26. Juni 2022 Redaktion Sozialismus.de: Russland drosselt Gaslieferungen an den Westen

Eskalation im Wirtschaftskrieg

Mit der Drosselung russischer Gaslieferungen nach Deutschland erreicht der Wirtschaftskrieg mit dem Kreml eine neue Qualität. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) erhöht die Warnstufe in der Gas-Versorgung: »Der Gasverbrauch muss weiter sinken, dafür muss mehr Gas in die Speicher, sonst wird es im Winter wirklich eng.«

Gesenkt werden soll primär der Gasverbrauch im Strombereich und in der Industrie. Dazu sollen vorübergehend wieder mehr Kohlekraftwerke zum Einsatz kommen. Zudem will die Bundesregierung mit Kreditlinien der Förderbank KfW die Befüllung der Gasspeicher sicherstellen. Und auch über eine Verlängerung der drei noch in Betrieb stehenden Atom-Meiler wird nachgedacht.

Russland hat zudem weiteren westlichen Ländern eine Kürzung der Lieferungen angekündigt. Im April hatte Gazprom bereits Polen und Bulgarien den Hahn zugedreht, im Mai folgten Finnland, die Niederlande und Dänemark. Vor Tagen wurden dann die Liefermengen nach Deutschland um die Hälfte gekürzt. Auch Tschechien und Österreich wurden starke Kürzungen angekündigt. Russland hat auch die Lieferungen nach Italien, Frankreich, Tschechien, Frankreich und die Slowakei stark gedrosselt.

Der russische Gazprom-Konzern begründete die Lieferbeschränkungen u.a. damit, dass nach Reparaturarbeiten mehrere Kompressoren des deutschen Siemens-Konzerns am Startpunkt der Pipeline fehlten. Die Begründung ist nicht völlig aus der Luft gegriffen: Für die Pipeline »Nord Stream 1« nach Deutschland, an der auch andere Länder hängen, bestätigte die kanadische Regierung, dass eine Turbine, die für deren Betrieb benötigt wird, in Kanada wegen der Sanktionen festgehalten wird.

Die Turbinen wurden in Kanada hergestellt und müssen regelmäßig zur Wartung durch Siemens dorthin zurückgeschickt werden. Eine der Turbinen wurde in Montreal überholt, kann nun aber nicht nach Russland zurückgeschickt werden, da die kanadischen Sanktionen den Export wichtiger technischer Dienstleistungen an die russische Industrie für fossile Brennstoffe verbieten.

Der deutsche Wirtschaftsminister bezeichnete die technischen Gründe als vorgeschoben. Die Reparaturarbeiten würden keine derart starke Drosselung der Lieferungen rechtfertigen. Dahinter stehe offenkundig die Strategie, den Druck auf Europa zu verstärken, zu verunsichern und die Preise hochzutreiben.

Würde der Gasfluss weiter beeinträchtigt, so Habecks Argumentation, dann sind wir relativ schnell in einer Rezession. Wo er Recht hat, hat er Recht, denn schon jetzt steht die Konjunktur auf Messers Schneide. Bei einem Gaslieferstopp droht eine Verdoppelung oder gar Verdreifachung der Gasrechnung. Das würde die Industrie und den privaten Konsum treffen.

Die deutsche Industrie mit Millionen Beschäftigten sieht sich zunehmend belastet von den Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der Corona-Pandemie. Vor allem aufgrund massiver Probleme bei Rohstofflieferungen schraubte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) seine Konjunkturprognose für dieses Jahr drastisch nach unten. Die Industrie erwartet für dieses Jahr nur noch ein Wachstum der Wirtschaftsleistung in Deutschland von rund 1,5%. Zu Jahresbeginn war er vor Beginn des Ukraine-Kriegs noch von einem Plus um etwa 3,5% ausgegangen.

