27. Juli 2022 Joachim Bischoff: Der türkische Präsident will 2023 Wahlen gewinnen

Erdoğan als wendiger Politiker

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist auf der politischen Weltbühne präsent: Er konferiert mit dem russischen Präsidenten Putin, vermittelt den wichtigen Weizen-Deal, erzwingt Bedingungen bei der NATO-Erweiterung. Von Seiten der EU, der Ukraine und Russlands wird die türkische Balance-Politik im Krieg und das Bekenntnis zur völkerrechtskonformen Regelung des Bosporus-Schiffsverkehrs gelobt.

Im Rahmen der NATO-Beitrittsverhandlungen Schwedens und Finnlands rang Erdoğan den Skandinaviern für ihn wichtige Zugeständnisse ab und konnte nebenbei prestigeträchtige Bilder mit US-Präsident Joe Biden produzieren. Und zuletzt einigten sich Russland und die Ukraine unter persönlicher Vermittlung von UN-Generalsekretär Antonio Guterres in Istanbul auf die Einrichtung eines Korridors durch das schwarze Meer zur Ausfuhr des weltweit dringend benötigten ukrainischen Weizens. Guterres lobte, ebenso wie kurze Zeit später das US-amerikanische State Department, dabei ausdrücklich die konstruktive Rolle der Türkei. Mit seinem politischen Agieren punktet Erdoğan im eigenen Land, das selbst tief in einer Krise steckt.


Der Getreidedeal

Die Ukraine und Russland haben ein Abkommen über Getreidelieferungen unterzeichnet. Ein wichtiger Schritt, um die weltweite Versorgung mit Getreide sicherzustellen. Blockiertes Getreide soll wieder per Schiff aus der Ukraine ausgeführt werden können. Vermittelt hatte die Vereinbarung die Türkei. Die Afrikanische Union und viele westliche Staaten begrüßten das Abkommen. Die Unterzeichnungszeremonie fand in Istanbul statt, auch Erdoğan war vor Ort. Seit Beginn des Krieges versucht sich der Präsident in der Rolle als Vermittler einer Friedenslösung. Auch bei der Verhandlung über den Getreide-Deal war er offenbar maßgeblich beteiligt.

In Istanbul ist zeitgleich auch ein Abkommen zwischen Russland und der UNO unterzeichnet worden, das sicherstellen soll, dass die russischen Getreide-Exporte durch das Schwarze Meer ungestört laufen. In diesem Abkommen geht es also um die Aufhebung der westlichen Sanktionen gegen russische Weizen- und Düngemittelausfuhren.

In wochenlangen zähen Verhandlungen agierten sowohl die Türkei, als auch die UNO als Vermittler zwischen den Kriegsparteien. Auch bei der Unterzeichnung waren Vertreter des Landes und der Organisation dabei. Erdoğan begleitete die Unterzeichnung mit Selbstlob: »Mit dem in den kommenden Tagen startenden Schiffsverkehr öffnen wir einen neuen Atemweg vom Schwarzen Meer in viele Länder der Welt«, es sei ein »historischer Tag«, der »den Weg zum Frieden wieder freimachen« werde. Die UN allerdings rechnen damit, dass die Umsetzung des Abkommens noch einige Wochen dauern wird.

Keine Frage: Diese Operation bedeutet eine Aufwertung sowohl der Türkei als auch ihres autoritären Staatspräsidenten. Auch bei der NATO-Erweiterung konnte die Türkei mit ihrer Sonderrolle auf internationalem Terrain eine politische Aufwertung durchsetzen. Nicht nur versichern die Schweden und Finnen, mit Entschiedenheit gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren Unterstützer vorzugehen. Sie versprechen auch, den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien und der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, die Ankara für den gescheiterten Putsch von Juli 2016 verantwortlich macht, keine Unterstützung zu gewähren. Beide Staaten verweisen in diesem Zusammenhang auf neue schärfere Anti-Terror-Gesetze und sagten zu, auch Waffenexporten an das NATO-Land Türkei künftig im Sinne der Solidarität zwischen Bündnispartnern zu handeln.

