18. Februar 2022 Joachim Bischoff: »Minsk« oder Krieg

Eskalierender Konflikt um die Ukraine und Donbass

Russland sieht seit längerem die auch von der NATO garantierten Sicherheitsinteressen verletzt. Insbesondere kritisiert Moskau, dass seine Forderung nach einem Ende der NATO-Osterweiterung ignoriert worden sei.

Faktisch würden die westlichen NATO-Mitgliedsländer keine Rücksicht mehr auf das Prinzip der »Unteilbarkeit der Sicherheit« in Europa nehmen, nach dem kein Land seine eigene Sicherheit auf Kosten der Interessen eines anderen Landes durchsetzen dürfe. Auf rein diplomatischem Weg gelinge es Russland nicht, sich Respekt für seine »roten Linien« zu verschaffen.

Als inakzeptabel bezeichnet Moskau nicht mehr nur einen Beitritt der Ukraine zur NATO, sondern auch die amerikanische Militärhilfe für das Land und die Militärübungen der westlichen Allianz in der Schwarzmeerregion. Als vernachlässigbarer politischer Faktor will sich die politische Klasse Russlands nicht länger behandeln lassen.

Über eine massive Militäroperation im Grenzgebiet zur Ukraine hat Russland zunächst weltweit Aufmerksamkeit provoziert.[1] Russland erhöht zuletzt im Nervenkrieg mit dem Westen den Einsatz und kündigt eine Übung seiner Atomstreitkräfte an. Diese soll laut dem Verteidigungsministerium am Samstag, den 19.2., unter Führung von Präsident Wladimir Putin stattfinden. Geplant sei, die Zuverlässigkeit der strategischen Nuklearwaffen zu testen und dabei ballistische Raketen sowie Marschflugkörper zu starten und insgesamt am 20.2. beendet sein.

Auch die NATO-Mitgliedsstaaten Deutschland und Frankreich, die beiden wichtigsten Vermittler in der Donbass-Frage, sind im Fokus der Kritik: Moskau ist unzufrieden darüber, dass Berlin und Paris die Ukraine nicht stärker zu Konzessionen drängen. Für Russland ist klar, dass eine Friedenslösung auf der Grundlage des Minsker Waffenstillstandsabkommens von 2015 gefunden werden muss. Zu diesem Grundsatz bekennen sich zwar auch die beiden EU-Staaten, aber faktisch lassen sie es zu, dass Kiew eine völlig andere Interpretation des Abkommens pflegt als Moskau. Der Kreml pocht auf eine Autonomielösung für die Donbass-Region. Das stärkste Argument scheint für Russland in dieser Situation, im Westen die Angst vor einer neuen Eskalation zu schüren.

In Moskau sind die Hoffnungen verflogen, mit dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, eine befriedigende Lösung im Donbass-Konflikt zu finden. In letzter Zeit hat dieser einen schärferen Kurs gegenüber Moskau und den Separatisten eingeschlagen. Er ging zudem hart gegen den wichtigsten prorussischen Akteur in Kiew vor, den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk.

Seit Monaten fordert der Kreml Verhandlungen, baut aber stetig eine Drohkulisse aus. Satellitenbilder lösen Befürchtungen über einen möglichen Großangriff auf die Ukraine aus. Beobachter halten einen Einmarsch Russlands für theoretisch möglich. Putin sagte seinerseits, Russland wolle keinen Krieg in Europa, bezeichnete aber die Situation in den abtrünnigen Regionen der Ostukraine als »Völkermord« und forderte eine Lösung im Rahmen der Minsker Friedensverhandlungen. Russland habe beschlossen, seine Truppen teilweise aus dem Grenzgebiet zur Ukraine abzuziehen, und er sehe einen gewissen Spielraum für weitere Gespräche mit dem Westen über Moskaus Sicherheitsanforderungen. Moskau kritisierte, dass es keine konstruktive Antwort auf die russischen Forderungen gegeben habe.

Die USA und Großbritannien rechnen inzwischen mit einem russischen Einmarsch. Bisher hatten beide Regierungen die Ansicht vertreten, es sei unklar, ob sich der Kreml zu einem Angriff auf die Ukraine entschieden habe. Unter Verweis auf Informationen der Geheimdienste erklärt US-Präsident Joe Biden zuletzt, alles deute darauf hin, dass Russland dazu bereit sei. Dieser könne in den nächsten Tagen erfolgen. Die Gefahr einer Invasion sei sehr hoch. Seit den Warnungen vor Saddam Husseins Vernichtungswaffen steht es allerdings mit der Glaubwürdigkeit des politisch-nachrichtendienstlichen Komplexes in Amerika nicht zum Besten. Washington hat zu oft gelogen.


