26. Juli 2022 Redaktion Sozialismus.de: Orbán sieht sich dennoch obenauf

EU: Korrupter Rechtsstaat in Ungarn

Ungarn hatte schon beim letzten EU-Sanktionspaket gegen Russland Änderungen durchgesetzt. Der wirtschaftlich besonders relevante Boykott gegen Öllieferungen sieht vor, im kommenden Jahr auf dem Seeweg kein Öl mehr in die EU zu lassen.

Lediglich Ungarn, die Slowakei und Tschechien sollen wegen ihrer großen Abhängigkeit noch bis auf Weiteres russisches Öl über die Druschba-Pipeline importieren dürfen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zufolge wird die EU trotz der Ausnahme für Pipeline-Lieferungen bis Ende des Jahres rund 90% weniger Öl aus Russland beziehen.

Victor Orbán agiert seit Kriegsbeginn zurückhaltend gegenüber Russland. Es geht um die Berücksichtigung spezifischer ungarischer Besonderheiten. Und Ungarns Ministerpräsident fordert inzwischen unmissverständlich eine andere EU-Strategie im Ukraine-Krieg. Diese solle auf Frieden abzielen statt darauf, den Krieg zu gewinnen. Mit einer zweistelligen Inflationsrate, einem Abwärtstrend der Währung (Forint) und EU-Geldern, die inmitten eines Streits mit Brüssel über demokratische Standards blockiert sind, steht Orbán vor seiner größten Herausforderung seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010.

Er hat dies bei seinem jährlichen Auftritt im historischen Siebenbürgen, das heute zu Rumänien gehört, verdeutlicht, als er seine Zukunftsvision für das Jahr 2030 skizzierte. Der Rechtspopulist, der seit 2010 in Ungarn regiert, hat vor seiner Anhängerschaft in einer Grundsatzrede Zukunftsperspektiven skizziert.

In seiner Sichtweise beruhe die westliche Strategie in Bezug auf die Ukraine auf vier Pfeilern: die Ukraine könne einen Krieg gegen Russland mit den NATO-Waffen gewinnen, die Sanktionen würden Russland schwächen und seine Führung destabilisieren, sie würden zudem Russland mehr schaden als Europa, und die Welt würde sich hinter Europa stellen. Diese Strategie aber sei gescheitert, da die Regierungen in Europa »wie Dominosteine« zusammenbrächen, die Energiepreise in die Höhe geschossen seien und deshalb eine neue Strategie erforderlich sei.

Orbán konstatierte, ganz Europa drohe nun eine wirtschaftliche Rezession, die auch ein Risiko für die ungarische Wirtschaft darstelle. Analyst*innen gehen in der Tat davon aus, dass sich das BIP-Wachstum im nächsten Jahr auf etwa 2,5% verlangsamen werde. Daraus schlussfolgert Orbán: Bis 2030 »wird der Westen entscheidend geschwächt sein, die USA werden eine echte Krise erleben, die Eurozone wird enorme Probleme haben«.

Die neue EU-Strategie im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine müsse auf Frieden abzielen, anstatt darauf, den Krieg zu gewinnen: »Es ist nicht die Aufgabe der Europäischen Union, sich auf die Seite der Russen oder der Ukrainer zu stellen, sondern sich zwischen die Russen und die Ukrainer zu stellen«. Der Krieg könne nur mittels russisch-amerikanischer Verhandlungen beendet werden, da Russland Sicherheitsgarantien wolle, weshalb es russisch-ukrainische Friedensverhandlungen es nicht geben werde.

Zudem hätte der Westen die Kontrolle über die Energieträger verloren, weshalb Europas Lage Europas doppelt schwer sei, wofür er die USA verantwortlich machte. Als Problem bezeichnete Orbán, dass Brüssel »uns vorschreiben will, wie wir leben sollen«. Aber dank einer »Ausnahmestrategie« werde sich das Land der globalen Wirtschaftskrise entziehen.

Ungarn könne seine Wirtschaftserfolge nur wahren, wenn sich das Land aus Krieg, Rezession und Migration heraushalten würde. Außerdem versicherte der ungarische Premier seinen Anhängern, man werde eine Einigung erzielen, was die eingefrorenen EU-Gelder angeht. »Es muss ein neues Abkommen mit der EU geschlossen werden. Die Finanzierungsverhandlungen sind im Gange. Wir werden uns einigen. Händchenhaltend gehen wir bis zur Wand, umarmen uns und einigen uns.«

Mit diesen russlandfreundlichen Positionen läuft Ungarn Gefahr, sich in der EU weiter zu isolieren. Schon wegen des permanenten Abbaus von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit steht die ungarische Regierung mit der EU in heftigem Konflikt. Gegen Ungarn laufen derzeit mehrere Verfahren, darunter eines im Rahmen des neuen Rechtsstaatsmechanismus, das zum Entzug von EU-Fördermitteln führt.

Die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass die EU-Gelder in Ungarn aufgrund von Korruptionsfällen bei Ausschreibungen in Gefahr geraten seien. Sie hat auch Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit der Justiz, der Medien und der NGOs. In der Frage der Nicht-Auszahlung von Corona-Hilfen an Ungarn wegen Korruptionsvorwürfen ist Brüssel bislang unerwartet hart geblieben. In den kommenden Monaten steht eine Entscheidung über Sanktionen gegen Ungarn nach dem neuen EU-Rechtsstaatsmechanismus an.

Ein neues Rechtsgutachten kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass Brüssel die Möglichkeit hätte, Ungarn sämtliche Fördermittel zu streichen – Milliardensummen, die das Land im Unterschied zu Orbáns nach außen getragenem Optimismus dringender als je zuvor braucht. Die Gutachter halten eine vollständige Streichung von EU-Fördermitteln für geboten, da die Rechtsstaatsverstöße in Ungarn so gravierend, langjährig und systematisch seien, dass kein einziger Euro sicher sei vor Korruption und Missbrauch.

Der Anfang 2021 in Gang gesetzte EU-Rechtsstaatsmechanismus wurde Ende April 2022 gegen Ungarn in Kraft gesetzt und jetzt mit dem Gutachten untermauert. Insofern wird die Entscheidung über die Fördermittel brenzlich. Diese sogenannte Konditionalitätsregelung ermöglicht es, EU-Mitglieder bei Rechtsstaatsverstößen einfacher zu sanktionieren als bisher. Es reicht in diesem Fall aus, wenn eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten mit 65% der Bevölkerung dafür stimmt. Das Europaparlament kritisiert ohnehin seit Monaten, dass die EU-Kommission ihre Druckmittel bei Rechtsstaatsverstößen nicht ausreichend nutzt. Zuletzt hat es deswegen eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission eingeleitet; damit soll die Behörde gezwungen werden, das Instrument endlich nicht nur anzudrohen, sondern anzuwenden.

Nach einem Jahrzehnt der absichtlichen Zerstörung der Kontrollmechanismen und der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat die EU-Kommission gegenüber der Regierung Orbán bis zuletzt auf Verständigung gesetzt. Inzwischen ist Orbán politisch in der EU weitgehend isoliert. Im Interesse der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit müsste die Kommission jetzt Sanktionen gegen Orbán durchsetzen und nicht vor der möglichen Eskalation durch ihn zurückschrecken, auch wenn in der Tat im Ukraine-Krieg ein Umdenken erforderlich wäre.

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