26. Februar 2020 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Existenzsicherung durch Tarifverträge und Mindestlohn

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In den vergangenen zehn Jahren erlebte Deutschland einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen.[1] Diese Entwicklung hatte auch positive Effekte für die Einkommensentwicklung. So sind nach einer langen Phase rückläufiger oder stagnierender Reallöhne die vereinbarten Bruttostundenlöhne in den Jahren 2013 bis 2018 den Daten des Sozio-oekonomischen Panels zufolge um mehr als 8% gestiegen.

Darüber hinaus geht seit 2006 die Lohnungleichheit zurück, was sich mit der Einführung des Mindestlohns und dessen Anhebung fortsetzt. Die Spreizung zwischen dem oberen und den unteren Rand der Bruttostundenlohnverteilung liegt im Jahr 2018 wieder auf dem Niveau von Beginn der 2000er Jahre.

Die Ungleichheit der Einkommensverteilung wurde durch diese Entwicklung zwar etwas abgemildert, von einer nachhaltigen Verbesserung der Einkommensposition der Lohnabhängigen kann aber keine Rede sein. Vor allem die Lohnabhängigen in der unteren Hälfte der Einkommenshierarchie müssen sich mit einem Einkommen begnügen, dass noch unterhalb des Niveaus der 1990er Jahre liegt bzw. es gerade wieder erreicht. Es bleibt die politische Aufgabe, Maßnahmen zu ergreifen, um die Ungleichheit in der Primärverteilung nachhaltig zu verändern.


Real vereinbarte Stundenlöhne steigen seit 2013 an

Der durchschnittliche reale vereinbarte Bruttostundenlohn hat sich für abhängig Beschäftigte in Haupttätigkeit über den Beobachtungszeitraum von 1995 bis 2018 schwach entwickelt. Von etwa 17,60 Euro im Jahr 1995 stieg er auf 18,20 Euro im Jahr 2003, ging bis 2013 wieder auf rund 16,90 Euro zurück und stieg bis 2018 wieder an auf 18,30 Euro. Dies entspricht einem Anstieg von 8% gegenüber 2013.

Die Entwicklung der realen vereinbarten Bruttostundenlöhne variiert dabei über die Dezile der Lohnverteilung. Diese erhält man, indem man die abhängig Beschäftigten nach der Höhe des vereinbarten Bruttostundenlohns sortiert und sie dann in zehn gleich große Gruppen (Dezile) aufteilt. Der Durchschnittslohn je Dezil ist auf das Jahr 1995 (= 100) normiert, so dass sich daran die prozentuale Veränderung ablesen lässt.

Seit dem Jahr 1995 haben sich die Stundenlöhne nach Dezilen insbesondere bis 2008 deutlich auseinanderentwickelt. Dazu beigetragen haben vor allem Reallohneinbußen in der unteren Hälfte der Lohnverteilung, die unter anderem daraus resultieren, dass der Arbeitsmarkt im Zuge der Hartz-Reformen flexibilisiert wurde. Seit 2013 entwickeln sich über alle Dezile hinweg die Reallöhne positiv.

Mit der Einführung des allgemeinen Mindestlohns im Jahr 2015 (8,50 Euro pro Stunde) steigen die Stundenlöhne im ersten Dezil von 2014 bis 2016 überdurchschnittlich an. Allerdings führt die erstmalige Anhebung des Mindestlohns im Jahr 2017 auf 8,84 Euro pro Stunde nicht zu einem weiteren Lohnanstieg im ersten Dezil. Von 2017 auf 2018 steigen die Stundenlöhne im untersten Lohndezil dann wieder an.

Insgesamt zeigt sich, dass seit dem Jahr 2013 alle Lohnsegmente von der positiven gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Form steigender Reallöhne profitieren. Allerdings liegen 2018 gerade in den unteren Dezilen die Reallöhne immer noch unter dem Niveau der 1990er Jahre. Lediglich in der oberen Hälfte der Lohnverteilung steigen die realen Löhne von 1995 bis 2018 zwischen 5% (fünftes Dezil) und 11% (achtes Dezil) über den Zeitraum 1995 bis 2018.


