31. März 2025 Harald Möller-Santner: Über den Umgang mit Menschen auf der Flucht

»… erkämpft das Menschenrecht!«

Bis zum 23. Februar wurde in den Medien der Eindruck erweckt, Deutschlands Zukunft hinge davon ab, ob die »irreguläre Migration« gestoppt werden könne. Knapp vier Wochen nach der Bundestagswahl fragt Die Linke in einem Social-Media-Post: »Ist euch schon aufgefallen, dass das Thema Migration in den Medien kaum noch eine Rolle spielt?

Während des Wahlkampfs wurde Migration als das drängendste Problem inszeniert, um von sozialen Fragen abzulenken. Jetzt? Funkstille. Das zeigt doch einmal mehr, wie rechte Narrative bewusst gepusht werden, um Ängste zu schüren – aber nur dann, wenn es politisch nützlich ist.« In der Tat verschwand mit dem Bundestagswahltag das Thema Migration zunächst von den Titelseiten, nachdem es bis dahin über viele Monate zum brennendsten Problem unserer Zeit hochstilisiert worden war, und zwar vor allem auf Kosten des Klimaschutzes, der die Medien und wahlkämpfenden Parteien kaum noch zu interessieren schien.

Nun sorgen die mutmaßlich zukünftigen Koalitionäre von Union und SPD in diesen Tagen noch einmal für ein Wiederaufflammen der Debatte, weil es Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, wie radikal die faktische Abschaffung des Asylrechts ausfallen soll. Es zeichnet sich aber ab, dass in der gegenwärtigen Phase der Verhandlungen die SPD bereit ist, weitgehend auf den Merz-Kurs einzuschwenken. Ihr wichtigstes Bedenken war dem Vernehmen nach der Plan, Schutzsuchende an den Grenzen generell zurückzuweisen, und zwar offenkundig nicht wegen menschenrechtlicher Skrupel, sondern wegen der Befürchtung, dadurch Ärger mit den Nachbarländern und EU-Gesetzen zu bekommen. Merz scheint jedoch der SPD den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen, indem er mit den Nachbarländern einen Pakt schließen will, der es jedem Land erlaubt, Asylsuchende abzuweisen – gegebenenfalls unter Berufung auf einen Notstand, wie es Polen bereits vorgemacht hat.

Bauchschmerzen bereitete der SPD ferner die Aussetzung des Familiennachzugs, weil sie sich gern als Hüterin des Familienschutzes ausgibt. Aber auch in diesem Punkt knickt sie allem Anschein nach ein. In anderen Punkten hingegen, wie der Bereitschaft zu Abschiebungen nach Syrien und der Beendigung des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan, das von der Ampel erst mit großer Verspätung und nur zu einem Bruchteil umgesetzt worden ist, war die SPD gewissermaßen schon in Vorleistung getreten. CDU und CSU ficht der Widerspruch ihres erbarmungslosen und menschenrechtsfeindlichen Umgangs mit flüchtenden Menschen zum christlichen Gebot der Nächstenliebe trotz des »C« in ihren Namen ohnehin nicht an.

Vielmehr werden die derzeit im rechtspopulistischen Fahrwasser navigierenden Unionsparteien und die konservative Presse in die ausgelegte Falle der AfD laufen und ihrerseits migrationsfeindliche Stimmungen unter Wähler*innen schüren, um der AfD das Wasser abzugraben. FDP und BSW werden versuchen, rassistische Ängste zu bedienen, um dem endgültigen Versinken in die Bedeutungslosigkeit zu entgehen. Und die mit Klingbeil weiter nach rechts gerückte SPD? Sie vermutlich wird fast jede migrationspolitische Kröte für Machtbeteiligung zahlen, obwohl sie natürlich die Risiken kennt, z.B. dass der rigorose Abschottungskurs von Merz die Bemühungen um die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland konterkarieren wird.

Am Ende wird die Koalition eine gruselige Liste von Maßnahmen zur weiteren Begrenzung der Fluchtmigration beschließen. Neben den bereits erwähnten Plänen gehören dazu: Weitere Länder werden zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt. Asylverfahren sollen in Lager außerhalb der EU verlagert werden. Im Ergebnis würde es, wenn alles umgesetzt werden kann, kaum noch reguläre Fluchtwege nach Deutschland und kein individuelles Asylrecht mehr geben. EU-Recht und der Widerstand anderer Regierungen könnten hier und da die Umsetzung erschweren oder verhindern.