Vordergründig hat die Bundesregierung erkannt, dass der russische Angriff auf die Ukraine eine Zeitenwende bedeutet. Allerdings besteht die Antwort bisher allein in verstärkter Aufrüstung und anhaltender Unterstützung der Ukraine. Erst allmählich wird deutlich, dass der Westen sich in einen Wirtschaftskrieg hineinmanövriert hat. Entfallen die Exporte von Öl, Gas, Metallen und Nahrungsmitteln der Rohstoffsupermacht Russland, trifft das die Weltwirtschaft hart.

Es ist jetzt drei Monate her, seit der Westen auf den russischen Überfall der Ukraine mit einem Wirtschaftskrieg gegen Russland geantwortet hat. Aber die Sache läuft nicht nach Plan – eigentlich sogar ziemlich schlecht. Die Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wurden nicht verhängt, weil man sie für das Beste hielt, sondern weil man schlecht durchdacht, Russland als Wirtschaftsmacht unterschätzt hat.

Das erste Bündel Wirtschaftsmaßnahmen wurde direkt nach der russischen Invasion verabschiedet, als man davon ausging, dass die Ukraine innerhalb von Tagen kapitulieren würde. Weil dieser Effekt ausblieb, sind die Sanktionen weiter verstärkt worden. All die Sanktionen haben aber einen zwiespältigen Effekt: Sie treiben die Preise für Russlands Öl- und Gasexporte in die Höhe. Die russische Handelsbilanz dreht massiv ins Positive, der Rubel erholt sich von seinen Tiefstständen.

Für viele kommt es überraschend: Bereits seit Anfang des Jahres zeigt sich keine Währung so stark wie der Rubel. Gegenüber dem US-Dollar hat sich die russische Valuta gut 40% aufgewertet. Und dass trotz der Sanktionen nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. Dabei hatte der Rubel infolge der Invasion kurzzeitig noch fast die Hälfte seines Außenwerts eingebüßt.

Der russische Rubel konnte binnen sechs Wochen nach Kriegsbeginn eine deutliche Kehrtwende vollziehen und bereits höher notieren als kurz vor Kriegsausbruch. Und seit Anfang April hat sich die Rubel-Aufwertung stetig fortgesetzt. Jetzt ist die russische Währung sogar die weltweit stärkste Währung im Jahr 2022, man muss aktuell nur noch 54,43 Rubel für einen US-Dollar aufbringen. Das ist höchst ungewöhnlich für die Währung eines Landes, das wegen einem Angriffskrieg vom Westen massiv sanktioniert wird.

Der Wechselkurs einer Währung gilt als Gradmesser für die ökonomische Stärke und oft auch für die politische Stabilität eines Landes. Würde dies auch im Fall des russischen Rubels gelten, könnte diese Entwicklung den Eindruck entstehen lassen, dass Putin alles richtig gemacht hat. Doch der Aufstieg des Rubels kaschiert eine Situation, die für die russische Führung und die wirtschaftlichen Aussichten des Landes alles andere als vorteilhaft ist. Der Außenwert der russischen Währung hat wenig mit der ökonomischen Realität zu tun, es spielen andere Faktoren eine Rolle.

Die hohen Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt bewirken, dass Russland trotz rückläufiger Verkaufsmengen Richtung Westen mehr Geld einnimmt. Der Einbruch von Importen durch die Handelssanktionen und der Rückzug vieler westlicher Firmen aus dem Land führt zu weniger Devisennachfrage. Laut Daten aus dem Mai 2022 nimmt Russland gut 20 Mrd. US-Dollar pro Monat durch Energieexporte ein. Wenn die Käufer in Rubel zahlen, pusht das den Kurs der russischen Währung.

Die aktuelle Rubel-»Stärke« ist ein Nebeneffekt der westlichen Sanktionen. Sie ist aber auch der – vom Kreml erwünschte – Effekt zahlreicher Eingriffe seitens der russischen Zentralbank. Die Zentralbank hatte u.a. verfügt, dass russische Rubel nicht mehr in ausländisches Bargeld umgetauscht werden können, und so dessen Kurs gestützt. Einzelpersonen dürfen Rubel innerhalb von sechs Monaten nur noch bis zu einem Betrag von 10.000 US-Dollar eintauschen. Gleichzeitig beschloss das russische Finanzministerium, die einheimischen Öl- und Erdgasexporteure zu zwingen, 80% ihrer gewaltigen Deviseneinnahmen zu repatriieren und in Rubel zu wechseln.