Ungleichheit der Stundenlöhne in der unteren Hälfte der Lohnverteilung seit 2006 rückläufig

Die Verteilung der vereinbarten Bruttostundenlöhne kann mittels verschiedener Maßzahlen beschrieben werden. Hier werden drei Perzentilverhältnisse (90:10, 50:10 und 90:50) verwendet. Diese beschreiben das Lohnverhältnis der Person mit dem geringsten Verdienst aus dem jeweils höheren Perzentil und der Person mit dem höchsten Verdienst aus dem jeweils unteren Perzentil. Das 90:10-Perzentilverhältnis gibt damit an, um wieviel mehr der obere Rand der Lohnverteilung im Vergleich zum unteren Rand verdient. Das 50:10-Perzentilverhältnis beschreibt die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung, also zwischen dem untersten Rand und der Mitte (Median), das 90:50-Perzentilverhältnis das des oberen Rands zur Mitte.

Die Ungleichheit des vereinbarten Bruttostundenlohns ist gemessen am 90:10-Perzentilverhältnis seit Mitte der 1990er Jahre von etwa 3,3 auf vier im Jahr 2006 gestiegen. Dies ist, wie der deutliche Anstieg des 50:10-Perzentilverhältnisses belegt, einer steigenden Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung geschuldet. Zwischen 2006 und 2014 stagniert das 90:10-Perzentilverhältnis und ist danach rückläufig.

Damit liegt das Verhältnis 2018 mit 3,55 wieder auf dem Niveau wie zu Beginn der 2000er Jahre. Die Entwicklung des 50:10-Perzentilverhältnisses zeigt, dass die Lohnspreizung in der unteren Hälfte der Verteilung im Jahre 2006 ihren Höhepunkt erreicht hat und seitdem klar rückläufig ist. So geht das Verhältnis von 2,18 im Jahr 2006 um rund 12% auf 1,91 im Jahr 2018 zurück. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang von 2014 auf 2015 – also parallel zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. In der oberen Hälfte der Verteilung (90:50) steigt die Lohnungleichheit auch nach 2006 und sinkt erst 2013.


Anzeichen für ein Schrumpfen des Niedriglohnsektors

Die Einführung des Mindestlohns zum Jahresbeginn 2015 war eine Zäsur am deutschen Arbeitsmarkt, die mit großen Erwartungen verknüpft war und gleichzeitig große Skepsis und Kritik hervorrief. Mit der Einführung sollte tendenziell für alle Beschäftigten eine untere Lohngrenze eingezogen werden. Dies ist, wir gesehen haben, nur zum Teil gelungen. Auch im Jahr 2017 bekamen – bei konservativer Berechnung – rund 1,8 Mio. Lohnabhängige einen Lohn unterhalb der Mindestlohnschwelle.

So hat denn die Einführung des Mindestlohns auch am Umfang des Niedriglohnsektors in der Berliner Republik nur wenig geändert. Und: Die Mindestlöhne reichen selbst in Vollzeit nicht annähernd aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken und eine würdevolle Existenz im Alter zu gewährleisten. Die Konjunktur schwächelt neuerdings, aber die negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt erwarten wir erst in der näheren Zukunft. Trotz Erhöhung des Mindestlohnes auf 9,19 Euro gilt in Deutschland: Auch wer Vollzeit zum Mindestlohn arbeitet, bleibt in der Armut stecken.

Als Niedriglöhne werden Bruttostundenlöhne bezeichnet, die geringer als zwei Drittel des Medianstundenlohns aller Beschäftigten in Deutschland sind. Als Grundlage für die Berechnung[2] haben die DIW-Forscher den vereinbarten Stundenlohn verwendet. Für das Jahr 2017 betrug der Medianstundenlohn aller abhängigen Beschäftigungsverhältnisse rund 16,20 Euro und die Niedriglohnschwelle 10,80 Euro.

