10. Juni 2024 Redaktion Sozialismus.de: Nach den Wahlen zum Europäischen Parlament

Europa bleibt gefährdet

Bei der Europawahl 2024 haben mehr als 350 Millionen Menschen aus 27 Ländern über die künftigen Macht- und Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament entschieden. Die Wahlbeteiligung in der gesamten EU liegt laut vorläufigen Zahlen des Europäischen Parlaments mit etwa 50,8% in etwa in der Größenordnung von 2019. In Deutschland liegt sie mit 65% deutlich darüber.

Die Ergebnisse in Deutschland belegen, dass diese Gesellschaft trotz der häufigen und auch machtvollen Proteste aus der Zivilgesellschaft gegen den Rechtsradikalismus und populistische Tendenzen deutlich nach rechts gerückt ist. Die Unionsparteien von CDU und CSU steigerten ihren Stimmanteil leicht auf 30,0% (2019: 28,9). Die AfD erreicht mit 15,9% ihr bislang bestes Ergebnis bei einer bundesweiten Abstimmung (2019: 11%). In Ostdeutschland ist die Partei mit großem Abstand stärkste Kraft.

Die SPD sackt weiter ab auf 13,9% (15,8%) – ihr schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl überhaupt. Die Grünen verlieren erheblich gegenüber den erzielten 20,5% im Jahr 2019 und landen bei 11,9%. Nur leichte Verluste gibt es bei der FDP, die auf 5,2% (5,4%) kommt. Die Spaltung der Linkspartei erhält von den Wähler*innen eine klare Bewertung: Während der Stimmenanteil der Partei Die Linke mit 2,7% nahezu halbiert wird, erreicht das Bündnis Sahra Wagenknecht bundesweit 6,2%.

Der Niedergang der Grünen verdeutlicht auch: Klimaskeptische, rechte bis rechtsradikale und nationalistische Kräfte haben ihren politischen Einfluss ausgebaut und sind ein Faktor für den Rückgang von deren Wähler*innen. Die AfD ist zudem flächendeckend die stärkste Kraft im Osten Deutschlands geworden, sie zieht zudem junge Wähler*innen an wie keine andere Partei.

Was die europäische Politik anbelangt, strebt die AfD laut Wahlprogramm einen »Abbruch und Neustart« an, in den Worten ihrer Vorsitzenden Alice Weidel ein »Kompetenzrückbau« der EU. »Wir halten die EU für nicht reformierbar und sehen sie als gescheitertes Projekt«, heißt es in der Präambel des Wahlprogramms. Man strebe daher einen »Bund europäischer Nationen« an, eine neu zu gründende europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft, in der die Souveränität der Mitgliedstaaten gewahrt sei.

Mit Blick auf die Flüchtlingspolitik solle eine »Festung Europa« entstehen, wobei die EU die Mitgliedstaaten beim Außengrenzschutz und bei Abschiebungen unterstützen solle. In der Klimapolitik lehnt die AfD Maßnahmen im Kampf gegen die Erderwärmung ab und kritisiert eine »irrationale CO2-Hysterie«. Strom soll auch weiterhin aus Atomkraftwerken kommen und die Partei will das Autofahren und den Flugverkehr fördern. Außenpolitisch wird eine Wiederannäherung an Russland und die Beendigung der Wirtschaftssanktionen gefordert, zu den USA geht die AfD auf Distanz. Deutschland und Europa dürften sich nicht zu »Gefolgsleuten einer Großmacht« reduzieren lassen.

Auf Bundesebene ist die rechtsradikale AfD nach diesem Europawahlergebnis inzwischen zweitstärkste Kraft. Trotz ihres offensichtlichen Kompetenzmangels selbst bei ihrem Kernanliegen Migration, trotz ihrer Nähe zu Russland und Spionageverdacht aus ihren Reihen für China, trotz SS-Verharmlosung und der totalitären Gesinnung ihres EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und seiner rechten Kamerad*innen aus der offen völkischen Ost-Abteilung, so dass selbst vermeintlich weniger radikale Rechtsparteien in Europa sie zuletzt aus ihrer Fraktion ausgeschlossen hatten.