Ausweg durch Verhandlungen?

Das Minsker Abkommen von 2015 ist der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Krise. Die durch Vermittlung der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des französischen Präsidenten François Hollande (Normandie-Format) erreichte Vereinbarung spiegelte die massive militärische Überlegenheit Russlands gegenüber der Ukraine wider, aber auch das russische Widerstreben, eine Eskalation bis hin zu einer Invasion zu betreiben. Das Abkommen stellte Russland zufrieden, weil es eine dezentralisierte Ukraine mit Sprachrechten für Russischsprachige garantiert.

Nach Ansicht Moskaus reichte dies aus, um zu verhindern, dass die Ukraine in die westliche Einflusssphäre gerät. Sollten keine Fortschritte bei der Umsetzung der Vereinbarung erzielt werden, würde die Ukraine in einem Zustand des eingefrorenen Konflikts verharren. Der anhaltende Konflikt würde zwar die finanzielle Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht stoppen, aber er würde die Ukraine als Kandidat für eine engere Integration in die EU oder die NATO ausschließen.

Zugleich war das Abkommen ein schmerzhaftes Provisorium und zutiefst unbefriedigend für den zunehmend nationalistischen Ton der Kiewer Politik. Moskau hatte sich nach der Annektion der Krim als Unterstützer der Donbass-Region erwiesen, und musste sich auf ein Leben unter anhaltenden Sanktionen der USA und der EU einstellen.

Der gegenwärtige französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sind aktuell die treibenden Kräfte einer Konfliktregulierung im Donbass (wirklicher Waffenstillstand in dem Bürgerkrieg seit 2015) und der Wiederaufnahme der Verhandlungen um eine gemeinsame Sicherheit des europäischen Hauses als zentral für die Deeskalation rund um die Ukraine.[2] Die Wiederbelebung der Umsetzung des Minsker Abkommens soll im Rahmen des Normandie-Formats mit Vertretern Frankreichs, Deutschlands, Russlands und der Ukraine erfolgen. Die EU bewährt sich dabei wie so oft weniger als Akteur, denn als Netzwerk, in dem man sich auf gemeinsame Ziele verständigt.

Bundeskanzler Scholz (SPD) zeigt sich nach seiner Moskau-Visite weiter zuversichtlich, auf diplomatischem Weg eine Lösung für den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu finden. Es gibt noch keine Lösung, aber die Ebene der Vermittlung ist von allen Parteien aktualisiert. Macron und Scholz haben dies erreicht, indem sie gegenüber der ursprünglichen Konzeption von Merkel und Hollande in bilateralen Verhandlungen folgende weiterführende Zugeständnisse erreicht haben: Die politische Allianz um den ukrainischen Präsidenten Selenskyj hat zugesagt, die überfälligen Gesetze für Autonomie-Regelungen für die osteuropäischen Provinzen in kurzer Frist vorzulegen (zum Status der Ostukraine, eine entsprechende Verfassungsreform und Vorbereitung von Kommunalwahlen). Die krisenhafte Finanzlage der Ukraine wird durch weitere Kredite seitens der EU und Deutschland geglättet. Die Festschreibung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine (auch in der Verfassung) wird relativiert (als fortbestehender »ukrainischer Traum«).

Allen Europäern und der NATO sei weiter klar, dass nachhaltige Sicherheit nicht gegen Russland, sondern nur mit dem Land erreicht werden könne. Scholz sieht angesichts dieser Zugeständnisse keinen vernünftigen Grund mehr für den russischen Truppenaufmarsch. Deswegen sei nun Deeskalation gefragt und begrüßte Berichte über einen ersten Truppenabzug, was von der NATO als Falschmeldung klassifiziert wurde. Russlands hat bekräftigt, seine Truppen nach Ende der Militärübung am 20.Februar abzuziehen. Die Einheiten würden zu ihren Stationierungsorten zurückkehren, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums.

Die Konflikte sind nicht gelöst, insbesondere auch die damit verbundene Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur, aber die Verhandlungsformate für die nächste Zeit verabredet.