Im europäischen Vergleich[3] hat die Bundesrepublik einen der größten Niedriglohnsektoren. Die höchsten Anteile wurden 2014 in Lettland (25,5%), Rumänien (24,4%), Litauen (24,0%) und Polen (23,6%) verzeichnet, gefolgt von Estland (22,8%), Deutschland (22,5%), Irland (21,6%) und dem Vereinigten Königreich (21,3%). Hingegen waren weniger als 10% der Arbeitnehmer*innen in Schweden (2,6%), Belgien (3,8%), Finnland (5,3%), Dänemark (8,6%), Frankreich (8,8%) und Italien (9,4%) Niedriglohnempfänger*innen.

Die Niedriglohnschwelle lag auf Basis der SOEP-Daten im Jahr 2018 für Hauptbeschäftigungen bei nominal rund 11,40 Euro brutto pro Stunde. Mitte der 1990er Jahre liegt der Anteil abhängig Beschäftigter in Haupttätigkeit mit einem Niedriglohn bei rund 17%. Seit 1997 weitet sich dieser Anteil stark aus und erreicht einen Höchstwert von 23,8% im Jahr 2007. Seit 2015 schrumpft der Niedriglohnsektor: So ist der Anteil der abhängig Beschäftigten in Haupttätigkeit von 23,7% im Jahr 2015 auf 21,7% im Jahr 2018 zurückgegangen. Da gleichzeitig die Beschäftigung insgesamt deutlich zugenommen hat, bedeutet selbst der leicht rückgängige Anteil auch, dass im Jahr 2018 7,3 Mio. abhängig Beschäftigte einen Lohn für ihre Haupttätigkeit unterhalb der Niedriglohnschwelle erhielten. Das waren 2,6 Mio. Beschäftigte (43%) mehr als noch 1995.


Hohe Zahl von Anspruchsberichtigten, die nicht den Mindestlohn erhalten

Trotz dieser positiven Entwicklung bleibt die Zahl der Anspruchsberechtigten, die den nicht den gesetzlichen Mindestlohn erhalten sehr hoch. Je nach Lohnkonzept schwankt ihre Zahl bei Lohnabhängigen in Hauptbeschäftigungen im Jahr 2018 zwischen 750.000 bei der Direktabfrage, mehr als 2,4 Mio. beim vereinbarten berechneten Stundenlohn und knapp 3,8 Mio. beim tatsächlichen berechneten Stundenlohn anspruchsberechtigter Beschäftigter. Der Anteil der Anspruchsberechtigten, die unterhalb des Mindestlohns entlohnt werden, variiert damit zwischen 2,1% über 6,8% bis hin zu 10,6% auf Grundlage des tatsächlichen berechneten Stundenlohns. Diese hohe Bandbreite ist der Problematik geschuldet, dass keine der in Deutschland zur Messung von Non-Compliance verwendeten Datensätze originär hierfür konzipiert wurde. Bei Nebentätigkeiten wurden im Jahr 2018 670 000 anspruchsberechtigte Beschäftigte unterhalb des Mindestlohns entlohnt.


Gesetz zur Arbeitszeiterfassung zügig umsetzen

Die Beschäftigungsrekorde der vergangenen Jahre spiegeln sich seit dem Jahr 2013 auch in steigenden vereinbarten realen Bruttostundenlöhnen wider. Seit 2006 geht zudem die Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Lohnverteilung zurück und seit 2015 gibt es auch Anzeichen für einen Rückgang der abhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor, die sich vor allem in den beiden unteren Lohndezilen befinden. Dass sich im untersten Segment der Lohnverteilung die Stundenlöhne seit 2015 deutlich dynamischer entwickelt haben als in den Jahren zuvor, ist vor allem der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 geschuldet.

