12. Januar 2022 Redaktion Sozialismus.de: DIE LINKE setzt Zeichen zur Bundespräsidentenwahl

Engagierter Armenarzt als Kandidat

Foto: DIE LINKE.de

DIE LINKE hat den Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert als Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert. Dieser sieht seine Kandidatur als symbolische Operation, um das Thema Soziale Gerechtigkeit in der Öffentlichkeit stark zu machen.

Dieses Thema müsse viel intensiver in die öffentliche Debatte gerückt werden – und genau darin sehe er auch eine Aufgabe eines Bundespräsidenten. Nach der Direktkandidatur für die Bundestagswahl in Mainz wolle er nun das Thema der sozialen Ungleichheit auch »auf diesem ganz anderen Level« in die öffentliche Diskussion zu bringen. Bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr hatte Trabert im Wahlkreis Mainz als parteiloser Direktkandidat der LINKEN für den Bundestag kandidiert, wurde aber nicht gewählt. Er erhielt 12,7% der Erststimmen.

Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung gewählt, die am 13. Februar zusammentritt. Sie wird 1.472 Mitglieder zählen – die 736 Abgeordneten des Bundestags und eine gleich große Zahl von Menschen, die die von den 16 Landesparlamenten entsendet werden. Der Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier stellt sich erneut zur Wahl. Neben seiner eigenen Partei, der SPD, haben auch FDP, die Grünen sowie CDU und CSU ihre Unterstützung signalisiert. Seine Wahl gilt damit als sicher.

Gerhard Trabert lebt in Mainz. Er arbeitete sich vom Hauptschulabschluss zum Medizinstudium hoch, wurde Arzt für Allgemein- und Notfallmedizin und lehrt als Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain (HSRM) in Wiesbaden. Vor zwei Jahren wurde er als erster Fachhochschullehrer überhaupt vom Deutschen Hochschulverband (DHV) als Hochschullehrer des Jahres 2020 gewürdigt.

In seiner Heimatstadt baute er eine medizinische Versorgungseinrichtung für wohnungslose Menschen auf, gründete eine Poliklinik für nicht krankenversicherte Menschen und den Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland«. Er war Mitglied der Nationalen Armutskonferenz und engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit. Für sein Engagement erhielt unter anderem das Bundesverdienstkreuz, den Verdienstorden des Landes Rheinland-Pfalz, die Paracelsus-Medaille der Bundesärztekammer sowie die Salomon-Neumann-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention verliehen.

Der parteilose Kandidat der Linkspartei ist enttäuscht, welche geringe Rolle der Bekämpfung der Armut zukommt und – mehr noch – »wie wenig darüber gesprochen wird. Auch von der neuen Bundesregierung, selbst wenn sie Akzente setzt mit der Kindergrundsicherung, der Erhöhung des Mindestlohns und anderes. Ich habe immer das Gefühl, es wird mehr Reichtum stabilisiert als Armut bekämpft. Ein Hartz-IV-Satz um drei Euro zu erhöhen, ist ein Skandal. Bei der derzeitigen Inflationsrate ist das eine Kaufkraftminderung. Dass das von den Parteien nicht stärker gesehen und bekämpft wird, erschließt sich mir nicht.«[1]

Trabert unterstreicht zugleich die Beziehung von Armut und Krankheit. »Krankheit macht arm, und Armut macht krank. Es hört in diesen Tagen jeder auf das Robert-Koch-Institut. Das veröffentlicht seit Jahren auch Zahlen, dass arme Frauen im Vergleich zu dem reichsten Viertel der Gesellschaft 4,4 Jahre und arme Männer 8,6 Jahre früher sterben. 30% der Männer, die von Armut betroffen sind, erreichen nicht das 65. Lebensjahr. 43% der Alleinerziehenden sind von Einkommensarmut betroffen. Das darf nicht sein. Auch in der Pflege muss sich bei der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen etwas ändern. Bei Care-Arbeit von Frauen genauso wie bei Geflüchteten, da muss Deutschland eine Vorreiterrolle übernehmen. Das Sterben im Mittelmeer darf so nicht sein.«

