26. Juni 2019 Otto König/Richard Detje: Der zweite Sieg der Opposition in Istanbul

Erdoğans Machtsystem wankt

Nach bedrückenden Jahren des Ausnahmezustands und anhaltender Repression konnte am Abend des 23. Juni gefeiert werden. Der erneute Wahlsieg des Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu zeigt eindrucksvoll, dass die türkische Zivilgesellschaft der Bevormundung durch den Autokraten Recep Tayyip Erdoğan überdrüssig ist.

54,3% der zehn Millionen Wähler in der Metropole am Bosporus haben für den Kandidaten der säkularen kemalistischen Volkspartei CHP gestimmt, 45,09% für den Ex-Ministerpräsidenten Binali Yildirim von der AKP. Nahezu alle größeren Städte der Türkei, einschließlich Ankara, werden nach einer Reihe von kommunalen Wahlsiegen nunmehr von der Opposition regiert. Ausnahme sind die kurdischen Großstädte im Osten der Türkei, deren Bürgermeister geschasst und durch AKP-treue Statthalter ersetzt wurden.

İmamoğlu ist der Kandidat eines breiten Oppositionsbündnisses, das erfolgreich werden konnte, weil die CHP geeint antrat, weil es von der prokurdischen Linkspartei HDP unterstützt wurde, und weil die Iyi-Partei dazu beigetragen hat, das Lager der Nationalkonservativen zu spalten. Gewonnen hatte die Opposition bereits am 31. März, wenn auch nur mit einem hauchdünnen Vorsprung von 13.000 Stimmen.

Doch İmamoğlus erste Amtszeit als Oberbürgermeister währte nur 18 Tage. Erdoğans AKP klagte über »Diebstahl an den Urnen« und legte Beschwerde ein. Daraufhin ordnete die Wahlbehörde YSK unter einem fadenscheinigen Vorwand die Wiederholung der Wahl an. Jetzt beträgt der Vorsprung der zur Mehrheit gewordenen Opposition rund 806.426 Stimmen.

Viele Wähler*innen sahen sich durch die Wahlannullierung um ihr demokratisches Grundrecht betrogen und strömten erneut massenhaft in die Wahllokale. Rund 10,8 Millionen Bewohner sind in Istanbul wahlberechtigt, 84,4% machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Obwohl bereits vor zehn Tagen in der Türkei die Sommerferien begonnen hatten, unterbrachen hunderttausende ihren Urlaub und kehrten in die Stadt am Nordufer Marmarameeres zurück, um »die Demokratie zu verteidigen«.

Istanbul ist der zentrale Ort im Machtsystem der AKP. Rund 16 Millionen Menschen leben dort – ein Fünftel der Bevölkerung der Türkei. Istanbul ist das Zentrum der türkischen Wirtschaft: 40% aller Steuereinnahmen werden dort gezahlt, 28% des türkischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) wird in Istanbul erarbeitet – nimmt man die umliegende Marmara-Region hinzu, liegt der Anteil des BIP zwischen 40 und 50%.

Der Haushalt der Metropole beläuft sich auf umgerechnet sechs Milliarden Euro. AKP-Politiker bauten in der Vergangenheit ein Netz aus Korruption auf, flechteten enge Abhängigkeiten zwischen Politik und Wirtschaft, insbesondere der Bauwirtschaft. Symbolisiert durch die mega-osmanischen Bauprojekte Erdoğans – die dritte Bosporusbrücke, ein U-Bahn-Tunnel von Europa nach Asien, die größte Moschee des Landes und der größte Flughafen der Welt.

Erdoğan, der seit 2002 insgesamt 14 Wahlen gewonnen hatte, hat jetzt nicht nur die wichtigste Stadt der Türkei verloren, sondern auch den Mythos des Unbesiegbaren. Obwohl der Präsident in einem autokratischen Herrschaftssystem sowohl die Regierung, das Parlament, die Justiz und auch die Presse kontrolliert, musste er sich schließlich geschlagen geben.

Es gibt mindestens drei gewichtige Gründe für den Sieg der Opposition:

Erstens verfügen die Erdoğan-Gegner mit dem 49-jährigen Ekrem İmamoğlu zum ersten Mal seit langen Jahren über eine glaubwürdige Führungsfigur. Selbst AKP-Stammwähler scheinen zu ihm übergelaufen sein, dafür spricht sein riesiger Stimmenvorsprung. Und die kurdische Bevölkerung Istanbuls, von der es heißt, dass sie zahlreicher sei als die Einwohner der kurdischen Metropole Diyarbakir, ließ sich durch AKP-Spaltungsversuche nicht irritieren – das inoffizielle Bündnis mit der HDP hielt.

