4. Februar 2020 Redaktion Sozialismus: Nach dem Brexit

Entfesselung des Potenzials Britanniens?

Am 31. Januar Punkt Mitternacht (MEZ) ist Großbritannien nach 47 Jahren aus dem europäischen Staatenbund ausgetreten. Die Folgen sind weitreichend, auch wenn die mittelfristige Zukunft noch im Dunkeln liegt. Praktisch wird sich innerhalb der Übergangsfrist nichts ändern, weil alle EU-Regeln im Vereinigten Königreich weiter gelten.

Erst am 31. Dezember 2020 ist es damit vorbei. Noch immer ist ein harter Brexit möglich, auch wenn Brüssel und London betonen, sich in den in weiteren Verhandlungen bis Ende des Jahres – wenn die Übergangsfrist abläuft – auf ein Abkommen einigen zu wollen.

Ziel ist ein umfassendes Handels- und Partnerschaftsabkommen, um die negativen Folgen des britischen EU-Austritts für Wirtschaft und Gesellschaften so gering wie möglich zu halten. Erwartet wird eine schwierige Kompromisssuche, wenn die Verhandlungen in etwa vier Wochen beginnen. Beide Seiten haben im Vorfeld die Konfliktlinien abgesteckt.

Die Vorstellung, London würde nach dem Brexit ein »Singapur an der Themse« werden, ist eine der kurioseren Visionen, die in den dreieinhalb Jahren entstanden sind, seit die Bürger des Vereinigten Königreichs im Juni 2016 knapp dafür gestimmt hatten, die Europäische Union zu verlassen. Diese Vision steht für ein Großbritannien, das zu einer gering regulierten Volkswirtschaft mit Niedrigsteuern wird, die in der Lage ist, die »verkrustete, überregulierte Eurozone« abzuhängen ‒ und dies nur knapp 40 Kilometer vor Europas Küste.

Sie wurde vor einigen Jahren von Philip Hammond, dem damaligen britischen Finanzminister, zum ersten Mal aufgebracht, um die EU zu drängen, Großbritannien mit einem zuvorkommenden Brexit-Vertrag ziehen zu lassen. Die Analogie zu Singapur ist allerdings nicht ganz treffend. Der Insel- und Stadtstaat in Südostasien hat zwar niedrige Steuersätze und geringe Staatsausgaben, der Hauptfaktor für dessen wirtschaftlichen Erfolge besteht aber darin, dass es sich um eine autoritär geplante Ökonomie handelt, in der die Bürokratie ausländischen Investoren profitable Rahmenbedingungen verschafft.

Die britische Ökonomie kann einer solchen Transformation nicht unterzogen werden. Und auch die Hoffnung, durch einen Deregulierungs-Crash-Kurs könnten die britischen Industrien wieder aufblühen, dürfte sich schnell als illusionär herausstellen. Trotzdem hat sich die Vorstellung, dass das Vereinigte Königreich nach dem Brexit einen Wettbewerbsvorteil durch Deregulierung – insbesondere im Bereich Finanzdienstleistungen – anstreben könnte, auf dem Kontinent festgesetzt und wird als Schreckgespenst eingesetzt, um EU-Mitgliedstaaten einzuschüchtern.

Im Ringen um die Ausgestaltung des Brexits geht es auch um die künftige Rolle Großbritanniens in der Welt. Premierminister Boris Johnson hat seine Präferenz für eine stärker deregulierte kapitalistische Wirtschaft mehrfach angedeutet und sieht in dem von Donald Trump umgewälzten Nordamerika einen Bündnispartner.


Die Position der britischen Regierung

Inzwischen hat der britische Premierminister in einer Rede vor Geschäftsleuten und Diplomaten angedeutet, wie es danach aus seiner Sicht weitergehen soll. Er will sich auf keinen Fall auf die Einhaltung von EU-Standards bei Umweltschutz, Arbeitnehmerrechten und staatlichen Wirtschaftshilfen festlegen lassen: »Großbritannien wird die höchsten Standards in diesen Bereichen beibehalten, besser in vielerlei Hinsicht als die der EU – ohne den Zwang eines Vertrags, und es ist elementar, das jetzt zu betonen.« Darüber hinaus werde die Regierung »die volle souveräne Kontrolle über unsere Grenzen, die Zuwanderung, die Regeln des Wettbewerbs, der Staatshilfen und des öffentlichen Beschaffungswesens wiederherstellen.«

Damit stellte sich Johnson diametral gegen die Forderungen der Europäischen Union, die als Bedingung für ein Freihandelsabkommen die fortgesetzte enge Anbindung des Vereinigten Königreichs an solche Regeln fordert. Schließlich verlange man ja von der EU auch nicht, dass sie sich an britische Regeln halte. Johnson bevorzugt ein einfaches Freihandelsabkommen, nach dem der Handel mit Gütern zwar quasi zollfrei ist, es aber Grenzkontrollen geben würde. Dahinter verbirgt sich der Wunsch des britischen Premiers und seiner Brexiteers, sich so weit wie möglich von europäischen Vorschriften zu befreien und gegenüber der EU durch Deregulierung Kostenvorteile zu generieren und damit Konkurrenzvorteile durchzusetzen.

