30. Oktober 2017 Otto König /Richard Detje: Türkei – mit »politischen Prozessen« die Stimmen der Wahrheit zum Schweigen bringen

Erdoğans Geiseln

Foto: 2Curious | Wikimedia Commons (CC BY 2.0)

Die Freilassung des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner, seines schwedischen Kollegen Ali Gharavi Peter sowie acht weiterer Angeklagter, darunter die Türkei-Direktorin von Amnesty International, Idil Eser, ist ein diplomatischer Erfolg. Sie ist zugleich ein weiterer Beleg für Erdoğans Unrechtsregime.

Er allein besitzt die Autorität, der Staatsanwaltschaft eine entsprechende Anweisung zu erteilen – welchen Deal er dabei machte, ist ungewiss. Gleichwohl: Der Prozess geht trotz der Freilassungen weiter. Am 5. Juli waren die Angeklagten während eines Menschenrechtsseminars auf der Prinzeninsel Büyükada im Marmarameer, unter dem Vorwurf, einen Umsturz geplant zu haben, festgenommen worden. Es ist nicht zuletzt der Mobilisierung der internationalen Öffentlichkeit durch Amnesty International zu verdanken, dass die türkischen Stellen in diesem Fall beigaben.

Doch das ist bisher leider die Ausnahme, wie der Prozess gegen Mescale Tolu [1] zeigt. Seit fünfeinhalb Monaten sitzt die deutsche Journalistin in Untersuchungshaft. »Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch«, bekräftigte sie am ersten Prozesstag. Sie habe »keine Verbindungen zu illegalen Organisationen«. Ihre eigene und die Inhaftierung der anderen Journalist_innen sei Teil eines generellen Angriffs auf die Pressefreiheit in der Türkei.

Tolu und weiteren 17 Angeklagten wirft die Staatsanwaltschaft Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP) vor. Der Journalistin wird die Teilnahme an Gedenkveranstaltungen für kurdische Kämpferinnen, die im Krieg gegen den IS gefallen sind, und der Besitz von Propagandamaterial – eine Zeitschrift, die, so Mescale Tolu, »in jeder Buchhandlung« verkauft werde – zur Last gelegt.

Die »Terrorbeweise«, die sich vor allem auf eine anonyme Aussage stützen, bewerten Prozessbeobachter als nicht belastbar. Für Tolus Anwältin, Kader Tonç, handelt es sich um einen weiteren Beleg dafür, dass derzeit in der Türkei zuerst die Personen, die »inhaftiert werden sollen, ausgewählt und eingesperrt werden« und sich die Justiz dann daranmacht, »irgendwelche angeblichen Beweise nachzuliefern«. Von einem rechtsstaatlichen Verfahren kann in diesem wie in allen anderen Fällen keine Rede sein. Es handelt sich um politische Prozesse. Mit konstruierten Anklagen sollen linke Einstellungen und Aktivitäten kriminalisiert und jene, die die Wahrheit aussprechen, zum Schweigen gebracht werden.

Mescale Tolu arbeitete zuletzt für die linke Nachrichtenagentur ETHA, die über Themen wie Minderheitenrechte, die Unterdrückung der Kurden durch den türkischen Staat und Korruption im Staatsapparat berichtet. Seit geraumer Zeit blockieren Zensoren die Website der Nachrichtenagentur, doch verboten wurde diese bisher nicht. Wie der inhaftierte Welt-Korrespondent Deniz Yücel traf sie sich im Rahmen ihrer journalistischen Arbeit auch mit Exponenten oppositioneller und kurdischer Gruppierungen.

Offen über die Geschichte, die Konflikte und den Kampf der Kurden zu schreiben reicht aus, um von Erdoğans Vasallen unter Terrorverdacht gestellt und kriminalisiert zu werden. So wurde vor kurzem die Wall Street Journal-Reporterin, die finnisch-türkische Staatsbürgerin Ayla Albayrak, in Abwesenheit zu 25 Monaten Haft verurteilt, weil sie in einer Reportage aus dem kurdischen Südosten des Landes sowohl regierungsnahe Quellen als auch PKK-Anhänger zu Wort kommen ließ.

