6. März 2023 Jeffrey Butler/Ulrich Bochum/Stefanie Odenwald/Klaus Kohlmeyer

Erste Runde des Nachwahlpokers in Berlin

Bei der (Wiederholungs-)Wahl in Berlin erreichte die SPD berlinweit mit 18,4% ihr historisch schlechtestes Ergebnis, und entkam dabei dem dritten Platz hinter den Grünen nur durch ca. 50 Stimmen. Darüber hinaus wurde sie in den parallel stattfindenden Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen massiv abgestraft.

Die Innenstadtbezirke haben fast alle eine grüne Mehrheit, während in den Außenbezirken die CDU gewann. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass die Verluste der SPD in Berlin – wie auch die der Grünen und der Linken – durch die Wahrnehmung der Wähler*innen, die bisherige Regierungskoalition sei unfähig gewesen, die Schlüsselprobleme der Stadt zu lösen, verursacht wurden, deuten die katastrophalen Bezirksergebnisse eher auf ein ureigenes Problem der SPD in der bisherigen Regierung hin. Hier liegt der Ball eindeutig bei der Regierenden Bürgermeisterin. Franziska Giffey kann nicht mit Rot-Grün-Rot.

Kai Wegner von der CDU, den die Medien seit der Wahl mit 28,4% der abgegebenen Stimmen als »Wahlsieger« feiern, gab sich souverän als Gastgeber für die Sondierungsgespräche mit den für ihn zwei möglichen Koalitionsparteien, der SPD und den Grünen. Wenn man hinter die im Wahlkampf von der CDU projizierte Fassade eines kompetenten, pragmatisch orientierten Politikers sieht, der sich rührend um die Belange der Bevölkerung kümmern will, kommt zum Vorschein, dass die Berliner CDU unter Wegener zu den konservativsten und rückständigsten Landesverbänden dieser Partei zählt. Hat er doch offensiv die Abwahl der eher liberalen und weltoffenen Spitzenkandidatin und früheren Kulturstaatsministerin Monika Grütters betrieben.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer zu glauben, dass die CDU, egal mit welchem Koalitionspartner sie regiert, zu einer progressiven und zukunftsorientierten Politik fähig ist. Am Wahlabend wollten nur kleine Minderheiten der Wähler*innen eine schwarz-rote oder schwarz-grüne Koalition in Berlin. In Folge der sehr erfolgreichen Pressekampagne, die darauf abzielte Kai Wegner zum »natürlichen« Kandidaten für den Posten des Regierenden Bürgermeisters zu machen, sieht es auch die überwiegende Mehrheit der Berliner*innen so.

Nach ihrem niederschmetternden Abschneiden bei den Wahlen hätte man sich vorstellen können, dass die SPD-Parteispitze, also Franziska Giffey und der Fraktionsvorsitzende Rael Saleh, die politische Verantwortung für das Wahldesaster ihrer Partei übernehmen und den Weg für einen Neuanfang (in welcher Richtung auch immer) frei machen würden. Stattdessen ließen sie sich zu Verhandlungsführer*innen benennen, so als ob sie bzw. ihre Partei die Wahlen gewonnen hätten, obgleich alle drei möglichen Resultate dieser Sondierungsgespräche für sie persönlich eher unattraktiv erscheinen.

Nicht nur die bisherigen Koalitionspartner, sondern auch die progressiv gesinnten SPD-Mitlieder dürften sich hierbei düpiert fühlen. Sie werden in die schwierige Situation gebracht, nach der Entscheidung für Koalitionsverhandlungen mit der CDU und einem daraus hervorgehenden Koalitionsprogramm, sich entweder quer zu stellen oder unterzuordnen.

In den letzten Wochen versuchten die Grünen sich als anpassungsfähig und prinzipiell in alle Richtungen offen zu geben, aber sie haben keinen Hehl aus ihrer Präferenz für eine Fortsetzung der bisherigen progressiven Koalition gemacht. DIE LINKE wurde von der CDU schlichtweg ignoriert und nur in die Sondierungsgespräche mit den bisherigen Koalitionsparteien einbezogen. Sie hatte nur eine Option, um an der Regierung zu bleiben und diese ist mit der Entscheidung der SPD für Koalitionsverhandlungen mit der CDU zerstoben.

