22. Dezember 2022 Redaktion Sozialismus.de: Sicherung der Ukraine mit amerikanischer Entschlossenheit?

Eskalation auch im Informationskrieg

Nach 300 Tagen Krieg in der Ukraine wird die globale Öffentlichkeit mit einer Eskalation im Informationskrieg konfrontiert: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat in seiner ersten Auslandsreise nach Kriegsbeginn die USA besucht.

Nach Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden hielt er eine Grundsatzrede vor dem US-Kongress in Washington, in der er unter großen Applaus herausstellte: »Entgegen allen Untergangsszenarien ist die Ukraine nicht gefallen. Die Ukraine ist gesund und munter. […] Wir haben Russland im Kampf um den Verstand der Welt besiegt.« Die Ukraine werde sich niemals ergeben, den Dank für die US-Hilfen in Milliardenhöhe verband er mit dem Hinweis:  »Ihre Gelder sind keine Almosen. […] Es ist eine Investition in die globale Sicherheit und die Demokratie«.

Der Krieg werde Selenskyj zufolge die kommenden Generationen prägen und warnte zugleich: Wenn die russischen Aggressoren jetzt nicht aufgehalten werden, »ist es nur eine Frage der Zeit, wann sie eure anderen Verbündeten angreifen werden«. Die Welt sei zu sehr vernetzt, als dass sich irgendjemand sicher fühlen könne, wenn der russische Angriff weiterginge. Das kommende Jahr werde ein »Wendepunkt« in dem Krieg sein, »ukrainischer Mut und amerikanische Entschlossenheit [müssten] die Zukunft unserer gemeinsamen Freiheit garantieren«.


Putin mobilisiert die Armee

In Moskau zeigte sich der russische Präsident Wladimir Putin in einer vom Fernsehen übertragenen Rede vor Militärs seinerseits überzeugt vom russischen Sieg. Er räumte zwar auch Defizite ein, unterstricht aber zugleich den Siegesoptimismus: »Ich bin sicher, dass wir Schritt für Schritt alle unsere Ziele erreichen werden.«. Bedingung sei ein schnelleres Tempo bei der Aufrüstung und Modernisierung des Militärs. Es gebe »keine finanziellen Beschränkungen«, wenn es darum gehe, die Armee weiter aufzurüsten. »Das Land und die Regierung stellen alles zur Verfügung, worum die Armee bittet.« Als Beispiel nannte er den Einsatz von Drohnen. Jeder Soldat müsse »die Möglichkeit haben, Informationen von Drohnen zu erhalten.«

Putin stellte erneut die existentielle Herausforderung ins Zentrum der Rede an die russische Militär-Elite: Die NATO setze ihr gesamtes Potenzial gegen Russland ein. Sein Land stehe in einer Konfrontation mit dem ganzen Westen, der der Ukraine einen Großteil seines militärischen Potentials zur Verfügung gestellt habe. Dessen langfristige Ziel bestehe darin, Russland zu »amputieren« und aufzuspalten, was seit langem bekannt und mit dem »Euromaidan« von 2014 nur in eine akute Phase eingetreten sei.

Der Westen habe nach dem Zerfall der UdSSR nie zugelassen, dass Russland zu einem neuen gedeihlichen Verhältnis zu seinen ehemaligen Landsleuten gefunden habe, sondern von Anfang an die Nationalisten unterstützt und sich an ihrer faschistischen Ideologie nicht gestört. Vor diesem Hintergrund sei der Ausbruch des ukrainisch-russischen Konflikts unvermeidlich gewesen, »auch wenn jeder hier im Saal versteht, mit wie vielen Tragödien das verbunden ist«. Für die »gemeinsame Tragödie« des Ausbruchs der Feindseligkeiten seien aber die und ihre Verbündeten schuld. Was geschehe, sei »nicht das Ergebnis unserer Politik«, sondern der Politik anderer Länder. »Russland sah und sieht sich nicht als Feind des Westens.«

Vor allem die USA würden Druck auf andere Länder ausüben. Für die Versuche, weiterhin als »Hegemon« zu bleiben, würde der Westen einen »immer größer werdenden Preis« zahlen. Der Kreml-Chef sprach von einer »blutigen und schmutzigen« Politik des Westens, der die Souveränität sowie Identität von Ländern und Bevölkerungen ablehne, und forderte die versammelten Militärs auf, sich frühere Erfahrungen aus Syrien und bei der »besonderen Militäroperation« in der Ukraine zunutze zu machen. Und die russische Interkontinentalrakete Sarmat werde in naher Zukunft einsatzbereit sein, die in der Lage sei, die Vereinigten Staaten nuklear anzugreifen.

Sicherlich ist Putins Interpretation der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung des post-sowjetischen »Erbe« einseitig, aber eine ausgewiesene westliche Strategie zur Neugestaltung der staatlich-gesellschaftlichen Konkursmasse des sowjetischen Systems hat es in der Tat nicht gegeben.