Leider ist nicht einmal auszuschließen, dass Teile der Grünen ihren Anpassungskurs an die migrationsfeindliche Entwicklung beibehalten. In ihren Reihen gibt es zwar wie in der SPD deutliche Kritik an der antimuslimischen Kampagne und der Abschiebeoffensive der letzten 12 Monate. Dies wurde durch Offene Briefe in beiden Parteien deutlich, in denen im Herbst 2024 Tausende Mitglieder gegen die Asylpolitik ihrer Parteiführungen und für die Menschenrechte von Geflüchteten eintraten. Kritik an der Unterstützung der Partei für die GEAS-Verschärfung war auch ein Grund für Austritte vieler Mitglieder der Grünen Jugend. Dennoch hielten Robert Harbeck, Annalena Baerbock, Winfried Kretschmann, Cem Özdemir und andere führende Grünenpolitiker*innen an ihrer Forderung fest, die »irreguläre Migration« zu begrenzen und Geflüchtete »ohne Bleibeperspektive« abzuschieben. Es bleibt abzuwarten, ob die Grünen in der Opposition wieder mehr zu ihren Wurzeln als Menschenrechtspartei zurückfinden.

Die Themen Zuwanderung im Allgemeinen und Fluchtmigration im Besonderen, aber auch »Innere Sicherheit« haben als Wahlkampfthemen eine erstaunliche Karriere gemacht. Während sie bei der BTW 2021 noch unter »ferner liefen« rangierten (Platz 1: Soziale Sicherheit, knapp dahinter und gleichauf: Umwelt/Klima und Wirtschaft/Arbeit, dann weit abgeschlagen: Umgang mit Corona) und nur bei AfD-Wähler*innen eine nennenswerte Rolle spielten, führten »Innere Sicherheit« und »Soziale Sicherheit« in diesem Jahr die Hitliste an und »Zuwanderung« folgte gleichauf mit »Innere Sicherheit« in der öffentlichen Wahrnehmung. Weil die – wenn auch irrigerweise – v.a. mit der Zuwanderung von Asylsuchenden verknüpft wird, kann man feststellen, dass Fluchtmigration, die ja aufgrund fehlender legaler Fluchtwege praktisch nur noch »irregulär« stattfinden kann, den gesamten Wahlkampf überlagerte.

Dass für den »Aufstieg« des Themas Migration und seiner Verknüpfung mit innerer Sicherheit die mediale Hervorhebung und Instrumentalisierung von Gewalttaten durch Personen mit Migrationshintergrund eine zentrale Rolle spielte, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Entscheidend ist: Die migrationsfeindliche Kampagne, an der sich außer der Linkspartei alle Parteien mehr oder weniger beteiligten, schaffte es, dass zum Zeitpunkt der BTW Dreiviertel der Wähler*innen dafür plädierten die »irreguläre Zuwanderung« zu begrenzen, damit alle möglichen Probleme effektiv angegangen werden können. Dies ist zwar ein groteskes Zerrbild der Realität, aber das Narrativ ist in der Welt und wird auch künftige Wahlergebnisse beeinflussen.

Mittelfristig ist damit zu rechnen, dass der migrationsfeindliche Diskurs über Fluchtmigration in der Öffentlichkeit rechtzeitig vor den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wieder an Fahrt aufnehmen wird. Ob von interessierter Seite im In- und Ausland beeinflusst oder nicht – die AfD und ihr nahestehende Medien werden geeignete Ereignisse aufgreifen und nutzen, um mehr Aufmerksamkeit für ihre rassistische Hetze zu bekommen und einen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität herbei zu fabulieren.

Man kann davon ausgehen, dass sich die in Berlin verhandelnden Spitzenpolitiker*innen sich durchaus der Zwickmühle bewusst sind, in der sie sich befinden, wenn sie zwischen ökonomischen Erfordernissen und der populistischen Übernahme von AfD-Forderungen abwägen. Sie befinden sich gewissermaßen in der Lage des Zauberlehrlings. Die Geister der Abschottungs- und Abschiebungspolitik, die sie dem AfD-Druck weichend heraufbeschworen haben und nun nicht loswerden, gefährden das Ziel, die deutsche Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen, weil es ohne die Lösung des Arbeitskräftemangels kaum erreicht werden dürfte.

Der Lösung der ökonomischen Probleme Deutschlands steht eine restriktive Fluchtmigrationspolitik gleich in mehrfacher Hinsicht im Wege.