Die Ereignisse der letzten Tage und Wochen zeigen ganz klar die Spaltung in der Berliner SPD. Während Giffey und Saleh scheinbar ergebnisoffen in den Sondierungsgesprächen verhandelten (angeblich mit Tendenz zu Rot-Grün-Rot), wurde offensiv bei den SPD-Funktionären das Narrativ der »unverlässlichen« früheren Koalitionspartner verbreitet, wobei keine/r sich getraut hat, dem zu widersprechen. Für die aufmerksamen Beobachter*innen der politischen Landschaft in Berlin stellt sich die Frage, ob das nicht Projektion ist. Man sieht gern die eigenen Fehler bei den »anderen«.

Im Wahlkampf bekam man mindestens den Eindruck, dass die Regierende Bürgermeisterin den politischen Gegner eher bei den Grünen sah, als bei der CDU und FDP (die sie gerne wieder im Berliner Abgeordnetenhaus gesehen hätte). Dementsprechend hat sie ihre Koalitionspartner*innen immer wieder angegriffen bzw. ihnen widersprochen (z.B. in Sache der autofreien Friedrichsstraße, des Volksentscheids zu Enteignung, usw.).

So gesehen, war die Entscheidung, Koalitionsgespräche mit der CDU zu führen, entgegen der Meinung der bürgerlichen Presse, eigentlich keine große Überraschung. Diese Option (mit FDP) war ohnehin schon die Präferenz von Giffey bei den letzten Verhandlungen nach der Wahl 2021, die nur knapp verhindert wurde. Man könnte auch die Frage stellen, warum die SPD Spitze gänzlich ohne Not ein Jahr vor den letzten Wahlen den eher moderaten Spitzenkandidaten, Michael Müller, gegen die deutlich konservativere Giffey ausgetauscht hat.

Franziska Giffey mag eine Mehrheit im SPD-Landesvorstand für Koalitionsgespräche mit der CDU gefunden haben, aber sie ist noch lange nicht bei der SPD-Basis angekommen. Bezeichnend für ihre prekäre Stellung innerhalb der Partei ist, dass sich die Kreisdelegiertenversammlung in ihrem eigenen Bezirksverband Neukölln mehrheitlich gegen solche Gespräche ausgesprochen hat.

Wenn sich eine Große Koalition in Berlin realisieren lässt, wird sie auch bundespolitische Bedeutung haben. Erstens würden sich die Mehrheiten im Bundesrat zu Ungunsten der Ampel verschieben, da sich Berlin bei strittigen Fragen bestenfalls enthalten müsste. Zweitens ist natürlich auch DIE LINKE auf der Bundesebene betroffen, weil sie jetzt eine Regierungsbeteiligung verliert, die ihr Stabilität gebracht hat. Interessant ist hierbei, dass die Berliner LINKE in starker Absetzung zur Bundespartei gehandelt hat, nämlich als »Berliner LINKE«. In dem von der SPD veröffentlichten Sondierungspapier wurde DIE LINKE, was Verlässlichkeit etc. angeht, eher positiv bewertet, aber die unsichere Situation in der Bundespartei wurde dann als negativ bewertet, daher kein Koalitionspartner.

Die Befürchtung ist jedoch nicht unbegründet, dass die sich anbahnende große Koalition zur weiteren Zermürbung der Berliner SPD führen wird, wenn sie nicht durch die Kampagne der Jusos im Rahmen eines Mitgliederentscheids verhindert werden kann. Angesichts der drängenden Probleme der Stadt ist die Gefahr groß, dass sie eine Koalition des Stillstands werden wird.