Frankreich vor einem politischen Crash

Das »vermeintlich« muss mit Blick auf das europäische Staatenbündnis relativiert werden, denn die Gefahr für dieses droht aktuell aus der Entwicklung in einem Nachbarstaat. Für die »demokratische Mitte« in Frankreich ist das Ergebnis der Europawahl im eigenen Land katastrophal und vor allem folgenreich. Das rechtsnationale Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen holte laut dem vorläufigen Endergebnis 31,36% – mehr als doppelt so viel wie die liberalkonservativen Kräfte um Macrons Lager. Der Staatspräsident löste umgehend die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli dieses Jahres an: »Ich kann also am Ende dieses Tages nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre.«

Die Liste der Partei von Emmanuel Macron und Verbündeten landete mit 14,6% abgeschlagen auf Platz zwei. Die wiedererstarkten Sozialisten schafften es mit 13,83% auf den dritten Platz. Die Linkspartei La France Insoumise (LFI) erreichte 9,89%. Die noch weiter rechts vom RN stehende Partei Reconquête holte 5,47% der Stimmen. Macrons Mitte-Lager war schon zuvor geschwächt. Seit 2022 hat es in der Nationalversammlung keine absolute Mehrheit mehr. Das Regieren gestaltete sich seitdem mühselig. Der Blick richtet sich zudem auf die Präsidentenwahl in knapp drei Jahren. bei der Macron, der sich zweimal in der Stichwahl gegen Le Pen durchsetzte, nicht erneut kandidieren darf.

Noch ist unklar, wen die Mitte-Kräfte ins Rennen schicken werden und wer eine Chance gegen Marine Le Pen hätte. Die Tochter des rechtsextremen Parteigründers Jean-Marie Le Pen hat es geschafft, deutlich gemäßigter aufzutreten und die Partei bis ins bürgerliche Lager wählbar zu machen. Macron versucht einen riskanten Befreiungsschlag: »Ich vertraue auf die Fähigkeit des französischen Volkes, die richtige Wahl für sich selbst und für künftige Generationen zu treffen.«

Wenn die nationalistisch-völkische Rechte gewinnt, muss er eine »Kohabitation« akzeptieren, bei der der Präsident und in diesem Fall vermutlich die Regierungschefin unterschiedlichen Parteien angehören. Damit wäre der Versuch einer Militarisierung der EU und eine konfrontative Politik im Krieg der Ukraine und Russland wohl beendet.

In den anderen Mitgliedsländern fallen insbesondere Italien und Österreich durch eine klare Rechtsverschiebung des politischen Koordinatenkreuzes auf. In Österreich ist die rechtspopulistische FPÖ stärkste Kraft geworden – zum ersten Mal bei einer landesweiten Abstimmung. Die Rechtspopulisten kommen laut vorläufigem Ergebnis auf 25,5% der Stimmen und liegen damit vor der konservativen ÖVP (24,7%) und der sozialdemokratischen SPÖ (23,3%).

In Italien hat die rechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit ihrer Partei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens) die Europawahl gewonnen. Die größte Regierungspartei kommt auf 28,9%, im Vergleich zur Europawahl 2019 ein Plus von mehr als 20 Punkten. Auf Platz zwei landete ein linkes Bündnis um die sozialdemokratische PD mit 24,5%.

Dieser radikale Rechtstrend in Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien findet sich in den anderen Mitgliedsländern nicht. In den Niederlanden zum Beispiel konnten die linken Kräfte wie das rot-grüne Wahlbündnis aus Sozialdemokraten und Grünen die rechten Kräfte abblocken. PvdA und GroenLinks errangen acht der 31 Mandate – eins weniger als vor fünf Jahren. Auf Rang zwei kommt der radikal-rechte Populist Geert Wilders, dessen europaskeptische Partei für die Freiheit (PVV) auf sechs Mandate zulegte.

Ein radikaler Rechtsruck ist also bei der Europawahl ausgeblieben, Europas Christdemokraten sind künftig ein wenig mächtiger als zuvor. Die konservative EVP und die Sozialdemokraten stellen weiterhin die größten Fraktionen im Europaparlament. Gemeinsam mit den Grünen und den Liberalen dürfte es noch immer für Mehrheiten im Parlament reichen.

Die Parteien am rechten Rand bilden im Verein mit den konservativ-liberalen Parteien gleichwohl einen mächtigen Block in den Parlamenten und sind somit in den kommenden Jahren ein Hindernis in dem angelaufenen Transformationsprozess. Sie sind von einer zukunftsorientierten Strategie weit entfernt.


Vor einer 2. Amtsperiode von der Leyens

Das Wahlergebnis hat Ursula von der Leyen gefeiert, denn sie dürfte auch ohne Partizipation der rechten Parteien vor einer Wiederwahl als EU-Präsidentin stehen. Auch die Transformation der europäischen Gesellschaften hat eine Zukunft. Aber das ist nicht nur eine gute Nachricht für sie, denn die nächsten fünf Jahre in der europapolitischen Arena dürften für alle, die von den immer häufiger anfallenden Klimakatastrophen und einer Beschleunigung der gesellschaftlichen Transformation überzeugt sind, anstrengend ausfallen und eine wachsende Aufmerksamkeit der zivilgesellschaftlichen Akteure erfordern. Denn wenn auch der Rechtsruck moderat ausgefallen ist, wird sich die Art und Weise, wie Europa Klimaschutz gestaltet, verändern und womöglich verlangsamen.