Damit sind die wichtigsten Forderungen des türkischen Präsidenten Erdoğan erfüllt. Wiederholt hatte er zuvor gegen die Unterstützung der Skandinavier für »Terroristen« gewettert. Dass er nun Genugtuung erhalten hat, wird er zu Hause als wichtigen politischen Erfolg verkaufen können.


Es ging es nie um Schweden und Finnland

Allerdings ist es fraglich, ob es Erdoğan und der türkischen Rechten wirklich primär um deren Haltung zur PKK und zu anderen missliebigen Gruppen ging. Ob Schweden künftig härter gegen PKK-nahe Vereine vorgeht oder Finnland eine Handvoll Oppositionelle ausweist, ist für den Kurdenkonflikt nicht entscheidend. Allein wegen dieser Fragen dürfte Erdoğan kaum riskiert haben, mitten im Krieg mit Russland einen Streit mit der NATO vom Zaun zu brechen und damit den Unmut der Verbündeten zu provozieren.

In Wahrheit dürfte es ihm darum gegangen sein, von den USA Zugeständnisse in zwei ungleich wichtigeren Punkten zu erpressen. Dabei geht es um die seit Monaten geforderte Lieferung von neuen F-16-Kampfjets und um grünes Licht für eine neue Offensive gegen die YPG in Nordsyrien, die Ankara seit Wochen vorbereitet. Der türkische Präsident hat ein seit langem gewünschtes Gespräch mit US-Präsident Biden durchgesetzt. Ob dieser ihm dabei auch entgegengekommen ist, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen.

Erdoğan nutzt all dies für seine innenpolitische Stärkung. Die nächsten Wahlen sind für das Jahr 2023 angesetzt, doch viele im Land fragen sich derzeit, ob die Regierung sich bis dahin noch im Sattel halten kann. Gleichzeitig fürchten viele Oppositionelle, dass das autoritäre Regime erneut zu repressiven Mitteln greift, um an der Macht zu bleiben. In der türkischen Zivilgesellschaft ist die Erinnerungen an die Wahlen im Juni 2015 präsent, als die AKP zum ersten Mal die alleinige Regierungsmehrheit verlor. In den Monaten darauf kündigte die Regierung ihren Friedensprozess mit der PKK.


Kaufkraftverluste der Bevölkerung sollen überspielt werden

Derzeit sieht es für Erdoğan und seine regierende AKP vor allem aus wirtschaftlichen Gründen schlecht in der populistischen Präsenz aus. Die Inflation in der Türkei hat im Juni 78,62% erreicht – der höchste Preisanstieg seit 1998, als die Verbraucherpreise um 80,4% stiegen. Die Energiekosten verteuerten sich in diesem Juni gegenüber dem Vorjahr um 151%, die Preise im Bereich Verkehr stiegen um 123,4%. Für Lebensmittel und Getränke mussten die Menschen gegenüber dem Juni 2021 fast 94% mehr bezahlen. Von einer dynamischen Entwicklung kann unter diesen Umständen auch keine Rede sein.

Ein Abflauen der Entwertung der türkischen Lira und des Kaufkraftverlustes ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für dieses Jahr der Türkei eine der weltweit höchsten Inflationsraten nach Venezuela, Sudan und Zimbabwe.

Erdoğan bemüht sich, diese ökonomischen Widersprüche mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen möglichst politisch zu überspielen. Zwar hatte seine Regierung bereits im Januar den Mindestlohn um 50,5%, auf den ca. 40% der Beschäftigen angewiesen sind, angehoben. Dieser Tage verkündete der Präsident eine weitere Erhöhung um 30%. Nach der jüngsten Erhöhung beträgt der Netto-Mindestlohn 5.500 Lira, umgerechnet 313 Euro. Der beschlossene Nachschlag wird durch die beschleunigte Geldentwertung bald wieder aufgezehrt sein, der Rückgang der Kaufkraft drückt immer mehr soziale Schichten unter und an die Armutsgrenze. Über die Runden kommen viele Türk*innen nurmehr durch die Erhöhung ihrer Privatverschuldung. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Metropoll sagten aktuell 69% der Befragten, sie glaubten den offiziell benannten Inflationszahlen nicht, nur 24% halten sie für korrekt.