In der Tat haben SPD, Grüne und FDP neben der Erhöhung des Mindestlohns auch eine Kindergrundsicherung angekündigt und dies explizit mit dem Ziel der Reduzierung von Kinderarmut verknüpft. Die Kindergrundsicherung muss gewährleisten, dass keine Person nur wegen des Vorhandenseins unterhaltsberechtigter Kinder auf staatliche Transferleistungen angewiesen wäre. Letztlich entscheidend wird sein, dass das gewählte Kindergrundsicherungs-Modell dafür sorgt, dass kein Kind in diesem Land mehr in Einkommensarmut aufwachsen muss.

Die Ampel-Parteien haben auch eine umfassende Reform der Grundsicherung im Regierungsprogramm, die die Würde der Einzelnen achte, zur Teilhabe befähige und unkompliziert zugänglich sei. Auf den zweiten Blick ist zwar durchaus eine Reform zu erkennen, die aber keineswegs auf eine Überwindung von Hartz IV zielen, die die Umbenennung in »Bürgergeld« rechtfertigen.[2]

Das für die Lebens- und Armutssituation der Hartz IV-Beziehenden entscheidende Faktum, Entbehrung und Ausgrenzung aufgrund kleingerechneter und deshalb nicht bedarfsdeckender Regelsätze, soll mit dem Bürgergeld offenbar fortgeschrieben werden. Nicht zuletzt die jüngsten Preissteigerungen treffen einkommensarme Haushalte zusätzlich, ohne dass die von der Großen Koalition beschlossene Regelsatzanpassung dies auch nur ansatzweise ausgleichen würde. Während die Lebenshaltungskosten seit dem Herbst 2020 um mehr als 4% gestiegen sind, beträgt die vorgesehene Anpassung gerade einmal 0,7%.

Der Ökonom und Präsident des DIW Berlin (Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung) Marcel Fratzscher mahnt zu Recht: »Unsere Gesellschaft könnte nach der Pandemie gespaltener sein als jemals zuvor in den vergangenen 70 Jahren. Die Regierung sollte alles daran setzten, dies zu verhindern. […] Die Politik darf diesen Trend der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung nicht unterschätzen. Wir als Gesellschaft stehen heute vor zwei riesigen Generationenaufgaben: Klimaschutz und digitale Transformation. Die Bewältigung beider Aufgaben bedeutet riesige Umwälzungen von Wirtschaft und Gesellschaft und wird nur mit einer hohen gesellschaftlichen Akzeptanz erfolgreich sein können. Die große Zahl an Impfverweigerinnen und Impfverweigerern sollte ein klares Signal auch an die neue Bundesregierung sein, der Verhinderung einer dauerhaften gesellschaftlichen Spaltung oberste Priorität einzuräumen.«[3]

Die Linkspartei wurde auch wegen ihrer unzureichenden Betonung der wachsenden sozialen Spaltung, wegen der Unzulänglichkeit ihrer Konzeptionen zur Armutsbekämpfung und wegen der Überbetonung ideologischer Debatten wegen anhaltender personeller Streitereien bei der Bundestagswahl abgestraft. Nach der Wahl ist eine schonungslose Aufarbeitung der Gründe für die herbe Niederlage angekündigt worden. Die neue Führung wollte jeden Stein umdrehen, hat sich bei dieser Operation aber verlaufen.

Der geräuschlos zustande gekommene Vorschlag für die Wahl eines Bundespräsidenten mit dem parteilosen Kandidaten Gerhard Trabert, der als Person mit seinem sozialen Engagement eine Alternative zur politischen Klasse repräsentiert, ist ein Zeichen dafür, dass die Partei noch lebt.

Anmerkungen

[1] Interview im ZDF am 10.1.2022.
[2] Siehe dazu ausführlicher Joachim Rock, Ab durch die Mitte! Sozialpolitische Konturen einer Ampel-Koalition, in: Sozialismus.de, Heft 1-2022.
[3] Marcel Fratzscher, Die unterschätzte soziale Polarisierung, in: DIE ZEIT vom 17.12.2021.

Zurück