Dennoch erhalten laut SOEP im Jahr 2018 zumindest nach dem berechneten vereinbarten Bruttostundenlohn rund 2,4 Mio. anspruchsberechtige Beschäftigte in ihrer Haupttätigkeit einen Lohn, der unterhalb der Mindestlohnschwelle von 8,84 Euro liegt.

Da die meisten Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber Monats- und keine Stundenlöhne vereinbart haben, ist es für eine effektive Kontrolle der Einhaltung des Mindestlohns zentral, die Arbeitszeiten präzise zu erfassen. Bemühungen in diese Richtung unternimmt derzeit das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) mit einem Gesetzentwurf, der ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeiterfassung aufgreift. Demnach sind alle Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen. Der Gesetzentwurf sollte nicht nur die genaue Erfassung der bezahlten Arbeitszeit regeln, sondern auch die unbezahlten Überstunden in den Blick nehmen, die nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) ungefähr die Hälfte der Überstunden ausmachen. Würde die Umsetzung eines solchen Gesetzentwurfs dazu beitragen, unbezahlte in bezahlte Überstunden zu überführen, dürfte damit auch die Nichteinhaltung des Mindestlohns zurückgehen.


Lohnarbeit muss angemessen entlohnt werden

Zum Rahmen der kapitalistischen Ökonomie gehört im Grundsatz ein Leistungsversprechen: Unternehmen sollten ihren Beschäftigten Löhne bezahlen, von denen sie angemessen leben können. Das ist aber auch trotz der positiven Lohnentwicklung seit 2013 und der zurückgehenden Lohnungleichheit nicht der Fall. So liegen die Reallöhne 2018 gerade in den unteren Dezilen die Reallöhne immer noch unter dem Niveau der 1990er Jahre. Lediglich in der oberen Hälfte der Lohnverteilung steigen die realen Löhne von 1995 bis 2018 zwischen 5% und 11% (achtes Dezil) über den Zeitraum 1995 bis 2018.

Um zu einer nachhaltigen Verbesserung der Position der Lohnarbeit und der Gewerkschaften, damit zu einer Veränderung in der Primärverteilung der Einkommen zu kommen, ist ein ganzes Set von Maßnahmen erforderlich. Dazu gehört die weitere Eindämmung aller Formen prekarisierter Arbeit sowie ein deutliche Stärkung der Position der Gewerkschaften etwa durch die Ausdehnung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Einen wichtigen Beitrag könnte auch eine deutliche Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns leisten.

So sollte der gesetzliche Mindestlohn zukünftig nicht nur ein Existenzminimum gewährleisten, sondern die angemessene Reproduktion dieser sozialen Existenz gewährleisten. Tatsächlich sind die gesetzlich festgeschriebenen Mindestlöhne heute in vielen kapitalistischen Ländern Armutslöhne. Sie verhindern hemmungsloses Lohndumping, ermöglichen aber noch kein »anständiges« Leben, d.h. eine Beteiligung am gesellschaftlichen Wohlstand.

»Die Forderung nach einer kräftigen Erhöhung ist sozialpolitisch gut nachvollziehbar. In der Begründung des Mindestlohngesetzes findet sich als Ziel die Absicherung eines armutsfesten, existenzsichernden Lohnniveaus, das zumindest einem vollzeitbeschäftigten Single-Haushalt ein Auskommen ohne zusätzliche Aufstockungsleistungen ermöglicht. Aufgrund hoher Lebenshaltungskosten in vielen deutschen Großstädten ist der gegenwärtige Mindestlohn davon deutlich entfernt. Soll das zum Mindestlohn erzielbare Einkommen nach 45 Beitragsjahren eine gesetzliche Rente oberhalb der Grundsicherung ermöglichen, müsste der Mindestlohn sogar spürbar über 12 Euro liegen.«[4]

Gewerkschafter argumentieren, wenn es bei der normalen Systematik bleibe, würden zwölf Euro erst gegen Ende des Jahrzehnts erreicht. Da ein Sprung auf zwölf Euro von jetzt auf gleich viele Firmen überfordern und Arbeitsplätze kosten würde, diskutiert man über einen Stufenplan, mit dem 2024 zwölf Euro erreicht würden.