Ein wesentlicher Faktor für die dynamische Entwicklung der Warenpreise und des Kaufkraftverlustes ist die Abwertung der türkischen Währung. Der türkische Präsident setzt auf niedrige Zinsen, um die Konjunktur anzukurbeln – entgegen der internationalen Praxis und des wissenschaftlichen Sachverstandes. Und auch das Anheben der Mindestlöhne ist letztlich nur eine wenig wirksame Kompensation zur Stabilisierung der Lebenshaltungskosten für die Mehrheit der Bevölkerung.

Die Niedrigzinspolitik – so Erdoğan – soll ausländische Investitionen und Touristen ins Land locken, um die wirtschaftliche Leistung anzukurbeln. Dabei verfolgt der Präsident die Vision, die Türkei in die Riege der zehn größten Wirtschaftsnationen zu führen. Die Zentralbank folgt nach massiven Interventionen seiner autoritären Politik. Seit 2019 hat er drei Mal den Chef der Zentralbank ausgetauscht. Auch der Vorsitzende des Statistikamtes TÜIK, das die Inflationsrate berechnet, wurde Anfang des Jahres ersetzt. Selbst unter den Anhängern der AKP trauen 46% den offiziellen Daten nicht mehr.

Mit steigenden Preisen fallen die Zustimmungswerte für die AKP. In einer Erhebung von Ende Juni kommt die Partei nur noch auf 32,1%, gegenüber 42,6% bei der Wahl von 2018. Der Präsident und die AKP-dominierte Regierung versucht mit verschiedenen Maßnahmen dieser Abwärtstendenz entgegenzusteuern. Die Tendenz der Abwendung von der AKP ist eindeutig, wenngleich diese politische Formation immer noch zu den bestimmenden politischen Kräften der Türkei gehört.

In jüngsten Umfragen schrumpft der Abstand zwischen der AKP zur CHP weiter. Und das Oppositionsbündnis der CHP mit mehreren anderen Parteien überflügelt die Allianz aus AKP und der rechtsnationalistischen MHP bereits in einigen Umfragen. Die türkische Gesellschaft ist sehr fragmentiert und politisch polarisiert, es gibt große Unterschiede bei Identitäten und Lebenswirklichkeiten der Bürger*innen. Bereits jetzt leben 3,5 Millionen Menschen in der Türkei, die aus Syrien oder dem Irak geflohen sind.


Die Opposition droht ihre Dynamik zu verspielen

Das spiegelt sich auch im Wahlverhalten wider. Trotz unterschiedlicher Einkommensverhältnisse wählen die meisten konservativen und religiösen Bürger sowie einige Nationalisten die AKP und die mit ihr verbündete MHP. Säkular orientierte Bürger mit modernen Lebensentwürfen unterstützen hingegen die von der CHP angeführte Opposition. Allerdings ist das Oppositionsbündnis nicht geschlossen. Es hat sich bisher nicht auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen können und schafft es auch nicht, die sowohl bei der kurdischen Wählerschaft als auch bei linksliberalen Städtern populäre Kurden-Partei HDP in ihr Bündnis zu integrieren. Man will sich entscheiden, sobald ein Wahltermin bekannt gegeben wird. Doch dann könnte die Opposition mit ihrem Wahlkampf bereits zu spät kommen – und sie hätte ihre Dynamik verspielt.

Es ist in dem repressiven politischen Klima nicht einfach, dem autoritären Präsidenten mit seinem Einfluss in der Gesellschaft und seiner Mediendominanz eine politische Alternative gegenüberzustellen. Erdoğan darf unter anderem zwölf der 15 Verfassungsrichter ernennen. Er ist oberster Befehlshaber der Streitkräfte. Er bestimmt die Minister und ist Vorsitzender der islamisch-konservativen Entwicklungs- und Fortschrittspartei (AKP). Und das Parlament ist zu einem Akklamationsgremium degradiert worden. Es gibt kein einziges Korrektiv, wie man es aus den anderen kapitalistischen Gesellschaften kennt.

Der Krieg in der Ukraine und die Auftritte auf der internationalen Bühne lassen derweil die Zustimmungswerte von Präsident Erdoğan wieder steigen, die zuvor stetig gesunken waren. Die Öffentlichkeit glaubt, dass die diplomatischen Bemühungen ihres Präsidenten um Frieden und Stabilität in der Region in diesen turbulenten Zeiten wertvoll sind.

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