So wurde ein Brief des inhaftierten PKK-Chefs, Abdullah Öcalan, über einen Mittelsmann bewusst an Öcalans Anwälten vorbei an die Öffentlichkeit gespielt, in dem dieser angeblich die Wähler der HDP zur Neutralität aufrief. Wenige Tage zuvor hatte sich Selahattin Demirtas, der im Gefängnis sitzende ehemalige Co-Vorsitzende der HDP gemeldet: »Es gibt nur eine Option für Frieden und Freiheit« und die besteht darin, İmamoğlu zu unterstützen.

»Gerade die kurdischen Wähler sind sehr erfahren, sehr politisch. Sie haben einen ziemlich guten Blick dafür, wer was wirklich will«, erklärte Mithat Sancar (HDP), Vizepräsident des türkischen Parlaments. »Öcalans Brief bezog sich gar nicht auf die Wahl, sondern auf die Zeit danach. Auf die Demokratisierung der Türkei. Dafür brauchen wir eine neue Verfassung und dafür brauchen wir eine Politik, die die ganze Gesellschaft mit einbezieht – nicht das alte Denken in Bündnissen und Gegenbündnissen. Das ist der Dritte Weg. Und diese Botschaft ist auch in Istanbul angekommen.« (Die Welt vom 24.6.2019)

Zweitens betonte İmamoğlu in seinem Wahlkampf das Miteinander der Menschen und setzte diese Botschaft erfolgreich gegen Erdoğans Taktik der Polarisierung. Während die AKP jedes Mittel nutzte, um verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, präsentierte sich İmamoğlu als einer, der Gräben zuschüttet. Sein Wahlslogan »Herşey çok güzel olacak« (»Alles wird sehr schön«) hat das Oppositionsbündnis trotz aller Lügen- und Hetzkampagnen zusammengehalten und ihm die Perspektive einer besseren Zukunft gewiesen – jenseits von »Tayyipistan«.

Drittens läuft die türkische Wirtschaft so schlecht, dass die AKP ihren wichtigsten Trumpf – das Wohlstandsversprechen – nicht ziehen konnte. Laut Eurostat müssen inzwischen 23 Millionen Menschen regelmäßig Entbehrungen erleiden, mehr als ein Viertel der Bevölkerung gilt als verarmt. Ein Euro ist aktuell mehr als 6,50 Lira wert – die türkische Währung Lira hat seit der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr 25-30% an Wert verloren.

Dieser Kursverfall hat die Importpreise nach oben katapultiert, die Inflation liegt nach offiziellen Angaben bei 19% – trotz teilweise drakonischer Preiskontrollen. Insbesondere Lebensmittel haben sich verteuert. Die Arbeitslosigkeit hat mit 14,7% ein Zehnjahreshoch erreich – die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 26,7% nahezu doppelt so hoch. Und Besserung ist nicht in Sicht: Die türkische Wirtschaft steckt seit letztem Jahr in der Rezession. Private Investitionen sind rückläufig, die Zahl der Insolvenzen ist hingegen gestiegen. Die kurz- und mittelfristigen Devisenschulden lagen Ende 2018 bei 328 Mrd. Dollar – ein wachsender Teil davon ist notleidend.

Angesichts dieser elementaren Probleme setzte İmamoğlu, seit 2014 Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Beylikdüzü, ganz auf soziale Themen: Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderbetreuung standen im Mittelpunkt seines Wahlkampfs. Statt weiterer Großprojekte hat er Kitas und freie Milch für bedürftige Familien versprochen. Gleichzeitig thematisierte er die Verschwendung und Korruption der AKP-Stadtverwaltung sowie die Plünderung der Steuerkassen zugunsten religiöser Stiftungen.

Statt sich um diese drängenden Probleme zu kümmern, führte Erdoğan mit seiner gleichgeschalteten Justiz Krieg gegen die CHP, die die Istanbuler Vorsitzende Canan Kaftancioglu mitten im Wahlkampf vor Gericht zerrte. Es waren die altbekannten Vorwürfe, mit denen schon weit mehr als Hunderttausend Oppositionelle kaltgestellt wurden: Terrorpropaganda, Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung.