Auch die Arbeitgeber haben kein Interesse an einem Wahlkampfthema Mindestlohn im kommenden Jahr. Dazu verbreitet sich die Einschätzung eines zu geringen Startniveaus: 2015 hatte die große Koalition den Mindestlohn bei 8,50 Euro eingeführt und war dabei vor einem höheren Niveau aufgrund von Arbeitsplatzsorgen zurückgeschreckt. Viele Ökonom*innen hatten den Verlust von Hunderttausenden Stellen befürchtet. Tatsächlich gab es einen gegenteiligen Effekt: Der Mindestlohn, von dem vor allem in Ostdeutschland Millionen profitieren, stärkte Kaufkraft und Konjunktur.

Ähnlich wie bei der Festlegung einer gesellschaftlichen Grenze für die Bestimmung der Existenzsicherung gibt es auch Ansätze zur Erfassung eines gesellschaftlich ausreichenden Mindestlohns. »Weitere Orientierung bietet die international übliche Definition der Armutsgefährdungsschwelle. Ein Haushalt gilt demnach als armutsgefährdet, wenn sein Einkommen unterhalb von 60% des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) liegt. Dementsprechend müsste der Mindestlohn bei mindestens 60% des Medianlohns angesetzt werden. Genau diese Zielmarke findet sich in der Forderung nach einem europäischen Mindestlohn, die unter anderem vom Europäischen Gewerkschaftsbund sowie den europäischen Sozialdemokraten und Grünen erhoben wird und zur Einleitung eines offiziellen Konsultationsverfahrens mit den Sozialpartnern durch die neue EU-Kommission geführt hat. Der deutsche Mindestlohn lag nach Berechnungen der OECD 2018 unter 46% des Medianlohns und damit nicht nur weit entfernt von 60%, sondern auch im EU-Vergleich abgeschlagen auf den hinteren Rängen. Aktuell würden 60% des Medianlohns übrigens etwa 12 Euro entsprechen.«[5]

Für eine solche stufenweise kräftige Erhöhung des Mindestlohns auf 60% des Medianlohns muss durch das Nadelöhr der Mindestlohnkommission. »Aufgrund der Stimmenparität von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern kann die Arbeitgeberseite höhere Anpassungen jedoch jederzeit wirksam verhindern. Bei normaler Regelanpassung würde es jedoch voraussichtlich bis nach 2030 dauern, bis der Mindestlohn bei 12 Euro läge; eine Annäherung an das Ziel von 60% des Medianlohnes würde unterbleiben. Daher ist die Politik gefragt: Sie muss der Mindestlohnkommission – falls nötig gesetzlich – die stufenweise Anhebung auf das 60%-Niveau vorgeben. Wobei die Abweichungsrechte wie bisher erhalten bleiben könnten, um auf auftretende Probleme reagieren oder auch die Anhebung im Konsens forcieren zu können.«[6]

Die Mindestlohnanhebung müsste durch wirksame Kontrollen und Maßnahmen gegen Missbrauch und Umgehung begleitet werden. Sie kann für sich genommen nicht alle Probleme von Lohnungerechtigkeit lösen, hierfür wäre insbesondere eine stärkere Tarifbindung noch wichtiger. Sie kann aber einen wichtigen Beitrag durch armutsfeste, existenzsichernde Löhne leisten.