Im Wahlkampf wurden insbesondere von Kai Wegner die Probleme der Stadt mit der populistischen Hetze von der »failed City«, der rassistischen Stimmungsmache anlässlich der Silvesterrandale sowie der wohlfeilen und heuchlerischen Kritik am Versagen von Rot-Grün-Rot angesichts der großen Problemlagen angesprochen. Wie sie diese Probleme im Bündnis mit der SPD lösen will, bleibt offen. Stattdessen wird großmundig verkündet, dass bei einer CDU/SPD-Koalition jeder Tag ein Vorankommen bei der Lösung der Probleme Berlins bringen werde. Bereits jetzt verlangt Wegner nach stärkerer Videoüberwachung in sogenannten Problemvierteln – eine Maßnahme, die höchstens bewirkt, dass die Kriminalität zu neuen Standorten verschoben wird. Auf die Ursachen der Probleme hat sie keine Auswirkungen.

Ein großes Thema in den letzten Tagen des Wahlkampfes war die Notwendigkeit einer Reform der Berliner Verwaltung. Von den Parteien wurde eher die Position vertreten, dass dies nur eine Frage der Struktur sei. Das betrifft Fragen der Machtteilung zwischen den Bezirken und den Hauptverwaltungen, bzw. die Frage eines »politischen Bezirksamts«, wo in den Bezirken Koalitionen gebildet werden, anstatt des gegenwärtigen Systems, wo die Stadtratsposten proportional zum Anteil der Stimmen der einzelnen Parteien im Bezirk bestimmt werden. Auch war öfter die Einschätzung zu hören, dass es nur ein Problem der fehlenden Digitalisierung sei. Dass dies ein komplexes Projekt ist und innerhalb einer Legislaturperiode wohl kaum zu schaffen ist, scheint noch nicht auf der politischen Ebene angekommen zu sein.

Wie bei allen anderen im Wahlkampf diskutierten Themen wurden die Probleme in der Verwaltung der jetzigen Regierung angelastet. Eine Ursache der Probleme, nämlich die rigorose Sparpolitik der Nullerjahre, die dazu geführt hat, dass die Altersstruktur in der Berliner Verwaltung seit Jahren sehr ungünstig ist, und dass der jetzige Eintritt der Baby-Boomer-Generation in den Ruhestand (vgl. Ulrich Bochum/Jeffrey Butler/Klaus Kohlmeyer/Stephanie Odenwald, Soziale Spaltungen in Berlin, Hamburg 2016) dazu geführt hat, dass in vielen Bereichen ein akuter Fachkräftemangel besteht, wird meist ausgeblendet. Auch drängen viele Probleme in der Berliner Verwaltung gar nicht nach außen. Hier führt in vielen Bereichen eine Verwaltungskultur der »Zuständigkeiten« dazu, dass sich oft keine/r zuständig fühlt, wenn die Lage etwas komplizierter wird.

Es geht ganz besonders um das Engagement und die Motivation der Mitarbeiter*innen und Beschäftigtenvertretungen, die beim letzten Versuch einer tiefergreifenden Verwaltungsreform Ende der 1990er Jahre nicht richtig mitgenommen wurden. Die Tatsache, dass diese Verwaltungsreform insbesondere in den Bezirken auch durch eine Blockadepolitik des mittleren Managements verhindert werden konnte, wurde nie richtig aufgearbeitet. Bedenklich ist auch, dass diese Verwaltungsreform in der Zeit der letzten Großen Koalition in Berlin (2011 bis 2016) unter dem damaligen Senator für Inneres, Frank Henkel von der CDU, endgültig versandet ist. Geblieben ist nur die Kosten- und Leistungsrechnung, die zu Vergleichen zwischen den Bezirken mit dem Zweck der Kostenreduzierung führte, die fast 20 Jahre erduldet werden musste und Unmengen an Zeit und Energie verschlang.

Es ist zu erwarten, dass wir nun eine Legislaturperiode erleben werden, mit vielen Rückwärtsentwicklungen, z.B. in den Bereichen Kultur, Armutsbekämpfung, Verkehr, und der Unterbringung von Geflüchteten auf der einen Seite, ohne wirkliche politische Stärken auf der anderen Seite, z.B. bei Bildung und Wohnen. Auch der Verlust von kompetenten linken Politiker*innen, wie Klaus Lederer und Katja Kipping, wird sicherlich auch in bürgerlichen Milieus wahrgenommen und bedauert. Das einzig Positive ist die Kürze der Legislaturperiode. Sorgen über die Zukunft dieser Stadt sind in jedem Fall angebracht.

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