Großbritannien will darüber hinaus keine Assoziierung mit den EU-Agenturen für Medikamente, Luftfahrt oder Lebensmittelkontrolle. Man will unabhängige Behörden aufbauen, die dann auf der Basis von »regulatorischer Kooperation« mit der EU zusammenarbeiten.

Ähnliches gilt für den Finanzplatz London. Sein Zugang zum europäischen Markt müsste gesondert ausgehandelt werden, nach sogenannten Äquivalenz-Kriterien. Allerdings können die Europäer von Fall zu Fall entscheiden, inwieweit sie britische Finanzmarktgesetze für gleichwertig halten. Und eine erteilte Genehmigung kann jederzeit wieder entzogen werden. Die Londoner City ist ein gewichtiger Faktor für die Leistung der britischen Wirtschaft – der Zugang zum EU-Markt stünde damit auf schwankendem Boden.

Das britische Finanzministerium hat ausgerechnet, dass die Wirtschaft des Landes in den nächsten 15 Jahren um knapp 5% schrumpfen würde, sollte Johnsons Pläne Realität werden. Auch die Bank of England warnt, dass sein »Deal« der britischen Wirtschaft schaden würde. Sie hat errechnet, dass das Bruttonationaleinkommen bis Ende 2022 um 20 Milliarden Pfund sinken würde. Ob sich diese Warnungen der eigenen Ökonomen in der britischen Verhandlungsstrategie niederschlagen werden, ist völlig ungewiss.

Auch wenn die Verhandlungen noch gar nicht begonnen haben, werden bereits Szenarien für eine Nicht-Einigung ins Spiel gebracht. So wirft Johnson laut Presseberichten der EU vor, die Bedingungen für ein umfassendes Handelsabkommen schon verschärft zu haben. Und er ließ verlauten, sollte ein Handelsabkommen nach dem Vorbild Kanadas nicht möglich sein, würde er auch losere Beziehungen zur EU wie etwa Australien in Kauf nehmen, was auf ein No-Deal-Szenario hinausläuft.

Das Kanada-Abkommen, das vor zweieinhalb Jahren in Kraft getreten ist, hatte bereits zuvor in der Brexit-Debatte eine wichtige Rolle gespielt; EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte es als ein mögliches Modell nach dem Brexit benannt. Die Übereinkunft, die während acht Jahren ausgehandelt wurde, schafft im Warenhandel der EU und Kanadas 99% der Zölle und Quoten ab. Im Unterschied zu anderen Handelsübereinkünften umfasst es auch einige Dienstleistungen – so das öffentliche Beschaffungswesen, geografische Ursprungsbezeichnungen und die gegenseitige Anerkennung von Patentrechten und Berufsqualifikationen. Nach den Vorstellungen von Johnson solle aber der für die Briten so wichtige Dienstleistungszweig der Versicherungen oder Finanz- und Beratungsfirmen außen vor bleiben.


Was will die EU?

Auch EU-Unterhändler Barnier hat die Umrisse seines neuen Verhandlungsmandats vorgestellt, das am Ende des Monats von den Mitgliedsländern beschlossen werden soll. Damit bleiben nur neun Monate bis Ende November, um ein Abkommen zu vereinbaren, denn der Dezember würde für die Ratifizierungen und Formalitäten gebraucht.

Laut Verhandlungsführer Barnier will die EU Großbritannien ein Freihandelsabkommen anbieten, das weder Zölle noch Quoten auf Waren vorsieht und eine vernünftige Regelung für Dienstleistungen enthält. Er nannte zwei Bedingungen: Erstens muss die geplante Partnerschaft offene und faire Wettbewerbsbedingungen sicherstellen, wozu robuste Verpflichtungen gehören, zweitens muss Großbritannien den Fischern aus EU-Mitgliedstaaten den Zugang seinen Gewässern ermöglichen.

Barnier verspricht einmal mehr, »die Interessen der Mitgliedstaaten« zu verteidigen: »Unsere Perspektive ist dabei, dass die Briten nahe wirtschaftliche Partner bleiben, Verbündete und Freunde. Wir müssen einen neuen Rechtsrahmen schaffen, um diese Freundschaft zu befestigen und diese Partnerschaft funktionsfähig zu machen«. Hinter dieser diplomatischen Formulierung verbirgt sich die Erwartung der EU, Großbritannien werde von einem Mitgliedsland zu einem Konkurrenten werden, dem alle Mittel recht sind, um die Europäer gegeneinander auszuspielen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte im Winter sehr deutlich vor dieser Gefahr gewarnt.