Der Richter lehnte einen Freispruch für Mescale Tolu wie ihre Freilassung für die Dauer des Prozesses mit dem Hinweis auf Fluchtgefahr ab. Die Untersuchungshaft sei nicht nur für sie, sondern auch für ihre »Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden«, sagte sie vor Gericht. Der Albtraum begann am 30. April 2017 gegen 4.30 Uhr morgens, als etwa 20 maskierte und schwer bewaffnete Polizisten ihre Istanbuler Wohnung stürmten. Das Kommando habe die Waffen auch auf den Sohn gerichtet und ihr unter Gewalteinsatz Handschellen angelegt. Den kleinen Jungen schoben sie mit der Waffe beiseite und gaben ihn kurzerhand bei der Nachbarin ab.

Tolus Vater, Ali Riza Tolu, kümmerte sich einige Tage lang um den Jungen. Da Serkan immer panischer nach seiner Mutter geschrien habe, nicht mehr schlafen konnte und zu stottern begann, brachte er ihn zu Mescale ins Gefängnis. Serkans Vater, Suat Çorlu, der sich für die Demokratische Partei der Völker (HDP) engagiert hatte, wurde wenige Wochen vor dem Verfassungsreferendum der AKP-Regierung in Untersuchungshaft genommen. Sein Prozess soll Ende November beginnen, die Vorwürfe lauten ähnlich wie die gegen seine Frau.

Seither findet das Familienleben getrennt hinter Gittern statt – für Mescale und Serkan im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakırköy. Mutter und Sohn teilen eine Gemeinschaftszelle mit 24 anderen Frauen. Will Serkan seinen Vater sehen, bringt ihn ein Verwandter ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Serkan, der eigentlich in den Kindergarten gehen müsste, teilt seit fünf Monaten mit ihr das Gefängnis.

Der politische Prozess gegen Mescale Tolu ist einer von hunderten Fällen von Justizwillkür, geführt von Richtern und Staatsanwälten in einem Klima der Angst, eine Folge der radikalen Säuberungswellen im Justizapparat nach dem gescheiterten Militärputsch. Die unter dem Deckmantel des »Rechts« inszenierten Gerichtsverfahren gegen »vermeintliche« Putschisten und ihre Unterstützer in der Gülen-Bewegung, führt auch in den Justizbehörden zu einem vorauseilenden Gehorsam. Dazu gehört, dass die Justiz selbst im Ausland demokratische Kräfte gezielt bespitzeln oder wie den Kölner Autor Dogan Akhanli unter Missbrauch der sogenannten »Red Notice« durch die internationale Polizeiorganisation Interpol in Spanien verhaften ließ, mit dem Ziel, ihn an die Türkei auszuliefern.

Laut diplomatischen Quellen wurden mindestens zehn deutsche Bundesbürger_innen, unter ihnen Deniz Yücel inhaftiert. Obwohl gegen den Journalisten, der neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, nach mehr als 250 Tagen Haft noch immer keine Anklageschrift vorliegt, verurteilte ihn Staatspräsident Recep Tayyip schon nach der Verhaftung öffentlich, ein Terrorist und deutscher Spion zu sein, ohne dafür Belege zu präsentieren.

Der ins Berliner Exil geflüchtete Cumhuriyet-Journalist Can Dündar kommentierte diese Vorgänge mit den Worten, »Tolu und die anderen inhaftierten Journalisten und Menschenrechtler sind nur ihrer Arbeit nachgegangen«. Erdogan halte sie als Geiseln, »wahrscheinlich, um Stärke zu demonstrieren, oder aber, um sie für einen möglichen Austausch einzusetzen«.

