22. Juli 2018 Joachim Bischoff: Kanzlerin sieht »gewohnten Ordnungsrahmen« gefährdet

Epochenwechsel

Einmal im Jahr stellt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel einer umfassenden Befragung in der Bundespressekonferenz. Ihre diesjährige Botschaft lautet: »Man kann schon sagen, dass der gewohnte Ordnungsrahmen unter Druck steht«. Was meint die Kanzlerin damit?

Vor dem Hintergrund harter Auseinandersetzungen mit dem US-Präsidenten Donald Trump über den Bestand und Ausbau des Militärbündnisses NATO, der Deregulierung der Welthandelsordnung und der Gestaltung des Austritts von Großbritannien aus der EU, aber auch der abgewehrten Zerreißprobe der Unionsparteien macht die Kanzlerin deutlich, dass wir mitten in einem umfassenden Epochenwechsel stehen.

In ihrer Funktion als politische Führungskraft skizziert sie die Perspektiven: »Europa ist in einem Transformationsprozess. Es erkennt den Ernst der Lage an. Aber es ist noch nicht entschieden, ob wir den Herausforderungen schnell genug gerecht werden.«

Und sie fügt hinzu: »In dieser Phase wird sich entscheiden, ob wir wirklich aus der Geschichte gelernt haben… Deshalb sind mir bestimmte Prinzipien so wichtig, an denen sich die ganze Auseinandersetzung entwickelt hat. Machen wir einfach aus Verzweiflung darüber, dass alles so langsam geht, jetzt doch unsere eigenen Sachen? Oder fühlen wir uns dann doch, auch wenn es für uns schwierig ist, Europa verpflichtet.«

Ihre zentrale These lautet zu Recht: Europa könne sich nicht weiter darauf verlassen, dass die USA in Zukunft als Ordnungsmacht des Westens fungieren, denn das, »was wir für viele Jahrzehnte für selbstverständlich gehalten haben, ist nicht mehr so für die Zukunft gesichert.« Die Bundeskanzlerin präzisiert damit ihre Argumentation von vor einem Jahr.

Unter dem Eindruck des Desasters beim G7-Gipfel im Ferienort Taormina auf Sizilien konstatierte sie: Erstmals in der mehr als 40-jährigen Geschichte des exklusiven Clubs führender westlicher Wirtschaftsmächte konnte man sich bei einem wichtigen Thema noch nicht einmal auf einen kleinsten Nenner einigen. Der Klimaschutz dividierte die 7 in 6 plus 1 auseinander. Merkels Fazit damals: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei, das habe ich in den letzten Tagen erlebt.«

Die weitgehend friedlichen Teile der Epoche, die Wohlstandstandentwicklung für große Teile der Bevölkerung und der Ausbau – auch sozialstaatlicher – demokratischer Strukturen, die den Kontinent in den vergangenen 70 Jahren mitgeprägt haben, wären ohne das Bündnis mit Amerika und geordneten Welthandels- und Währungsbeziehungen nicht möglich gewesen. Seit Monaten arbeitet der aktuelle Präsident der Vereinigten Staaten daran, diese Nachkriegsordnung einzureißen.

Für Donald Trump ist die Europäische Union ein »Feind«. Aus der NATO könnten die USA sich zurückziehen und ihr eigenes Ding machen. Das heißt, die Beistandsgarantie des Militärbündnisses, die jeden Mitgliedsstaat verpflichtet, einem anderen im Fall eines Angriffs zu helfen, wird nicht mehr nur von links, sondern von einem relevanten Teil des amerikanischen Establishments in Frage gestellt. Die transatlantische Beziehung steht am Abgrund. Trump beschleunigt das Ende des euro-amerikanischen Bündnisses, doch er ist nicht die Ursache dafür. Das Fundament bröckelt schon lange.

In Europa unterschätzen auch große Teile der Liberalkonservativen, wie stark und wie rasch diese Erosion voranschreitet und die Parteien des linken Spektrums demonstrieren ihre analytische Inkompetenz bis hin zu der Schlussfolgerung, die Selbstzerstörung der Eurozone und der EU könnten ein erfolgreichen Ausbruchversuch in eine glorreiche Zukunft der Nationalitäten einleiten.


Politische Krise in den USA

Trump ist der zentrale Akteur der Umwälzung des Nachkriegskonsensus. Der Aufstieg und die Machtübernahme dieses Präsidenten erschließt sich nur vor dem Hintergrund einer politischen oder Hegemoniekrise. Nancy Fraser charakterisiert diese Entwicklung in ihrem Beitrag »Vom progressiven Neoliberalismus zu Trump« zu Recht wie folgt: »Der hegemoniale Block, der die US-amerikanische Politik vor Trump dominierte, war der des progressiven Neoliberalismus. Auf der einen Seite der liberale Mainstream der Neuen Sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus, Ökologie und Lesben- und Schwulenbewegung), auf der anderen Seite die dynamischsten, kulturell einflussreichsten und am stärksten finanzialisierten Sektoren der amerikanischen Wirtschaft (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood).«

Dieser Block sozialer Kräfte verfolgte das Ziel der Liberalisierung und Deregulierung der Wirtschaft. Der damit verbundenen Deindustrialisierung, dem Niedergang von Gewerkschaften und der Ausbreitung prekärer, schlecht entlohnter Arbeitsplätze wurde nichts entgegengesetzt.

