, indem er den ultraliberalen Banker Paulo Guedes zum designierten Minister für Wirtschaft und Finanzen ernannte, der sich für die Radikal-Privatisierung überlebender und rentabler Staatsbetriebe und des öffentlichen Rentensystems einsetzt. Für dessen Mischung aus autoritärer Politik und liberaler Ökonomie gibt es in Lateinamerika ein berüchtigtes Vorbild: das Chile der Pinochet-Ära mit den sogenannten Chicago-Boys. Mit Ökonomen also, die den Diktator im Geiste Milton Friedmans berieten. Dieser Hinweis ist auch deshalb gerechtfertigt, weil Guedes in Chicago studierte und zu Zeiten Pinochets an der Universität von Santiago de Chile lehrte.

Haddads PT steht jetzt vor der Herkulesaufgabe, die Brasilianer*innen bis zur Stichwahl Ende Oktober zu überzeugen, dass sie die bessere Kraft ist, um das Land aus der schwersten Krise seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 zu führen. »Unsere einzige Waffe werden Argumente sein«, erklärte Haddad mit Blick auf die Ankündigung Bolsonaros, allen Brasilianern den Zugang zu Waffen zu ermöglichen.

Die neue Regierung muss sich einem schweren Erbe stellen: Die von der Regierung Temer angehäufte Verschuldung ist gigantisch, die Zahl der Arbeitslosen liegt bei rund 27 Millionen Menschen, die Haushaltsmittel für sozialpolitische Programme sind für 20 Jahre eingefroren. Deshalb gewinnt die Forderung nach Durchführung eines Widerrufsreferendums mit dem Ziel, die Temer-Gesetze für null und nichtig zu erklären, an Kraft.[4] Der Mitte-Links-Politiker will die Sozialpolitik der Arbeiterpartei fortsetzen, die zwischen 2002 und 2012 rund 35 der insgesamt 201 Millionen Einwohner aus extremer Armut in die Mittelschicht aufsteigen ließ. Sozialprogramme wie der Haushaltszuschuss »Bolsa Família« halfen, das Elend zu lindern: Heute bekommen 14 Millionen Familien einen monatlichen Zuschuss. Insbesondere die regelmäßigen Erhöhungen des Mindestlohns hatten Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Landes.

Bolsonaro hat den Sieg noch nicht in der Tasche, auch wenn ihm rein rechnerisch nur vier Prozentpunkte fehlen. Das politische Potential für den Ex-Militär ist ausgeschöpft. Die Anhänger der unterlegenden Kandidaten, die für Bolsonaro stimmen könnten, haben es überwiegend bereits im ersten Wahlgang getan.

Fernando Haddad setzt auf eine breite Allianz und kündigte an, er werde »die Demokraten des Landes vereinen, um soziale Gerechtigkeit und ein Brasilien für alle« zu ermöglichen. Brasiliens Linke war im ersten Wahlgang fragmentiert angetreten, jetzt hofft Haddad darauf, in der Stichwahl die Reihen schließen zu können Doch um Bolsonaro verhindern zu können, wird sich der PT-Kandidat auch an die Wähler*innen im bürgerlicher Lager wenden müssen. Doch das könnte die PT in den anderen Wähler*innenkreisen demobilisieren.

Die Front in der Stichwahl verläuft zwischen Brasiliens überzeugten und noch zu überzeugenden Demokrat*innen und dem rassistischen, homophoben Bolsonaro. Alle progressiven Kräfte müssen sich nun um ein einziges Ziel herum vereinen, das Frauen in den letzten Wochen bei Massenprotesten auf die Straße getragen haben: »Ele Não!« (Der nicht!)

[1] Am 11. September 2018, kurz nachdem die Wahljustiz die Teilnahme des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva ausgeschlossen hat, wurde der 55-jährige Fernando Haddad zum offiziellen Kandidaten der Partei der Arbeiter PT ernannt. Nachdem Haddad als Lulas Kandidat feststand, stiegen seine Umfragewerte sprunghaft an. Die gesamte Kampagne der Arbeiterpartei (PT) konzentrierte sich auf die Formel »Lula ist Haddad, Haddad ist Lula«.
[2] Während der Abstimmung über die Amtsenthebung von Dilma Roussef schrie der rechtsradikale Jair Bolsonaro im Parlament in Brasilia in die Mikrofone: »An diesem ruhmreichen Tag … gibt es einen Mann, der in die Geschichte eingehen wird – Herzlichen Glückwunsch, Parlamentspräsident Eduardo Cunha! Sie [die Linken] haben 1964 verloren und verlieren noch einmal im Jahr 2016. Im Namen der Familie und der Unschuld der Kinder, die von der PT verachtet wurden, gegen den Kommunismus, das São-Paulo-Forum [linker Regierungen Lateinamerikas] und im Gedächtnis an Oberst Brilhante Ustra (Folterer von Roussef in der Militärdiktatur) stimme ich Ja [zur Amtsenthebung).«
[3] Otto König/Richard Detje: Brasilien – Hexenjagd auf Ex-Präsidenten. Causa Lula kann die Linke vereinen, Sozialismus.de Aktuell 28.8.2018.
[4] Vgl. Heinz Bierbaum/Dietmar Schulz/Achim Wahl: Die politische Lage in Lateinamerika und die dortige Linke, in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10/2018.

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