13. September 2019 Joachim Bischoff

Expansive Politik der EZB

Mario Dragho. Foto: flickr.com/European Central Bank (CC BY-NC-ND 2.0)

Mario Draghi, der demnächst ausscheidende Präsident der Europäischen Zentralbank, hat, gestützt auf eine Mehrheit des EZB-Rates, eine Expansion in der Zins- und Kreditpolitik durchgesetzt.

Die Notenbank reagiert auf die Eintrübung der europäischen Konjunktur:

  • Die Leitzinsen bleiben bis auf weiteres bei 0%. Sie liegen bereits seit März 2016 auf diesem Tiefstand.
  • Die Strafzinsen (Negativzinsen) für Banken, die Gelder bei der EZB parkieren wollen, werden von -0,4% auf -0,5% verschärft. Um die betroffenen Banken etwas zu entlasten, führt die EZB gleichzeitig einen Staffelzins für bestimmte Freibeträge ein.
  • Das Anleihekaufprogramm wird wieder aufgenommen, um Staaten zu günstigem Geld zu verhelfen, und um die zu tiefe Inflationsrate auf das angestrebte Ziel von 2% anzuheben. Konkret will die EZB ab dem 1. November monatlich Papiere für 20 Mrd. Euro erwerben. Ein Ende der Käufe legte der EZB-Rat nicht fest. Bereits von 2015 bis 2018 hatte die Zentralbank Wertpapiere über 2,6 Bio. Euro erworben, davon rund 2,1 Bio. Euro Staatsanleihen von Mitgliedsländern der Euro-Zone. Damit setzte sie sich dem Vorwurf aus, unter dem Deckmantel der Konjunkturbelebung eine verbotene monetäre Staatsfinanzierung zu betreiben.

Das Ziel dieser Operation: Geschäftsbanken sollen keine weitere Liquidität ansammeln, sondern mehr Kredite an Unternehmen und Privatleute vergeben, um auf diesem Weg die Konjunktur anzukurbeln. Das Problem: Schon seit Jahren liegt der Zinssatz bei minus 0,4% und ist damit bereits negativ. EZB-Präsident Draghi hat die erweiterte Intervention der Notenbankpolitik wiederum damit begründet, dass die politischen Entscheider keine expansive Konjunktur- und Kreditpolitik zustande gebracht hätten. Nicht nur die EZB müsse in der augenblicklichen Lage etwas für die Stimulierung der Wirtschaft tun, sondern auch die Unterstützung der Politik durch zusätzliche Investitionsprogramme sei unverzichtbar, soweit sich die Mitgliedsländer diese leisten könnten.

Überraschend war diese Aktion der EZB nicht. Zum einen hatte die US-Notenbank diese »Zinswende« bereits eröffnet, wenngleich Präsident Trump sich eine größere Absenkung der Zinsen und eine größere Ausweitung der Ankäufe von Anleihen gewünscht hätte. Allerdings sind die Zweifel bei Ökonom*innen immer stärker geworden, ob weitere Zinssenkungen und Anleihekäufe überhaupt noch viel bewirken können – schließlich ist die EZB schon in der Vergangenheit sehr weit gegangen mit der Herabsetzung des Einlagenzinssatzes in den Minusbereich. Im Vorfeld der EZB-Sitzung hatten sich selbst viele Ökonom*innen, die bisher letztlich die expansive Politik der Notenbank unterstützt hatten, skeptisch gegenüber einer noch laxeren Geldpolitik und vor allem der Wiederaufnahme von Anleihekäufen gezeigt.

Ein wesentlicher Grund für die Vorbehalte gegenüber einer Fortsetzung und Ausweitung der Geldpolitik ist, dass es für die weltweit niedrige Inflation auch strukturelle Gründe gibt, nämlich eine Überakkumulation von gesellschaftlichem Geldkapital sowohl bei Unternehmen wie bei privaten Haushalten, über deren Ursachen eine breitere Diskussion existiert (die Digitalisierung vieler Wirtschaftsprozesse, die Alterung der Gesellschaften sowie der stärkerer Wettbewerb durch die Globalisierung, der den Gewerkschaften die Durchsetzung höherer Löhne erschwert).



Mario Draghi hatte im Sommer in einer Rede beim Branchentreffen der Zentralbanker im portugiesischen Sintra angedeutet, dass er eine Ausweitung der expansiven Geld- und Kreditpolitik anvisiere. Die Geldpolitik in der Euro-Zone ist zwar seit Jahren sehr expansiv, doch angesichts einer deutlichen Verlangsamung der Konjunktur in Europa und einer weiterhin nur geringen Inflation sahen sich Draghi und viele seiner Kolleg*innen im Rat offenbar dazu genötigt, das monetäre Umfeld noch expansiver zu gestalten.

Und in der Tat sieht es in Europa konjunkturell eher trüb oder durchwachsen aus. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) erwartet für Deutschland – die größte Volkswirtschaft Europas – im dritten Quartal ein Minus von 0,3% im Vergleich zum Vorquartal. Das Essener RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung prognostiziert für den Zeitraum ein Minus von 0,1%. Schon zwischen April und Juni war die deutsche Wirtschaft um 0,1% zum Vorquartal geschrumpft. Nach zwei Quartalen mit einem schrumpfenden Wirtschaftsprodukt in Folge befände sich Deutschland technisch gesehen in einer Rezession – auch, wenn es in diesem Fall eine sehr milde wäre. In ganz Europa wuchs die Wirtschaft im zweiten Quartal um 0,2% – allerdings gingen Experten von einem Plus von 0,4% aus. Die EZB sieht sich wie die US-Notenbank in der Pflicht, einer weiteren Abschwächung der Ökonomie entgegenzuwirken.