Selenskyjs Rede gegen die wachsende Ukraine-Müdigkeit in den USA

Die Ukraine wird eine Niederlage nur abwenden können, wenn sie mehr als symbolische Unterstützung erhält. Der politische Sinn des Auftritts von Selenskyj in Washington ist es, kurz vor dem Verlust der demokratischen Mehrheit im Unterhaus neue Zusagen für Militär- und Wirtschaftshilfe zu erhalten. Die USA haben bisher Militärhilfe im Wert von rund 25 Milliarden Dollar geliefert oder zugesagt. Das ist mehr, als alle anderen Länder zusammen beitragen, und etwa doppelt so viel wie die gesamte Militärhilfe aus dem EU-Raum. Insgesamt summieren sich die militärischen, wirtschaftlichen und humanitären Hilfspakete auf insgesamt 68 Milliarden Dollar, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Invasoren zurückdrängen konnten.

Trotz dieser Unterstützung befindet sich der Krieg im Süden und Osten der Ukraine in einer kritischen Phase: Der Stellungskrieg steckt fest, Russland kann periodisch große Teile der ukrainischen Energieversorgung zerstören. Zugleich wächst in den USA die Kritik an der milliardenschweren Hilfe für Kiew und in der westlichen Allianz die Furcht davor, in einen Krieg zwischen NATO und Russland hineingezogen zu werden.

Im Hinblick auf einen möglichen Ausgang des Krieges bleiben die Positionen verhärtet. Selenskyjs Antwort lautet wie immer in den letzten Kriegsmonaten: »Ein gerechter Frieden ist für mich keine Frage des Kompromisses über die Souveränität, Freiheit und territoriale Integrität meines Landes sowie Reparationszahlungen für alle durch Russland verursachten Schäden.« Im Grunde könne es keinen gerechten Frieden für einen Krieg geben, der den Ukrainern von »Unmenschen« aufgezwungen worden sei.

US-Präsident Biden seinerseits bemühte eine diplomatische Floskel: »Ich denke wir teilen die gleiche Vision einer freien, unabhängigen und sicheren Ukraine. Wir wollen alle, dass dieser Krieg endet.« Diese diplomatische Formel kann die Tatsache nicht überdecken, dass auch in den USA der Wille zur Unterstützung der Ukraine nicht mehr grenzenlos ist. Allein um die bisherige Hilfe bis nächsten September aufrecht zu halten, muss die amerikanische Regierung ein Hilfspaket von 45 Milliarden Dollar durch den Kongress bewilligt erhalten. Um das restliche Territorium verteidigen bzw. befreien zu können, braucht Kiew aber noch mehr und auch wirksamere Waffen. Wie viel kann und will die US-Regierung noch liefern?

Über diese Frage herrscht aktuell in der amerikanischen politischen Klasse kein grundsätzlicher Konsens mehr. Washington schreckte aus Angst vor einer weiteren Eskalation durch Russland davor zurück, wesentlich mehr als das Notwendige zu tun, um eine ukrainische Niederlage zu verhindern. Und vor wenigen Wochen legte US-General Mark Milley, seit 2019 Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, Kiew gar nahe, seine jetzige Position der Stärke zu nutzen, um im Winter eine diplomatische Lösung für den Krieg zu finden. Die russischen Truppen ganz aus der Ukraine zu drängen, sei »sehr schwierig«.

Selenskyj allerdings fordert von Washington seit Monaten die Lieferung von besseren Flugabwehrsystemen und ballistische Kurzstreckenraketen, um die russischen Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur im Keim ersticken zu können. Erst jetzt kündigte das Weiße Haus die Übergabe einer Patriot-Flugabwehrbatterie an. Bis ukrainische Soldaten für dieses komplexe System ausgebildet sind, wird es allerdings Monate Schulung brauchen. Und um einen breiten Schirm gegen die russischen Angriffswellen aufzubauen, reicht eine Batterie nicht aus.

Eine ukrainische Journalistin fragt in der Pressekonferenz nach dem Treffen von Selenskyj und Biden zu diesem heiklen Punkt nach: »Als die russische Invasion begann, sagten amerikanische Regierungsbeamte, man könne keine Patriots liefern, denn dies könnte eine unnötige Eskalation provozieren. Und jetzt wird doch geliefert. Aber die Ukraine braucht nun noch mehr, unter anderem weitreichendere Raketen. Vielleicht bin ich naiv, aber können wir eine lange Geschichte nicht kurz machen und der Ukraine alles geben, was sie braucht, um alle Gebiete früher als später zu befreien?«