Tatsächlich setzen Recep Tayyip Erdogan und die AKP-Regierung spätestens seit Beginn des Jahres 2017 auf Geiselnahmen als politisches Druckmittel in dem eskalierenden Streit mit der Europäischen Union und insbesondere mit Deutschland. Immer wieder beschwert sich der Autokrat im »Tausend-Zimmer-Palast« in Ankara darüber, dass Deutschland zu wenig gegen türkischstämmige »Terrorverdächtige« unternehme. Die Türkei hätte den deutschen Bundesbehörden inzwischen 4.500 Akten bezüglich der PKK übergeben, doch »keine einzige Rückmeldung bekommen«, klagte er die Bundesregierung an. Das Bundesjustizministerium bestätigte in der Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der LINKEN, dass die Türkei die Auslieferung von 81 mutmaßlichen Straftätern, die der Gülen-Bewegung angehören sollen und als Mittäter beim gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 verdächtigt werden, verlangt habe.

Dagegen tönt es aus Berlin immer wieder: Man müsse Erdogan »klare Kante« zeigen. Der politische Druck müsse erhöht werden, um die Journalisten und Menschenrechtler freizubekommen. Doch was nützen ausgewogen formulierte Forderungen den Inhaftierten, wenn beispielsweise gleichzeitig die deutsch-türkischen Rüstungsgeschäfte, zwar eingeschränkt, fortgeführt werden. Als ob man den Despoten am Bosporus mit Symbolpolitik beeindrucken könnte.

Es ist nicht so, dass Erdogan unangreifbar wäre. Seine Achillesferse ist eindeutig die ökonomische Entwicklung der Türkei. Als die Bunderegierung unlängst mit einem Ende der Hermes-Bürgschaften für die Investitionen deutscher Unternehmen in der Türkei drohte und daraufhin daran arbeitete, auch Kreditflüsse der Europäischen Investitionsbank sowie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung auszutrocknen, führte dies – notdürftig kaschiert – zu sofortigen Lockerungssignalen Ankaras. Wirtschaftlicher Druck ist der wirkungsvollste Hebel.

In den Rechtsbeziehungen zur Türkei muss klargestellt werden, dass es in Übereinstimmung mit der Europäischen Menschenrechtskonvention weder Abschiebung noch Auslieferungen in das Land geben kann, solange rechtsstaatliche Verfahren dort nicht gewährleistet sind. Die Türkei muss als das klassifiziert und behandelt werden, was sie derzeit ist: ein autokratischer Staat, in dem Journalisten und Schriftsteller um den Preis ihres Lebens für Meinungs- und Pressefreiheit kämpfen. »Ihrem Einsatz ist es zu verdanken, dass es allen Repressionen zum Trotz nicht gelingt, die Stimme der Wahrheit zum Schweigen zu bringen«, ließ der seit zehn Monaten in Silivri inhaftierte Cumhuriyet-Korrespondent Ahmet Sik [2] in Frankfurt als Botschaft verlesen, als ihm auf der Buchmesse der »Raif Badawi Award for courageous journalists« verliehen wurde.



[1] Meşale Tolu wurde 1984 in Ulm geboren, wo sie auch aufwuchs. 2007 gab sie ihre türkische zugunsten der deutschen Staatsangehörigkeit ab. Nachdem sie ihr Studium (Lehramt Ethik und Spanisch) in Frankfurt am Main abgeschlossen hatte, pendelt sie zwischen Ulm und Istanbul, wo sie als »Journalistin und Übersetzerin« arbeitet, zunächst bei Özgür Radyo. Nachdem der Radiosender nach dem »gescheiterten« Militärputsch vom 16. Juli 2016 geschlossen wurde, setzte sie ihre Arbeit bei der Nachrichtenagentur ETHA fort. Wie ihr Mann Suat Corlu gehört sie der »Sozialistischen Partei der Unterdrückten« (ESP) an, die die HDP unterstützt.
[2] Vgl. Otto König/Richard Detje: Cumhuriyet – Schau-Prozess gegen regierungskritische Journalisten. »Journalismus ist kein Verbrechen«, Sozialismus aktuell.de 27.7.2017; www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/journalismus-ist-kein-verbrechen/.

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