Ein gutes Jahrzehnt nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, sind die kapitalistischen Hauptländer wieder mit einer hartnäckigen oder chronischen Abschwächung der Kapitalakkumulation konfrontiert. Der Aufstieg der rassistischen Rechten, die Fragmentierung der politischen Mitte, die vielfältigen Erosionsprozesse der demokratischen Willensbildung sowie der grassierende Vertrauensverlust in die politischen Institutionen und die zunehmenden geopolitischen Spannungen sind die Symptome des erneuten Versagens der Steuerungskompetenz der freien Märkte, der Ausbildung einer strukturellen Diskrepanz zwischen einem Überschuss an Geldkapital und zu geringen Investitionen.

Der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi behauptet, dass nicht die EZB, sondern letztlich insbesondere der deutsche Leistungsbilanz- und Sparüberschuss die eigentliche Ursache der Niedrigzinsen sei. Die Notenbank müsse darauf reagieren, aber die Auflösung der Krisenkonstellation sei Sache der politischen Entscheider. Niedrige Leitzinsen der Zentralbanken seien nicht der Kern des Problems, sondern nur ein Symptom. Das zugrundeliegende Problem sei der Sparüberschuss, der nicht komplett von Investitionen absorbiert werde. Das drücke die Zinsen. Diesen Trend gebe es seit den 1980er Jahren. In der jüngsten Zeit habe sich das Problem verschärft.

Wenn eine Volkswirtschaft über einen längeren Zeitraum Ersparnisse bildet, die größer sind als die Nettoinvestitionen des Landes, deutet dies auf eine Stagnationstendenz hin. Die Ersparnisse einer Volkswirtschaft stellen das Kapitalangebot dar, während die Investitionen eine Kapitalnachfrage bedeuten. Eine chronische Schwäche der Kapitalakkumulation hat zur Folge, dass das Kapitalangebot größer ist als die Kapitalnachfrage. Dieser Angebotsüberschuss auf dem Kapitalmarkt bewirkt einen Rückgang des Preises für Kapital, also eine Verringerung der Zinssätze. Eine Tendenz zur Stagnation zeichnet sich daher durch Nominalzinssätze nahe null aus. Im Fall der säkularen Stagnation betrifft der Nachfragemangel das gesamte Warenangebot. Dies hat ein sinkendes Preisniveau zur Folge bzw. eine Deflationstendenz.

Seit die Zinsen in den meisten Industrieländern auf bisher nie dagewesene Tiefstände gefallen sind, beschäftigt die Ökonom*innen die Frage nach den Gründen für den damit verbundenen Verlust der Steuerungsfähigkeit des Zinses für Kapitalinvestitionen. Mittlerweile ist die Zunft der Ökonom*innen in zwei Lager gespalten. Das eine Lager sieht den Grund in der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken seit der Finanzkrise von 2007/08, das andere macht dafür säkulare Veränderungen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld verantwortlich.

Unabhängig von der offenen Frage nach den Ursachen für den Verlust an Steuerungskompetenz durch den Zins steht fest: Die kapitalistischen Hauptländer sind gegenwärtig in so etwas wie einem geldpolitischen Schwarzen Loch gefangen: einer Liquiditätsfalle, in der nur minimaler Spielraum für eine expansive Geldpolitik besteht. Mehr noch: Aus der seit Jahren anhaltenden expansiven Geldpolitik folgt, dass die weltweite Liquidität weiter erhöht wird. In den Industriestaaten bleiben die Inflationsraten dennoch niedrig, weil die liquiden Mittel vor allem in die Vermögensmärkte fließen und dort Preisanstiege bewirken. Damit steigt die Gefahr eines Platzens von Spekulationsblasen.

Die übliche Standardantwort auf eine wirtschaftliche Schwächephase ist die Erhöhung der Geldmenge, um über sinkende Zinsen die Investitionstätigkeiten der privaten Unternehmen zu steigern und so das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Diese Form der Geldpolitik versagt jedoch im Fall einer chronischen Überakkumulation: Erstens liegen die Zinsen in Ländern mit Stagnationstendenzen meistens schon nahe null, sodass weitere Zinssenkungen nur geringe Effekte haben. Darüber hinaus vergrößern die Unternehmen wegen der pessimistischen Absatzerwartung selbst bei Zinsen nahe null ihre Produktionskapazitäten nicht, weil sie befürchten, dass die zusätzlich produzierbaren Produkte nicht verkauft werden können. In dieser Situation wollen Unternehmen lieber sparsam sein, um ein Polster zu haben für kommende harte Zeiten. Und es gibt durchaus Experten, die der Meinung sind, dass gerade diese defensivere Politik die richtige Vorlage ist für weitere gesunde Entwicklungen in den Firmen, die am Ende dann wieder einen nachhaltigeren Beitrag zur nationalen Wirtschaftslage leisten.

Angesichts all dieser Faktoren ist schwer einsehbar, warum die EZB dennoch zu einer weiteren Expansion der Geldpolitik übergeht. Zwar hat sich die Wirtschaftsaktivität in den letzten Quartalen tatsächlich abgeschwächt, und umfragegestützte Indikatoren legen nahe, dass die Weltwirtschaft auf eine Konjunkturabschwächung zusteuert. Doch wird eine weitere Lockerung der Geldpolitik für sich genommen kaum zur Ankurbelung der Nachfrage und zur Steigerung der Inflation beitragen.

Zurück