Biden zeigte auf Selenskyj: »Seine Antwort ist ja.« Und lieferte dann seine Einschätzung des Problems: »Es gibt eine ganze Allianz, die entscheidend für die Ukraine ist. Die Idee, dass wir der Ukraine fundamental anderes Gerät als bisher geben, könnte die NATO und die EU spalten.« Er habe Hunderte von Stunden am Telefon verbracht, um die Partner in Europa davon zu überzeugen, die Ukraine zu unterstützen. »Sie verstehen das gänzlich. Aber sie wollen keinen Krieg mit Russland oder einen Dritten Weltkrieg.«

Mehr als Biden will Selenskyj mit seiner symbolischen Visite in Washington die amerikanischen Steuerzahler und insbesondere den rechten Flügel der Republikanischen Partei zu mehr Unterstützung mobilisieren. Zwar unterstützen immer noch 65% der Amerikaner die Waffenlieferungen an die Ukraine, unter den republikanischen Wählern sank dieser Anteil jedoch von 80% im März auf 55% im Dezember. Diese Skepsis wird ab Januar auch im Repräsentantenhaus spürbar sein, wenn die Republikaner die Mehrheit dort übernehmen. Weil die konservative Mehrheit nur hauchdünn ist, erhält der rechte ukraine-kritische Flügel großes Gewicht. Kevin McCarthy, der Speaker werden will, kündigte deshalb bereits an, die Republikaner würden keine »Blankochecks« mehr für die Ukraine ausstellen.

Deshalb wollen Biden und die Demokraten mit Unterstützung moderater Republikaner noch diese Woche ein Ausgabengesetz beschließen, das weitere Milliarden Dollar für die Ukraine bis im nächsten September sicherstellt. Die Fraktionen im Kongress haben sich auf einen Haushaltsentwurf mit einem Volumen von insgesamt 1,7 Billionen Dollar (1,6 Billionen Euro) geeinigt, der unter anderem 44,9 Milliarden Dollar (42,3 Milliarden Euro) Hilfen für die Ukraine vorsieht. Senat und Repräsentantenhaus müssen dem Haushaltsentwurf noch zustimmen. Im Januar wird sich zeigen, wie nachhaltig Selenskyjs Rede gegen die wachsende Kriegsmüdigkeit gewirkt hat.


Kriegsende 2023?

300 Tage dauert Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits an, und ein Ende ist nicht abzusehen. Was als »militärische Spezialoperation« begann, ist inzwischen zu einem zähen Stellungskrieg mit systematischer Zerstörung der ukrainischen geworden, was jede Versöhnung aussichtslos erscheinen lässt.

Nach Ansicht britischer Militärexperten führen die Russen einen veralteten Stellungskrieg, in dem sie aufwendige Verteidigungsanlagen entlang der gesamten Frontlinie mit einem Schwerpunkt auf dem nördlichen Sektor im Oblast Luhansk errichten. »Die russischen Konstruktionen folgen traditionellen militärischen Plänen zum Bau von Schützengräben, die seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend unverändert sind. Solche Konstruktionen sind wahrscheinlich anfällig für moderne, präzise indirekte Schläge«.

Angesichts der festgefahrenen Fronten könne Putin keine Erfolge erwarten, allein der bisherige Kriegsverlauf sei eine Niederlage. Moskau müsse, um mit den Infrastrukturangriffen erfolgreich zu sein, große Wellen von Drohneneinsätzen fliegen. »Denn man muss es schaffen, die ukrainische Luftabwehr quasi zu überwältigen.« Zudem beginne die Ukraine nach jeder erfolgreichen Welle mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur. Insofern hänge der Erfolg der Angriffe auch davon ab, wie viel Material und Menschen vorhanden sind, um die Schäden schnell zu reparieren. In der Konsequenz dieses großen Materialeinsatzes könnte die Ukraine militärische Erfolge erzielen und mit Luftabwehrsystemen ihre Position behaupten kann. Damit wären sie militärisch nicht besiegbar und der Krieg wird noch länger dauern.

Moskaus bewertet daher die Lieferung des Patriot-Flugabwehrsystems als Fortsetzung und Intensivierung des »Stellvertreterkriegs« gegen Russland. Der Besuch des ukrainischen Präsidenten in Washington sei dafür im »Hollywood-Stil« inszeniert worden und die US-Beteuerungen, nicht die Konfrontation mit Russland zu suchen, »nur leere Worte«. Stattdessen werde die »Lüge« verbreitet, Russland sei nicht an einer friedlichen Lösung interessiert.

Trotz der Kriegsmüdigkeit, die sich im Westen und auch den USA breitgemacht hat, geht die größte Militärmacht der Welt das Risiko einer Eskalation ein. Die beschlossene neue militärische Rekordhilfe und die Lieferung von effizienteren Waffensystemen werden zu einer Verlängerung des Krieges führen. Die USA bleiben der militärische Schutzschirm der Ukraine – zumindestens bis weit in das Jahr 2023 hinein.

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