Nach dem farblosen Auftritt von Binali Yildirim im TV-Duell hatte Erdoğan in bekannter Demagogen-Manier wieder die Wortführerschaft übernommen. Es wurden alle Register gezogen, um den Oppositionskandidaten zu diskreditieren. İmamoğlu stammt aus Trabzon am Schwarzen Meer, von wo nach dem Ersten Weltkrieg Hunderttausende ethnische Griechen vertrieben wurden. Systematisch schürte die AKP nun das Gerücht, wonach İmamoğlu ein »Krypto-Grieche« und verkappter Christ sei, also ein Ungläubiger und Feind der Türken.

Die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul hatte auch als Test gegolten, ob die AKP-Regierung abweichende Wahlergebnisse überhaupt noch anerkennen würde. Bis wenige Tage vor der Wahl hatte Erdoğan verkündet, er werde İmamoğlu daran hindern, seiner Arbeit nachzugehen und ihn nicht als Bürgermeister dulden. Doch nachdem das Ergebnis so eindeutig ausgefallen ist, konnte selbst der Präsident nicht mehr daran rütteln.

»Nach dem Wandel in Istanbul werden wir einen Wandel in der türkischen Politik sehen«, erklärte Can Dündar. İmamoğlus Wahlsieg zeigt, dass Erdoğans Zenit überschritten ist. Allerdings mit ungewissem Ausgang. Das zeigt sich beim Blick auf die politischen Mehrheiten im Land. Die AKP hat zwar in den Kommunen und Großstädten Stimmen eingebüßt und viele Bürgermeisterposten an die Opposition verloren, doch in den Stadträten hat sie immer noch die Mehrheit – so auch in Istanbul.

Der von der AKP-dominierte Stadtrat wird İmamoğlu das Regieren der Megametropole nicht leicht machen, er kann die Entscheidungen des Bürgermeisters anfechten und so die Kommunalpolitik lähmen. Die AKP-Regierung in Ankara kann durch die Einstellung staatlicher Zahlungen für Istanbul ebenfalls versuchen, den Bürgermeister kaltzustellen. So könne sich die Stimmung rasch gegen den »Neuen« wenden, lautet die Grundüberlegung in Erdoğans »Plan B«, wie Soner Cagaptay, Türkei-Experte beim Washingtoner Institut für Nahost-Politik, kürzlich schrieb (Der Tagesspiegel vom 23.6.2019).

Die Opposition ist stärker geworden. Aber sie ist noch nicht mächtig genug, um Erdoğan und der AKP endgültig die Stirn zu bieten. Die autokratische Präsidial-Verfassung stattet Erdoğan mit fast grenzenlosen Befugnissen aus. Wie er die nutzt, zeigt der Prozess gegen 15 Vertreter der Zivilgesellschaft, die im Gefängnis Silivri am westlichen Rand Istanbuls einsitzen. Die Anklage lautet, wie immer in diesen Fällen: Terrorismus, Beteiligung an Maßnahmen zum Sturz der Regierung, Putschvorbereitung.

All das ist konstruiert, an den Haaren herbeigezogen, nicht belegt, schlicht absurd. Was sie getan hatten: Sie hatten sich an den Gezi-Protesten vor sechs Jahren beteiligt, in Ausübung ihres demokratischen Mandats. Doch noch ist die Demokratie suspendiert in der Türkei – zumindest bis zur nächsten Präsidentschaftswahl in der Türkei. Die findet 2023 statt, im Jahr des hundertjährigen Republikjubiläums.

Erdoğan wankt. Wie sehr, hängt auch von der künftigen Strategie der Opposition ab. Fakt ist: Die CHP wird ohne ein klares Programm und glaubwürdige Ideen mittelfristig nicht erfolgreich sein, vor allem dann nicht, wenn sie wieder auf Spaltung setzt. Die Kemalisten haben nur eine Chance: Sie müssen der HDP die Hand reichen, auf die Freilassung von Selahattin Demirtas und der weiteren inhaftierten Parteimitglieder drängen und mit ihnen kooperieren; in diesem Prozess ist auch noch die Iyi Parti zu integrieren.

Dann wäre stimmig, was İmamoğlu seinen Wähler*innen zugerufen hat: »Nicht eine einzelne Partei, sondern ganz Istanbul und die Türkei haben diese Wahl gewonnen«. Unser Sieg ist ein »neuer Beginn« für die Türkei.

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