  • Erstens erschwert sie die Erschließung des Arbeitskräftepotentials geflüchteter Menschen, die ja entgegen verbreiteter Meinungen fast alle nach Deutschland kommen, um durch Arbeit ihre Lebensumstände verbessern können. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass Deutschland über das nächste Jahrzehnt eine Nettozuwanderung von 400.000 Arbeitskräften pro Jahr aus dem Ausland benötigt. Da »Arbeitskräfte« Menschen sind, die in Beziehungen bzw. Familien leben wollen, entspricht die Zahl der erwünschten Arbeitskräfte aus dem Ausland wahrscheinlich einer tatsächlichen Nettozuwanderung von einer Mio. Personen. Im Jahr 2024 betrug sie aber nur gut 400.000 Personen – 34% weniger als in 2023, was eine direkte Folge der restriktiven Flüchtlingsaufnahme war, denn v.a. aus Syrien, Afghanistan und der Türkei kamen weniger Schutzsuchende.
  • weitens führt Abschottung zu einer Verstärkung rassistischer Stimmungen in der Bevölkerung, die zwar nicht Schutzsuchende abschreckt, wohl aber von Unternehmen auch dringend benötigten Fachkräfte aus dem Ausland. Gerade gut qualifizierte Personen haben oft gute Chancen in anderen Ländern. Das DIW Berlin stellt fest: Deutschlands »vergleichsweise schlechte Willkommenskultur trägt dazu bei, dass die Verweildauer von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland in Deutschland relativ gering ist und viele nach einigen Jahren weiterziehen – zum Schaden der Unternehmen und der Wirtschaft als Ganzes.« Tatsächlich wächst gegenwärtig die Zahl bereits gut in den Arbeitsmarkt integrierter Immigrant*innen, die in ihr Herkunftsland oder in ein anderes Land mit weniger Rassismus auswandern wollen.
  • Drittens trägt die Erwerbstätigkeit Schutzsuchender in sozialversicherungspflichtigen Jobs dazu bei, die Sozialsysteme durch ihre Beiträge zu finanzieren, und, da Geflüchtete auch Verbraucher*innen sind, die Binnennachfrage zu stärken. Dass sie darüber hinaus durch Überweisungen in ihre Herkunftsländer auch signifikant Fluchtgründe vermindern können, sei hier nur am Rand erwähnt.

Die positiven Effekte einer migrationsfreundlichen Aufnahmepolitik für die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft könnten jedoch erheblich größer sein, wenn die Geflüchteten schnellstmöglich eine Arbeitserlaubnis erhalten würden, wie es in anderen europäischen Ländern üblich ist. Migrant*innen können in dem Maße besser für ihren Lebensunterhalt sorgen, auf Transferleistungen verzichten und in die Sozialkassen einzahlen, wie Ihnen schnelle und bestmögliche Förderung, Ausbildung, Kinderbetreuung und gut bezahlte Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden. Integrationsmaßnahmen kosten natürlich Geld, aber diese Kosten sind Investitionen in den Arbeitsmarkt sowie in eine postmigrantische Gesellschaft, die wir längst in Deutschland haben und für alle sozial gerecht gestalten müssen, wenn dem nationalistischen Extremismus der Nährboden entzogen werden soll.

Die aufgeführten Argumente dafür, Schutzsuchende an den deutschen Grenzen nicht zurück zu weisen, sondern willkommen zu heißen, sind freilich keine dezidiert linken Argumente. Sie werden von unabhängigen Wissenschaftler*innen aus Ökonomie und Migrationsforschung geteilt. Sie können jedoch progressiven und solidarischen Aktivist*innen helfen, den durch die migrationsfeindliche und rassistische Kampagne der letzten Jahre erzeugten Ängste vor Wohlstandsverlust und Überforderung der Gesellschaft entgegen zu treten. Auch DIW-Präsident Marcel Fratzscher bleibt nicht bei einer rein volkswirtschaftlichen Argumentation stehen, sondern warnte bereits vor den politischen Auswirkungen der Ampelpolitik im September 2024:»Die Konsequenzen des von der Bundesregierung und vielen demokratischen Parteien eingeschlagenen Weges zur Migration sind katastrophal. Die Verschiebung des öffentlichen Diskurses und der politischen Schritte vergrößert die soziale Polarisierung, sie verstärkt das Ausgrenzen und das Ausspielen verletzlicher Gruppen gegeneinander. Sie erhöht die politische Spaltung und wird AfD und BSW stärker und nicht schwächer machen – wieso demokratische Parteien wählen, wenn das Original sich letztlich durchsetzt?« Er hat Recht behalten und trotzdem droht unter Schwarz-Rot nun noch einmal eine weitere drastische Verschärfung des Abschottungs- und Abschiebekurses.