Substanzielle Teile dieses Programms waren der politische Kurs von Bill Clinton und dieser Ansatz wurde von der Obama Administration fortgeführt. Barack Obama war als Hoffnungsträger einer Erneuerung des demokratischen Kapitalismus gewählt worden. Einer der wichtigsten Gründe für die nur begrenzte Erholung und Sanierung der US-Gesellschaft besteht darin, dass vor allem die untere und die mittlere Mittelklasse nur wenig Fortschritt registrierte (siehe dazu meine Flugschrift »Donald Trump – ein Präsident mit Risiko« sowie die Analyse von Jason Forman zur Geschichte der US-Mittelklasse). Daher wuchs vor allem bei diesen Wählerschichten die Bereitschaft, durch einen radikalen Wandel hin zu Trump eine Verbesserung zu erreichen.

Auch in Sachen internationaler Politik waren die Erwartungen an eine Neuordnung der Militär- und Außenhandelspolitik unter Obama hoch. In der Klima- und Energiepolitik hatten die USA deutliche Fortschritte erreicht, siehe den Beitritt zum globale Klimaabkommen von Paris. Aber auch hier blieb der Wandel eher bescheiden.

Insgesamt hatte auch diese Politik den Lebensstandard von Arbeiterinnen und Teilen der Mittelschicht unterhöhlt und den gesellschaftlichen Reichtum nach oben umverteilt – in allererster Linie sicherlich an das reichste Prozent der Bevölkerung. Yascha Mounk konstatierte in der Süddeutschen Zeitung vom 15.2.2018 zu Recht: »Die Wahl 2016 in den USA war ein Kampf zwischen einer extremistischen Politik des Wandels und einer moderaten Politik des Status quo. Und jetzt ist klar: Die extremistische Politik des Wandels kann gewinnen.«

Es ist atemraubend, mit welcher Unbekümmertheit nun Obamas Nachfolger in kürzester Zeit einreißt, was für die westliche Welt seit Jahrzehnten die Basis für politische Stabilität war. Bis heute versteht Trump nicht, dass eine multilaterale Handels- und Währungsordnung, das NATO-Militärbündnis und eine starke EU zum Fundament des amerikanischen Zeitalters gehörten.

Zugleich muss man auch zur Kenntnis nehmen, dass die die Welthandelsorganisation WTO im internationalen System ständig an Bedeutung verlor. Die aktuellen Ungleichgewichte im Handel mit den USA sind seit einem Jahrzehnt unbestritten. Jeder Ansatz zur Reform scheiterte, weil im Konsensverfahren mit 164 Mitgliedern keine Korrekturen und Reformen durchzusetzen waren. Auch die Lastenverteilung in der NATO war seit langem ein Streitpunkt.

Der aktuelle US-Präsident hat keine erkennbare Konzeption für eine internationale Handels- und Währungsordnung. Bei ihrer Gründung war diese Ordnung Teil eines umfassenden Projekts, die Kriege zur Lösung von ökonomischen Interessenkonflikten vermeiden half. Wenn die USA nicht zurückstecken, wird durch die Eskalation des Handelskrieges zum einen die globale Konjunktur tangiert und die rezessiven Effekte neben den Strafzöllen auch den Großteil der anderen Länder betreffen. Die Entwicklung einer stabilen Wirtschaftsordnung unter Einschluss von China und Russland, steht weiterhin auf der weltpolitischen Tagesordnung, rückt mit der Politik Trumps aber in weite Ferne. Mit der Zerstörung der Nachkriegsordnung geht zugleich die Grundlage für eine internationale Friedensordnung endgültig in die Brüche.

Hier verortet Angela Merkel die Gefahren des Epochenbruchs: Die USA sind dabei, den multilateralen Charakter der liberalen Weltordnung umfassend aufzukündigen, um ihre eigenen wirtschaftlichen und unilateralen Interessen durch Sanktionen und Zolltarife zu verteidigen, ohne dabei auf Deutschland, Großbritannien oder Frankreich – ihre nächsten und ältesten Verbündeten – Rücksicht zu nehmen.

Gegenüber dieser Tendenz müssten die europäischen Staaten eine historische Entscheidung treffen: Handeln oder sich unterwerfen; gemeinsam ihre wirtschaftlichen Interessen vertreten oder getrennt verhandeln, mit der Sicherheit geschwächt zu werden; eine gerechtere und wirksamere Wirtschaftsordnung schaffen, die auf multilateraler Regulierung aufbaut, oder sich zwischen China und den USA zermahlen lassen.

Die Eliten in Europa nehmen diese Entwicklung bislang zu wenig ernst. Auch die Bundeskanzlerin will an der Beziehung zu den USA festhalten. Man verlässt sich immer noch darauf, dass die Amerikaner schon wüssten, was sie an der Beziehung zu ihrem Mutterkontinent hätten – ganz im Sinn des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der einst sagte, dass sich die Vereinigten Staaten gar nicht von Europa abwenden könnten, ohne ihre Identität zu gefährden.

Schmidt These lautete: »Ein Amerika, das sich von Europa löste, würde aufhören, die Nation Jeffersons und Lincolns, Roosevelts, Eisenhowers und Kennedys zu sein.« Bis heute spielt die Sehnsucht nach den Zeiten eine starke Rolle, in denen Amerika der Angelpunkt der gesamten Weltordnung war. Das große transatlantische Bündnis – so die heute von den politischen Eliten gehegte Illusion – könne nach Trump wiederbelebt werden.

Zurück