In den ersten vier Monaten dieses Jahres konnte Putin einen Leistungsbilanzüberschuss von 96 Mrd. US-Dollar (90,7 Mrd. Euro) verbuchen – mehr als das Dreifache im gleichen Zeitraum 2021. Als die Europäische Union Ende Mai ihr Embargo auf Teile der russischen Ölexporte verkündete, stieg der Rohölpreis auf den globalen Märkten, was dem Kreml weitere finanziellen Vorteile bringt. Derweil hat Russland keine Schwierigkeiten, alternative Märkte für seine Energie zu finden. Die Öl- und Gas-Exporte nach China im April etwa erhöhten sich im Jahresvergleich um mehr als 50%.

Der wichtigste Grund für diese Entwicklung des Rubel ist, dass sich die meisten Länder den Sanktionen der USA und der EU nicht angeschlossen haben. Mit Indien und Brasilien haben sich zwei der bevölkerungsreichsten Länder dem Embargo verweigert. Indien baut seine Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aus. Der Rubel ist gegen den Euro fest und gegen den US-Dollar inzwischen stabil. An der Entwicklung der Währungen ist abzulesen, dass die Sanktionen Russland nicht treffen, dafür aber die EU, deren europäische Einheitswährung nicht nur gegenüber dem Rubel kräftig eingebrochen ist.

Das heißt nicht, dass die Sanktionen schmerzlos an Russland vorbeigehen. Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) schrumpft die Wirtschaft des Landes dieses Jahr um ca. 8,5%, da die Importe aus dem Westen eingebrochen sind. Russland besitzt zwar einen Lagerbestand an wichtigen Gütern, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, aber irgendwann werden sie aufgebraucht sein. Schaut man auf die ökonomischen Daten, so spricht derzeit wenig für eine dauerhafte Rubel-Stärke.

Da sich Europa nur allmählich aus seiner Abhängigkeit von russischer Energie befreit, bleibt Putin erst einmal eine unmittelbare Finanzkrise erspart. Dank Kapitalverkehrskontrollen und einem soliden Handelsüberschuss bleibt er Rubel vorerst stark. Moskau hat daher Zeit, alternative Bezugsquellen für Ersatz- und Bestandteile aus Ländern zu finden, die bereit sind, die westlichen Sanktionen zu umgehen.

Die aktuelle jährliche Inflationsrate in Großbritannien liegt bei 9% und ist damit die höchste seit 40 Jahren. In Deutschland erwartet die Bundesbank für 2022 eine Teuerungsrate von 7,1%. Die Treibstoffpreise haben ein Rekordhoch erreicht. Als Ergebnis des Krieges sehen sich die westlichen Ökonomien mit niedrigem oder negativem Wachstum und steigender Inflation konfrontiert – eine Rückkehr zur Stagflation der 1970er. Derweil spüren die Zentralbanken den Druck, auf eine fast zweistellige Inflation reagieren zu müssen, indem sie den Zinssatz erhöhen. Dadurch droht ein Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Unterdessen stehen die ärmeren Länder der Welt vor Problemen von weitaus größerem Ausmaß. Für manche von ihnen geht es nicht um Stagflation, sondern ums Verhungern – eine Folge der russischen Blockade von Weizenlieferungen aus den ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer. Wie der Direktor des Welternährungsprogramms David Beasley es formulierte: »Die Getreidesilos der Ukraine sind voll. Gleichzeitig bewegen sich 44 Millionen Menschen weltweit auf den Hungertod zu.«

Ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland ist angesichts des Stands der Dinge nicht sehr wahrscheinlich. Auch ob weitere Wirtschaftsblockaden letztlich funktionieren und immer stärkere Sanktionen Russland zum Nachgeben zwingen, darf bezweifelt werden. Die einzige auch für die Ökonomien der westlichen Länder tragfähige Lösung ist eine verhandelte Einigung über das Ende des Krieges.

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