Mindestlohn und Tarifvertrag

Lange Zeit hatten Teile der Gewerkschaften – vor allem IG Metall und IG BCE – Vorbehalte gegen einen Mindestlohn. Dahinter steckte die Grundüberlegung, dass existenzsichernde Löhne durch Tarife gesichert werden müssten und könnten. Der SPD-Kanzler Gerhard Schröder forderte 2003 begleitend zum neoliberalen Projekt der Agenda 2010 auch eine Lohnuntergrenze. Die Ablehnung war stark genug, die Einführung einer Untergrenze zu verhindern. In der Folge der Deregulierung vor allem der Arbeitsmarktpolitik und der wachsenden Tendenz der Zurückdrängung der Tarifbindung wurde der Niedriglohnsektor in Deutschland immer größer, sodass sich der DGB 2006 für den Mindestlohn aussprach und 7,50 Euro vorschlug. 2010 wurden es 8,50 Euro, die dann von der großen Koalition 2015 eingeführt wurden. Gekoppelt wurde diese im internationalen Vergleich relativ späte Einführung eines Mindestlohns an eine Kommission: In der Kommission sind Repräsentant*innen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Wirtschaftsforschung vertreten.

Diese Kommission schlägt alle zwei Jahre vor, inwieweit die Lohnuntergrenze angepasst werden soll, das nächste Mal spätestens am 30. Juni 2020. Die Grundlage für die Entscheidung über die künftige Mindestlohnhöhe ist der sogenannte Tariflohnindex, der vom Statistischen Bundesamt berechnet wird. Er erfasst, wie sehr die tariflichen Löhne und Gehälter in den vergangenen beiden Jahren gestiegen sind. Derzeit zeigt er eine Steigerung von 5,7% an. Erhöht man die 9,29 Euro um 5,7%, ergeben sich 9,82 Euro.

Folgt man also der bisherigen Geschäftsgrundlage, würde der Mindestlohn im kommenden Jahr von 9,35 Euro auf 9,82 Euro steigen. Dem Deutschen Gewerkschaftsbund reicht diese Erhöhung nicht. »Wir wollen einen armutsfesten Mindestlohn, der bei 60% des Medianeinkommens der Vollzeitbeschäftigten liegt«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell, der selbst Mitglied der Kommission ist. Er fordert einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde, so wie andere Gewerkschafter und die linken Parteien und die EU-Kommission macht auch Druck. Hinzu kommt die erstmalige Evaluierung des Mindestlohngesetzes durch den Bundesarbeitsminister. Hubertus Heil (SPD) hat sich das Thema für die zweite Jahreshälfte vorgenommen – nach der Empfehlung der Mindestlohnkommission.

Wenn man bei der bisherigen Geschäftsgrundlage bleibt, dann wären die zwölf Euro 2029 erreicht, hat Stefan Körzell ausgerechnet, der für den DGB in der Kommission sitzt. Noch neun Jahre – das ist verteilungspolitisch ein Desaster und politisch ein Skandal. Das Thema würde im Wahljahr 2021 eine gewichtige Rolle spielen. Arbeitsminister Heil sieht die politische Mine: Wissenschaftler seien mit der Evaluierung des Mindestlohngesetzes beauftragt, und im Sommer werde ausgewertet, ob der Mechanismus geändert werden müsse. »Dann können wir auch klären, in welchem Zeitraum zwölf Euro realistisch sind.« Die im Mindestlohngesetz festgelegte Gesamtabwägung spreche für eine höhere Anhebung, sagte DGB-Vorstand Körzell. Doch dafür gebe es in der Mindestlohnkommission keine Mehrheit. Nötig wäre eine Zweidrittelmehrheit. Die Gewerkschaft ver.di hatte bereits eine Änderung der Geschäftsordnung verlangt, laut Pressberichten ist auch die SPD für eine Änderung. Ziel sei, dass das Gremium bei seinen Mindestlohnempfehlungen bereits mit einfacher Mehrheit vom Lohnindex abweichen dürfe.

