9. Juli 2005 Joachim Bischoff / Richard Detje

Ende des "System VW"?

Im Volkswagenkonzern ermittelt der Staatsanwalt wegen des Verdachts, einige Mitarbeiter hätten ihre Stellung im Unternehmen zu Nebengeschäften benutzt. Ferner geht es in der Öffentlichkeit um den Vorwurf, falsch abgerechneter Reisespesen und Sex-Affären. Noch liegen kaum belastbare Fakten auf dem Tisch, schon gibt es Rücktritte – der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Volkerts und der Personalvorstand Peter Hartz.

Ginge es bei Volkswagen rein um Korruption, würde sich die Medienberichterstattung mit einspaltigen Notizen in den Wirtschaftsteilen der Tagespresse begnügen. So im Fall DaimlerChrysler, wo die Staatsanwaltschaft mittlerweile gegen 17 Personen, u.a. gegen den früheren Deutschland-Vertriebschef Eckhard Panka, ermittelt. Mag sein, dass die kriminelle Energie des Ex-Skoda-Personalvorstands Helmuth Schuster und seines Kompagnons aus den zentralen Personalwesen in Wolfsburg, Klaus-Joachim Gebauer, höher zu veranschlagen ist, mag sein, dass der Kreis derjenigen, die Mittaten und Mitprofitieren wollten, sich als größer erweisen wird – doch all dies ist gegenwärtig nicht bekannt und auch gar nicht Gegenstand der um sich greifenden Spekulationen. Was macht die "Affäre Volkswagen" so außergewöhnlich?

Zuerst einmal das, was heute mit der "Systemfrage" bezeichnet wird. Darunter wird ein Geflecht von unternehmerischen, gewerkschaftlichen und politischen Interessen zur allseitigen Vorteilsnahme verstanden. Anrüchig, gar kriminell, ist daran nichts. Umgekehrt: lange Zeit machten derartige korporatistische Bündnisse den Vorteil des Wirtschaftsstandortes Deutschland aus. Unternehmer, die langfristige Zukunftsinvestitionen tätigten, Betriebsräte, die sich auf Co-Management verstanden, Manager, die sich als politische Akteure und Politiker, die sich als wirtschaftsnahe Ministerpräsidenten und Kanzler der Bosse feiern ließen. Volkswagen war in vielen Bereichen Exponent dieses Systems und generierte etliche Innovationen: von der elektronischen Produktionssteuerung ("Halle 54") über die 28,8-Stunden-Woche und andere Modelle flexibler Arbeitszeitorganisation ("atmende Fabrik") bis hin zur heutigen Auto 5000 GmbH. Nicht nur auf das Werk begrenzt: Mit der von der Stadt und von VW gegründeten Wolfsburg AG sollte die Arbeitslosigkeit in der Region halbiert werden – ein Modell, das Pate stand für etliche der nachfolgenden Hartz-"Reformen", die wiederum der Maxime folgten, dass man den Arbeitsmarkt ebenso effizient organisieren könne wie ein Wirtschaftsunternehmen.

Damit dieses "System" funktionieren kann, bedarf es so genannter Win-Win-Situationen. Und hier taucht das Problem auf: Nach dem Ende des New-Economy-Booms und dem Eintritt in eine lange Periode wirtschaftlicher Stagnation ist die Innovationsgeschwindigkeit deutlich gesunken, die Arbeitslosigkeit auf neue Rekordmarken gestiegen und der Verteilungskonflikt aktualisiert. Die Protagonisten sind unter Beschuss geraten. Klaus Volkerts ist einer von ihnen. Es sei dahingestellt, wie belastbar die gegenwärtig ausufernden Sex-and-crime-Geschichten letztlich sein werden – seine Art des Co-Managements war in letzter Zeit immer mehr ein Ritt auf der Rasierklinge, von der er nun mit tiefen Schnittwunden abgestürzt ist. Der andere Exponent heißt Peter Hartz. Auch wenn all jene, die ihn als die vermeintliche "Spinne" oder "Krake" des Systems – so der niedersächsische Ministerpräsident Wulff – wegtreten wollen, keine belastbaren Anschuldigen zustande bringen, ist doch Peter Hartz politisch längst ein gescheiterter Mann, der erkannt hat, dass die Deutschland AG nicht wie das Unternehmen Volkswagen geführt werden kann.