Erstens will Russland weiter mit den USA und der NATO über Sicherheitsgarantien für Moskau verhandeln. Der russische Außenminister Sergei Lawrow unterstreicht: »Es gibt immer eine Chance.«. Allerdings dürften sich die Gespräche nicht endlos hinziehen. Nach seiner Darstellung hat Russland nun auch eine zehnseitige Antwort an die NATO und die USA formuliert, nachdem beide Seiten bereits vorher Schriftstücke ausgetauscht hatten.

Zweitens geht es um eine Revitalisierung des Minsker Abkommens von 2015, um das es massiven Streit gibt: Es enthält einen 13-Punkte-Plan, der zur Beendigung des Bürgerkrieges führen soll – angefangen mit einem Waffenstillstand unter Aufsicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und abgerundet durch eine Autonomielösung für die prorussischen Teile des Donbass innerhalb des ukrainischen Staates.

Geregelt war ein allseitiger Waffenstillstand in einzelnen Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk der Ukraine, die Entmilitarisierung der Gebiete, ein Dialog über die Modalitäten der Durchführung regionaler Wahlen in Entsprechung mit der ukrainischen Gesetzgebung und dem ukrainischen Gesetz »Über die zeitweilige Ordnung der lokalen Selbstverwaltung in einzelnen Gebieten der Oblaste Donezk und Lugansk«, sowie die Wiederherstellung der sozialen und wirtschaftlichen Verbindungen zu den Gebieten einschließlich der Überweisung von Sozialleistungen wie Rentenzahlungen und anderer Zahlungen etc.

Ohne Aktivierung des Abkommens kann eine Ausweitung des militärischen Konflikts innerhalb der Ukraine nicht verhindert werden. Das größte Risiko ist eine Provokation etwa mit einer False-Flag-Operation an der Kontaktlinie im Donbass. Russland pocht auf eine Autonomielösung für die Donbass-Region. 720.000 Pässe hat Moskau an die Menschen in den besetzten Gebieten des Donbass ausgegeben – ein umstrittenes Dokument, das nicht alle freiwillig genommen haben, das sich für Inhaber aber auszahlt. Denn Russland zahlt dann Sozialleistungen wie Renten, Kindergeld, oder Arbeitslosenunterstützung.

Die russische Duma hat jetzt gefordert, dass die Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk vollzogen werden soll. Präsident Putin soll nach dem Willen des Parlaments die Anerkennung der Separatistengebiete in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk umsetzen. Eine entsprechende Aufforderung verabschiedete es am 15.2. mit großer Mehrheit.

Die Ukraine warnte Russland vor einer Anerkennung der beiden »Volksrepubliken«. Russland würde dadurch de facto und de jure aus den Minsker Vereinbarungen mit austreten, sagte Außenminister Dmitro Kuleba in Kiew, obwohl der vereinbarte Friedensplan von Minsk eine Wiedereingliederung der prorussischen Separatistengebiete in die Ukraine mit weitreichender Autonomie vorsah. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte Moskau auf einer Pressekonferenz vor einer Anerkennung. Eine solche würde eine Verletzung des Völkerrechts und der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine darstellen. Sollte Moskau tatsächlich diese Gebiete als unabhängig anerkennen, wäre sicherlich eine weitere Eskalationsstufe erreicht.

Nach Abschluss des Großmanövers am 20.2. könnte ein Prozess der Verständigung über die Umsetzung des Minsker Abkommens sowie eine neue Sicherheitsarchitektur eröffnet werden. In einem Brief an alle OSZE-Mitgliedstaaten hatte Russlands Außenminister Sergei Lawrow die einseitige Auslegung eines Vertrags beklagt. Das deutet darauf hin, dass ein Teil dieser Diskussion künftig in diesem Rahmen geführt werden könnte. Es braucht nun einen Prozess, über was man in welchem Format und mit welchem Zeithorizont spricht. Zuvor muss es eine Deeskalation geben. Nach Abschluss der Manöver in Weißrussland könnten solche Schritte eingeleitet werden.


»Minsk« oder Krieg

Der ukrainische Präsident Selenskyj und die politische Klasse des Landes müssen zu schmerzhaften Schritten bereit sein: Die Regierung soll in direkte Gespräche mit den Separatisten eintreten, der Wiedereingliederung der abtrünnigen Gebiete nach der im Abkommen vorgesehenen, für Kiew überaus nachteiligen Reihenfolge der Abhaltung von Wahlen sowie des Wiedergewinnens der Kontrolle über Territorien und Grenzabschnitte zustimmen und dem Donbass einen besonderen Status mit Mitspracherechten in gesamtstaatlichen Fragen gewähren.