Die EU-Kommission war schon bislang auf einen Green New Deal ausgerichtet. Dieses politische Projekt ist die Antwort der EU auf die Klimakrise. Bis 2050 soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent überhaupt werden. Der Green Deal besteht aus einem ganzen Paket Initiativen zu eng miteinander verflochtenen Politikbereichen: Klima, Umwelt, Energie, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft und nachhaltiges Finanzwesen, die alle für einen grünen Wandel in der EU sorgen sollen. Bei der bisherigen Umsetzung gab es allerdings reichlich Verzögerungen und politische Hindernisse.

Eine 2. Amtszeit der EU-Kommission unter von der Leyen wird daher trotz Ukraine-Krieg auf die Verwirklichung dieses Kernprojektes ausgerichtet sein müssen. Das werden auch die wahrscheinlichen Bündnispartner der EVP im Parlament fordern. Praktisch heißt das: In den kommenden Jahren muss die EU einen riesigen Finanzbedarf stemmen, der alles bisher Dagewesene übertreffen wird. Das Geld wird benötigt für die digitale und klimapolitische Transformation.

Hinzu kommen eine deutliche Steigerung der Verteidigungsausgaben, der Wiederaufbau von Gaza und der Ukraine und Gelder für die milliardenschweren Migrationsabkommen mit Drittstaaten. Die Forderung nach neuen Schuldenfonds – gemeinschaftlich finanziert durch eine Art Eurobonds, die Deutschland bisher immer abgelehnt hatte – dürfte spätestens 2025 in Gewicht gewinnen. Soll der Kern des Green Deals keine bürokratische Operation werden, muss er sich auf einen Konsens zwischen Politik, die den Rahmen schafft, Industrie und Verbrauchern stützen.

Zudem ist die EU nicht krisenfest, falls eine neue Migrationswelle kommen sollte. Das neue EU-Asylpaket wird erst in zwei Jahren umgesetzt und es ist unklar, ob die vereinbarten Maßnahmen von den Mitgliedstaaten auch wirklich durchgesetzt und die geplanten schnellen Abschiebungen illegaler Migranten funktionieren werden.


Wie weiter mit der EU?

Der Ausgang der Europa-Wahlen ist zweifellos ambivalent und unterstreicht eine Äußerung des französischen Präsidenten Macron unlängst an der Pariser Sorbonne: »Unser Europa heute ist sterblich, es kann sterben, und das hängt allein von unseren Entscheidungen ab.« Schon in wenigen Wochen wird in Frankreich durch das Votum der Wähler*innen entschiedenen, ob die Bedrohung durch den Rechtsruck aufgehalten und partiell korrigiert werden kann.

Die Europäische Union ist ein historisches Friedens-, Freiheits- und umfassendes Transformationsprojekt. Hauptgrund für den bisherigen Erfolg ist der starke Wertekanon, auf den sich die europäische Gemeinschaft geeinigt hat, sowie die unterliegende wirtschaftliche Dynamik. Doch steht eben dieser Wertekanon vor der Zerreißprobe und der Umbau der Wirtschaft lässt aktuell zu wünschen übrig.

Die EU hat sich zu lange wie keine andere politische Institution mit ihrem eigenen Zerfall beschäftigt, wobei heute kaum bezweifelt werden dürfte, dass der Austritt Großbritanniens (»Brexit«) deutlich negative Folgen für den Wohlstand der Menschen im Vereinigten Königreich hatte. Umso absurder, dass die AfD letztlich einen »Dexit«, den Austritt Deutschlands aus der EU, anstrebt.

Die nationalistischen, völkischen Parteien sind mit ihren europafeindlichen Ideen bei der Europawahl zumindest mit größerer Macht ausgestattet worden. Sie gefährden Europa als politisches Projekt und damit die EU insgesamt. Die Reaktion auf diese dramatische Entwicklung muss mehr, aber auch ein sozialeres Europa heißen. Beschleunigte Transformation in Richtung Dekarbonisierung, Wachstum und Nachhaltigkeit schließen sich nicht aus. Wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand nicht nur für wenige und eine deutliche Verbesserung der sozialen Sicherheit in allen Mitgliedsstatten sind die beste Orientierung, um demokratiefeindlichen Kräften zu isolieren und zurückzudrängen.

Ein europäischer Green New Deal in diesem Sinne ist das positive Narrativ, das die EU jetzt zur Abwehr der zerstörerischen Kräfte braucht. Relevant und zukunftsfähig ist eine Institution wie die EU, wenn sie dies voranbringt. Eine EU, die sich auf Kleinst- und Randthemen fokussiert und die Verantwortung in die Länder zurückgibt, hat keine Chance zu überleben.

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