Hier nun kommen wir zur Kehrseite der Systemfrage. Es gehört zu jenen Ironien der jüngsten deutschen Geschichte, dass es die SPD war, die den Totengräber der Deutschland AG gespielt hat: angefangen mit der steuerlichen Freistellung der Veräußerungsgewinne der Banken, die sich aus direkten Unternehmensbeteiligungen zurückzogen und sich neu auf den Finanz- und Kapitalmärkten aufstellen, bis hin zur Öffnung des Wirtschaftsstandorts Deutschland für Hedge-Fonds. Auch wenn es politisch und publizistisch in den Kram passt, die Schrödersche Sozialdemokratie als korporatistische Hausmacht zu brandmarken – es ist falsch. Keine Regierung zuvor hat den Umbau von Wirtschaftsstandort und Wohlfahrtsstaat derart beschleunigt wie die von Schröder – und damit den Weg freigeräumt für eine extrem machtorientierte, rechtskonservativ-neoliberale Nachfolgeregierung.

Machtorientiert heißt, dass nicht gewartet wird, bis Reichsapfel und Zepter übergeben sind. Gehandelt wird, sobald der Gegner außer Tritt ist. Und dafür ist Volkswagen das geeignete Aufmarschfeld. Die letzte große Bastion der Deutschland AG soll gestürmt werden, gleichsam als Fanfarenstoß für den Feldzug des Exportweltmeisters auf dem angelsächsischen Weg.

Sturm auf die Bastion heißt:

  Im Visier der Angriffe auf den zweifellos bei einem Organisationsgrad von über 90% außerordentlich einflussreichen VW-Betriebsrat und die IG Metall steht die institutionelle Mitbestimmung. Nicht nur die Unternehmensmitbestimmung, sondern auch der Einfluss der Betriebsräte, der ja nicht gestärkt werden soll, wenn man betriebliche Bündnisse für Wettbewerbsfähigkeit installieren will.

  Im Visier der Angriffe auf den VW-Haustarifvertrag steht der Flächentarifvertrag. Die 20%, die VW beim Lohn mal über der Fläche lag, sind längst Geschichte. Im letzten Jahr wurde der Belegschaft noch ein Sanierungsbeitrag von 500 Millionen Euro abgerungen, in diesem Jahr soll es eine Milliarde sein. VW ist spätestens mit der Berufung von Wolfgang Bernhard zum obersten Wolfsburger Sanierer auf Kurs gebracht – die Rolle des Peter Hartz ist dabei eher minimiert: Das von ihm präsentierte – wegen der Zulagenstreichungen heftig umstrittene – Schichtmodell soll gerade mal 70 Millionen bringen. Die hinter den diversen Cost-Cutting-Strategien lauernde Frage heißt: Was bleibt vom Flächentarifvertrag, wenn alle davon abweichenden Regelungen nach oben geschleift sind, der Tarifvertrag generell also nicht mehr Mindest-, sondern Höchstregelungen festzuschreiben versucht?

  Schließlich sind Kapitalrendite und Aktienkurs im Visier. Der Vorstandsvorsitzende Pischetsrieder steht dafür, den Gewinn von einer Milliarde im vergangenen Jahr in den folgenden drei Jahren auf vier Milliarden zu steigern. Und auch das soll nur eine Durchgangsstation sein, um das auf den Kapitalmärkten notorisch unterbewertete Unternehmen zu einem lukrativen – zumindest was Automobilaktien betrifft – Anlageobjekt zu machen.

Ob dabei die niedersächsische Staatskanzlei und das EU-Wettbewerbskommissariat Hand in Hand arbeiten, darf spekuliert werden. Jedenfalls hatte noch der ob seiner "Dienstleistungsrichtlinie" berühmt-berüchtigt gewordene Wettbewerbskommissar Frits Bolkestein die so genannte Lex Volkswagen vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, weil kein Anteilseigner mehr als 20% Stimmrechte ausüben darf, Niedersachsen jedoch mit zwei Vertretern auf Seiten der neunköpfigen Arbeitgeberbank im Aufsichtsrat vertreten ist (und damit über eine Sperrminorität verfügt). Nicht selten wird mit Brüssel über Bande gespielt – warum nicht aus Niedersachsen, sollte die Staatskanzlei in Hannover kein Interesse mehr daran haben, Europas größtes Automobilunternehmen vor Übernahmen abzusichern.

Sex and crime erregt die Gemüter. Doch bei Volkswagen wird ein großes Rad gedreht.

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