Die EU will die Briten so weit wie möglich an europäische Regeln binden, wenn sie ihnen freien Zugang zum Binnenmarkt ohne Zölle und Hindernisse für ihre Exporte bieten soll. Das gilt etwa für Sozial- und Umweltvorschriften, neue Klimaregeln, Wettbewerbsrecht, Steuern oder das Verbot von Staatshilfen für Unternehmen.

Gleichzeitig will Brüssel das neue Abkommen mit Sanktionen ausrüsten und als letzte juristische Instanz den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bei möglichen Streitfällen und Konflikten entscheiden lassen. Das ist für Boris Johnson eine rote Linie, die er vermutlich nicht überschreiten wird. Britische Tory-Politiker machen bereits jetzt geltend, dass Vergleichbares im Kanada-Vertrag fehlt. Die EU wolle »Rosinen picken«, zitiert die »Sunday Times« einen Regierungsvertreter – die Retourkutsche für den gleichen Vorwurf, der auch von EU-Vertreter*innen gern gegen die Briten erheben.

Als ein besonders heißes Eisen gelten die Fischereirechte. Fischer aus den EU-Ländern holen gemäß den vereinbarten Fangquoten derzeit große Mengen Fisch aus britischen Gewässern. Umgekehrt sind auch die britischen Fischer bisher auf die EU als Absatzmarkt angewiesen. Das Thema soll deshalb möglichst schnell verhandelt werden.

Ein weiterer absehbarer Streitpunkt sind die Finanzdienstleistungen, für Großbritannien ein wichtiger Wirtschaftsfaktor mit rund einer Million Beschäftigten und einem Anteil von ca. 7% an der Wirtschaftsleistung. 40% dieser Dienstleistungen gehen in die EU. Nach der Übergangsphase verlieren die britischen Finanzdienstleister sogenannte Passporting-Rechte, mit denen sie ihre Produkte überall in der EU anbieten können.

Die EU sei hier klar im Vorteil, sagte Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Wochenende. Datenschutzstandards müssen vereinbart werden, um überhaupt noch persönliche Daten zwischen beiden Seiten auszutauschen. Für die Geschäfte von Banken und Versicherungen, aber auch für Universitäten (und bei der Verbrechensbekämpfung) ist das von großer Bedeutung. Ohne Einigung verliert Großbritannien mit dem Ende der Übergangsphase den Zugriff auf EU-Datenbanken.

Das Mantra der Europäer war immer, dass der Brexit beiden Seiten schadet, den Briten aber mehr als der EU. Die Europäische Union exportiert nur knapp 6% ihrer Güter auf die Insel, Großbritannien aber verkauft 47% seiner Güter nach Europa. Die Europäer sitzen also bei den Verhandlungen am längeren Hebel, weil hier 27 Länder gegen eins stehen.

Schon der Warenhandel ist also ein schwieriges Thema. Und jenseits davon gibt es die Debatte über die Gleichartigkeit von Regeln und Vorschriften. Großbritannien will von ihnen abweichen, weil die EU-Regeln zu restriktiv sind. Wie weit sie sich entfernen dürfen, ist Gegenstand der Verhandlungen und wird möglicherweise das große Gegengeschäft. Andererseits haben die EU-Mitgliedsländer unterschiedliche Interessen, und es wird nicht leicht, sie in der zweiten Brexit-Runde zusammenzuhalten.


Ggf. harter Brexit nach den Regeln der WTO

Johnsons kategorische Ankündigung, London werde niemals EU-Recht nachvollziehen und sich auch jeden Einfluss des EuGH verbitten, sowie seine Absicht notfalls einen einfachen Handelsvertrag anzustreben, dürfte unter Investoren und exportorientierten Unternehmen Nervosität auslösen. Vorbild dafür wird häufig die Übereinkunft genannt, die Brüssel gegenwärtig mit Australien aushandelt. Sie geht vielfach nicht über die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) hinaus.

Entgegen der Sonntagsrhetorik, wir werden alle Europäer bleiben, zeichnet sich schon vor Beginn der Verhandlungen ab, dass der Bruch des Vereinten Königreichs mit der EU deutlich ausfallen wird. London hat sich gegen den Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion entschieden. Und es sieht nicht so aus, als werde Johnson den Verbleib durch die Hintertür dulden, indem er die britische Ökonomie auf EU-Regeln der sozialen Ausgleichungen ausrichtet.

Am Ende des Jahres könnte es also wieder auferstehen – das Gespenst vom harten Brexit ohne Vertrag zwischen beiden Seiten und den entsprechenden Konsequenzen für Ökonomie und Politik.

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