Wenn Die Linke lediglich einen humaneren Umgang mit Schutzsuchenden anmahnen und sich ansonsten auf defensive Positionen beschränken würde, die im Wesentlichen die Interessen der deutschen Gesellschaft berücksichtigt und bestenfalls eine win-win-Situation für Pass-Deutsche einerseits und für Asylbewerber*innen andererseits schafft, dann wäre das opportunistisch. Eine linke Position zur Asyl- und Migrationspolitik muss auch dann Gültigkeit behalten, wenn die Aufnahme von Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Verfolgung, Diskriminierung und Elend Zuflucht suchen, nicht mehr von Vorteil für das Zielland ist. Sie hat von der Faktizität von Migrationsbewegungen auszugehen und Vorstellungen zu entwickeln, wie die aufnehmende Gesellschaft zum Vorteil sowohl der Zuwandernden als auch der autochthonen Bevölkerung gestaltet werden kann.

Für eine linke Partei verbietet es sich, Menschen nach ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft oder nach ihrer Verwertbarkeit für die Wirtschaft einzuteilen und entsprechend zu behandeln. Eine linke, demokratisch-sozialistische Erzählung zur Migration muss die Universalität der Menschenrechte im Blick haben, zu denen auch das Recht auf Freizügigkeit und ein menschenwürdiges Leben gehören – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Pass, äußeren Merkmalen und sexueller Orientierung.

Die Regierung Merz wird allem Anschein nach nationalistischer auftreten als ihre Vorgängerin. Sie wird sich gerade im Hinblick auf die Migrationspolitik nicht davon abhalten lassen, spaltende Diskussionen in die EU hineinzutragen. Von Humanität oder gar Solidarität gegenüber Bevölkerungen außereuropäischer Länder wird ihre Migrationspolitik schon gar nicht geleitet sein. Man muss das Schlimmste befürchten, wenn Anke Rehlinger (SPD) am 28.3. angesprochen auf die strittigen Fragen in den Koalitionsverhandlungen, v.a. in der Asylpolitik, die Parole ausgibt: »Es geht jetzt nicht um Sieger oder Verlierer, sondern darum, wie man Deutschland voranbringen kann!« Sie meinte zwar mit »Sieger oder Verlierer« die Koalitionsparteien, aber als die größten Verlierer werden aus den Verhandlungen die Schutzbedürftigsten – Menschen auf der Flucht – hervorgehen. Das steht im antagonistischen Gegensatz zum Prinzip der internationalen Solidarität, das seit dem Weggang von Sarah Wagenknecht und ihrer Gefolgschaft in der Linkspartei unstrittig ist.

Für die Verschiebung des politischen Koordinatensystems in Deutschland nach rechts in den vergangenen Jahren hatte das unsägliche Narrativ der Migration als »Mutter aller Probleme« (Horst Seehofer) eine zentrale Rolle gespielt. Die AfD konnte sich darauf berufen und ihre ultra-nationalistische und rassistische (Re-) Migrationspolitik anschlussfähig an die rechte Mitte des Parteienspektrums machen und auch in der linken Mitte den Diskurs nach rechts verschieben. Unter diesen Bedingungen kann sich die AfD der Wählerschaft als die konsequenteste Kraft für die Lösung des angeblichen »Flüchtlingsproblems« präsentieren.

Fest steht – Migration nach Europa und Deutschland wird weiterhin stattfinden und sie wird auch immer wieder Herausforderungen schaffen. Ähnlich wie im Kampf gegen die Klimakrise und der unvermeidlichen sozial-ökologischen Transformation ist es die Aufgabe einer linken Partei, auf soziale Lösungen dieser Herausforderungen zu drängen. Wenn Die Linke mit anderen progressiven Kräften innerhalb und außerhalb der Parlamente den Vormarsch der AfD stoppen will, wenn sie die Machtbeteiligung oder Machtübernahme einer faschistischen Partei verhindern will, muss sie im Dialog mit Bündnispartnern eine überzeugende Gegenerzählung von einer offenen, vielfältigen, sozial gerechten postmigrantischen Gesellschaft entwickeln und mit dieser die Hegemonie in der Migrationsdebatte erobern. Dass dies möglich ist, haben die »Willkommenskultur«-Jahre in der Mitte des letzten Jahrzehnts bewiesen.

Harald Möller-Santner ist seit 2013 in verschiedenen Hamburger Bündnissen für eine menschenrechtsgeleitete Asyl- und Migrationspolitik engagiert, darunter Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen. Er ist Mitglied der Partei Die Linke.

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