Allerdings halten Regierungsmitglieder der Ukraine und erst recht Teile der Opposition die Umsetzung des Minsker Abkommens für zerstörerisch. Sie sehen in dem Dokument die Handschrift des militärischen Siegers Russland, der sich mit dem Abkommen und den umstrittenen Schritten zu seiner Umsetzung Einfluss auf die künftige ukrainische Innen- und Außenpolitik und damit auch auf die West-Bindung Kiews verspreche.

Einige Beobachter sehen nach wie vor, dass wir nördlich, östlich und südlich der Ukraine vor allem ein militärisches Muskelspiel im großen Stil erleben. Es gäbe kein Interesse Russlands, militärische Operationen gegen die Ukraine zu führen. Die Kosten wären derart hoch, dass selbst ein »geringfügiger Angriff« gegen die Ukraine, wie es der amerikanische Präsident Biden kürzlich formulierte, keinen Sinn ergibt.

Insofern wird von diesen Experten die Darstellung akzeptiert, dass Russland ein länger geplantes Manöver im Bereich um die Ukraine durchführt. Gemeinsam mit weissrussischen Streitkräften handele es sich um eine Großübung »Bündnis-Entschlossenheit 2022«, die am 20. Februar beendet sein soll. Wegen der umfangreichen Verlegung von russischen Einheiten in das Nachbarland wird in westlichen Hauptstädten befürchtet, die Übung diene bloß ein als Deckmantel für einen Angriff auf angrenzende Ukraine.

Putin dürfte wenig Probleme haben, nach dem Großmanöver die Angebote, die in den letzten Wochen auf den Verhandlungstisch gelegt wurden, als großen Erfolg in Russland zu verkaufen. Es wird wieder über Rüstungskontrolle, Prävention von Zwischenfällen oder mehr Transparenz bei Großmanövern gesprochen. Über Jahre wurde erfolglos versucht, darüber im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu diskutieren. Doch die USA hatten kein Interesse daran und auch Russland nicht. Jetzt sind die Themen und Angebote wieder auf dem Tisch. Dies wird auch die Scharfmacher in der Duma beeindrucken.

Der Spitzendiplomat Thomas Greminger, der als Schweizer Botschafter bei der OSZE 2014 maßgeblich an der Deeskalation zwischen West und Ost nach der Annexion der Krim beteiligt war, skizzierte in einem Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung« seine Sichtweise auf die Konfliktlage und skizziert darin zugleich verschiedenen Wege aus der gegenwärtigen Krise um die Ukraine: »Das Einzige, was Moskau bis jetzt nicht erreicht hat, ist ein Dialog über das Grunddilemma: das Aufeinanderprallen der freien Bündniswahl souveräner Staaten mit dem Prinzip der ›Unteilbarkeit von Sicherheit‹, dass also ein Land seine Sicherheit nicht auf Kosten eines anderen Landes erhöhen darf. Beides sind fundamentale Grundsätze, verankert im selben Artikel der Europäischen Sicherheitscharta, auf die sich die OSZE-Staaten 1999 in Istanbul geeinigt haben. Die Anerkennung, dass eine Versöhnung dieser beiden Prinzipien nötig ist, hat Putin noch nicht erhalten. Sonst hat er schon enorm viel erreicht.«[3]

Anmerkungen

[1] Zu den Hintergründen vgl. auch Friedrich Steinfeld, Am Rande eines großen Krieges: der Russland-Ukraine-NATO-Konflikt, in: Sozialismus.de, Heft 3/2022 (im Erscheinen), sowie Joachim Bischoff/Friedrich Steinfeld, Droht ein neuer Krieg, in: Sozialismus.deAktuell vom 4.2.2022.
[2] Zur Vorgeschichte der Aktualisierung des Konflikts siehe auch Adam Tooze, Russland verstehen: Wie sich die Russen als Weltmacht behaupten wollen, in: Berliner Zeitung vom 29.1.2022.
[3] »Konflikt um die Ukraine: ›Putin hat mit seinem militärischen Muskelspiel schon enorm viel erreicht‹«, in: NZZ vom 14.2.2022.

 

 

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