Für Körzell war schlicht das Einstiegsniveau von 8,50 Euro zu gering. Aber mehr war 2015 angesichts des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses und nach den Debatten und Horrorszenarien, wonach der Mindestlohn hunderttausende Arbeitsplätze kosten würde, nicht drin. Die staatlich fixierte Lohnerhöhung für Millionen hat dann vielmehr zur Stärkung von Kaufkraft und Konjunktur beigetragen. »Auch eine einmalig kräftige Erhöhung dürfte nach den Erfahrungen, die wir seit 2015 haben, nicht zu großen Beschäftigungsverlusten führen«, sagt Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG). »Die gesellschaftliche Debatte über die zwölf Euro ist da.« Und zwar auch deshalb, weil die NGG und Verdi nicht in der Lage sind, in großen Bereichen des Dienstleistungssektors Tarife durchzusetzen.

Auch der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke kämpft dafür, die »Erosion des Tarifsystems zu stoppen«, das sei die wichtigste Aufgabe in den kommenden Jahren. Aber unabhängig von diesem Sisyphos-Projekt der Stärkung des Tarifsystems müsste es eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro durch den Gesetzgeber geben. »Wir brauchen auch dort anständige Löhne, wo Tarifverträge fast verschwunden sind«, macht NGG-Chef Zeitler deutlich, dessen Gewerkschaft derzeit versucht, zwölf Euro bei McDonald’s und anderen Firmen in der Systemgastronomie tariflich durchzusetzen. Die Debatte um eine gesetzliche Untergrenze von zwölf Euro kann da nicht schaden.

Über die Sicherung des Wertes der Arbeitskraft hinaus geht es um verbesserte Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt. Im Vordergrund stehen Regelungen zur Sicherungen Existenz im Falle von Krisen oder Strukturbrüchen in der Entwicklung der Produktivkräfte gesellschaftlicher Arbeit. Außerdem um die Schaffung eines sozialen Arbeitsmarkts, in dem Arbeitsangebote für all jene Mitglieder bereitgestellt werden, die aus vielfältigen gesundheitlichen oder anderen Gründen im üblichen Verkauf ihrer Arbeitskraft Benachteiligungen unterliegen.

Ausgehend von der Konsolidierung der Prozesse der Gestaltung des Werts der Arbeitskraft können dann die Reformen der Alterssicherung[7] angepackt werden. Vorrangig geht es aktuell um eine Verhinderung der weiteren Absenkung des Rentenniveaus, in der Perspektive um eine deutliche Anhebung und um armutsfeste Grundsicherungsleistungen, die den Betroffenen ein sozial-kulturelles Minimum garantieren und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Dazu gehört auch eine deutliche Anhebung des Wohngelds. Schließlich geht es um die Einführung einer Kindergrundsicherung, die den Skandal von Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland beendet.

Anmerkungen

[1] Die folgende Darstellung stützt sich vor allem auf: Alexandra Fedorets/Markus M. Grabka/Carsten Schröder/Johannes Seebauer, Lohnungleichheit in Deutschland sinkt, DIW-Wochenbericht 7/2020.
[2] Markus Grabka/Carsten Schröder, Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen, DIW-Wochenbericht 14/2019.
[3] Vgl. Eurostat (2016): Verdienststrukturerhebung. Jeder sechste Arbeitnehmer in der Europäischen Union ist Niedriglohnempfänger. Pressemitteilung 246/2016 vom 8. Dezember 2016 (online verfügbar).
[4] Achim Truger, Rauf damit!, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.2.2019. Achim Truger ist Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Der von der schwarz-roten Bundesregierung gefundene Kompromiss bei der Einführung einer »Grundrente« führt dazu, dass bis zu 1,5 Mio. Bürger*innen mit ihrer Rente in bescheidenem Niveau über dem Grundsicherungsniveau liegen. Diese politische Korrektur einer Fehlentwicklung in der Primärverteilung, die daher rührt, dass für viele Beschäftigte des Niedriglohnsektors der Wert der Ware Arbeitskraft nicht mehr gesichert ist, kann aber nur ein erster Schritt in Richtung armutsfester Rente sein. Vgl. zur »Grundrente« kritisch Joachim Rock, Was ist die »Grundrente« und, wenn ja, wie viele?, Sozialismus.deAktuell 12.11.2019.

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